Freitag, 12. September 2014
(zuerst erschienen im Perlentaucher)

David Cronenberg goes Hollywood. Wenngleich nur, was das Setting betrifft: Vier Produktionsfirmen aus vier Ländern - nur eine davon us-amerikanisch und kein großer Fisch im Hollywood-Tümpel - zeichnen für "Maps to the Stars", mit dem sich Cronenberg nach Ausflügen ins frühe 20. Jahrhundert ("Eine dunkle Begierde") und die nahe Post-Kollaps-Zukunft ("Cosmopolis") wieder ganz der Gegenwart zuwendet, verantwortlich. Es mag auch an dieser Branchenferne liegen, dass Cronenbergs Blick auf die Abgründe der sich ohnedies sehenden Auges auf die Implosion zubewegenden Glitz-und-Glam-Welt von Los Angeles noch im strahlenden Sonnenschein düster, bösartig und gallig ausfällt, auch wenn der Cast mit Julianne Moore, Mia Wasikowska und (in einer Nebenrolle) Robert Pattinson eine Nähe zum Herzen der Industrie nahelegt. Das Komödien-Subgenre der beschwingt augenzwinkernden Hollywood-Farce, die es bereits mit mildem durch den Kakao Ziehen auf sich bewenden lässt, ein paar Wahrheiten vielleicht sogar anspricht, aber dabei - hey hey - die Kirche bitte im Dorf lässt, ist "Maps to the Stars" glücklicherweise nicht geworden. Nicht, dass ich zu der Fraktion zählen würde, doch wer dem kanadischen Altmeister des Body-Horror nachsagt, sich zuletzt von alten Tugenden spürbar entfernt zu haben oder gar altersmilde (bösere Zungen behaupten: langweilig) geworden zu sein, wird auch hier kein gewaltiges Comeback der alten blutig-sudeligen Form erleben. Doch schön mulmig und psychisch abgründig ist diese Reise ins Herz der Glamour-Finsternis schon geworden.



Die Körper sind wieder Schauplatz und Leinwand in einem: Hätte Cronenberg in den Siebzigern und Achtzigern den Neurosen- und Traumata-Komplexen auf zwei Beinen noch neue Organe wachsen lassen oder deren bereits bestehenden Organe zur Explosion gebracht, sind es hier Hautunreinheiten und Pickel, sowie nicht zuletzt großzügige Flächen verbrannter Haut und dergleichen Makel mehr, die sich dem Photoshop-Gloss der Hollywood-Körper nicht nur widerständig entgegenstellen, sondern auch insistierend darauf verweisen, dass die Wesen, über die sich diese Häute spannen, mit sich buchstäblich nicht im Reinen sind. Zwischen Psychotherapie und Yoga, aufblühendem und verwehendem Starruhm, kleinen und größeren Gehässigkeiten und nicht zuletzt aus jeder Menge Albdruck aus der Vergangenheit baut David Cronenberg einen großartigen Komplex des menschlichen Unglücks inmitten einer der realen Welt entrückten Industrie, die gerade dieser Welt doch verspricht, ihr die eigenen Träume und Sehnsüchte - mithin: das Glück selbst - zu verkaufen.

Ein kleiner, nicht erschöpfender Überblick über die Dramatis Personae: Die stets großartige Julianne Moore entgrenzt sich atemberaubend in die Rolle von Havana Segrand, einer spleenigen Soon-to-be-Has-Been-Darstellerin, der im Alter von 50 Jahren dramatisch die Rollen ausgehen. Ihre aktuelle Obsession: Ein Remake jenes Films, in dem einst ihre mittlerweile verstorbene Mutter, die sie in ihren Tagträumen noch immer heimsucht, reüssierte, mit ihr selbst in der Rolle der damals deutlich jüngeren Mutter. Dann ein Kinderstar (Evan Bird), der sämtliche Allüren und Großkotzigkeiten des Betriebs bereits vorbildlich verinnerlicht und in einer Kotzszene cronenbergisch-metaphorisch entäußert, der selbst schon unter dem Druck eines zusehends brutalisierten Starsystems im Zeitalter der ständigen Ersetzbarkeit aller Protagonisten zu äußersten Mitteln greift. Und, als Hauptfigur, die rätselhafte Agatha, gespielt von Mia Wasikowska, mit ihren Brandnarben die am eindeutigsten Gezeichnete von allen, die eine Twitter-Bekanntschaft mit Carrie "Prinzessin Leia" Fisher (die sich selbst spielt) nach Hollywood bringt und als zusehends ausgenutzte und seelisch missbrauchte Assistentin bei Segrand landet. Agatha wiederum, als mysteriöse, vermeintlich Außenstehende des Betriebs, entspringt tatsächlich ganz dessen Herzen - und hegt einen eigenen Plan.

Hollywood, eine gigantische Fabrik. Nach vorne produziert sie Träume, Oberflächen, Begehren: Der wirtschaftliche Hauptarm der Filmindustrie, für den sich Cronenberg kein Stück weit interessiert, ihn insbesondere ästethisch - wohl nicht nur aus Budgetgründen - konsequent ausspart. Vielmehr interessiert er sich für das, was am anderen Ende herauskommt: Einen eigenen Film fährt "Maps to the Stars", was Exkremente betrifft. Immer wieder geht es um Fürze und um Scheiße, die der Film, sofern ihre Provenienz aus einem Star-Anus tatsächlich beglaubigt ist, in einer zumindest auf Dialogebene bizarren Szene in den Rang eines veritablen, gut absetzbaren Nebenprodukts des Starsystems hebt. Auf diese Weise erzählt "Maps to the Stars" auch von der Erosion eines Systems, das einst auf der Aura der Distanz basierte und heute - dank Twitter, Facebook, Instagram - dem Fetisch künstlicher Nähe huldigt: Besitze auch Du ein bisschen Exkrement Deines Lieblingstars - noch heute, jetzt!



Ein Geflecht von Personen, Relationen, Verletzungen, Sehnsüchten und enttäuschten Wünschen, die Cronenberg mit kalt sezierendem Blick zu isolieren und doch auf einander zu beziehen versteht: Konsequenter als in "Cosmopolis" erscheinen die Menschen als Vereinzelte, die auffallend selten zu zweit einen Bildkader bewohnen. Man mag darin eine Allegorie auf die Ich- und neoliberale Eigenblutdoping- und Optimierungsgesellschaft sehen, auf das Alleingelassen-Sein in einer Welt, die von der Geborgenheit des Einzelnen im gesellschaftlichen Netz nichts wissen will, ihm aber alles gesellschaftliche Elend ohne weiteres zumutet. Vielleicht liegt in dieser Bildpolitik auch einfach der Horror davor, immer nur auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, keine Brücke zum anderen mehr aufbauen zu können, den Anderen nicht mehr erkennen zu können, vom Anderen nicht mehr erkannt zu werden, Zweisamkeit nicht mehr erfahren zu können.

Konsequent lässt Cronenberg diese Logik der Vereinzelung auf ein Wiedererkennen im gemeinsam geteilten Trauma hinauslaufen. Ein Moment der Zweisamkeit entsteht zuletzt, tödlich, von zugleich verstörender wie beglückender Poesie: In der zwanghaften Wiederaufführung des Moments einer einst ins Seelengewebe geschlagenen Verletzung mag ein Trost liegen. In diesem Film schlägt, wie schon in Cronenbergs düstersten Erkundungen der einsamen Menschen und ihrer Körper, ein dunkles, vor Schmerzen aufschreiendes Herz.


° ° °




Samstag, 6. September 2014
(zuerst erschienen im Freitag)

Die Traumstadt ist eine Altstadt: pittoresk verwinkelt, angenehm unherausgeputzt, touristisch nicht erschlossen, gelegen im letzten Winkel der Welt – im Film irgendwo hinter einer Karl-May-Wüstenlandschaft, in echt im tschechischen Erzgebirge. Preßnitz, die Traumstadt aus Johannes Schaafs gleichnamigem Film von 1973, die im furiosen Ende vor laufender Kamera gesprengt wird, wurde tatsächlich dem Erdboden gleichgemacht und liegt heute am Grunde eines Stausees.



So also sieht die Traumstadt aus, eine Art Dorfkommune, in die ein von Schaffenskrisen gebeutelter Künstler (Per Oscarsson, mit seiner hager-eitlen Körnerfresser-Weltabgewandtheit bestens besetzt) aus dem aufregend urbanen München der 70er Jahre aus seiner hippen Space-Age-Wohnung samt Gattin (Rosemarie Fendel) von einem mysteriösen Fremden mit dem Argument gelockt wird, dass man hier von den Zumutungen der Moderne frei und für alles gesorgt sei, dass man jedem Bedürfnis und jeder Lust nachgehen könne. Regressive Utopie: das Dorf mit bürgerlichem Anstrich – alles sehr 18., 19. Jahrhundert – als freiheitlicher Gegenort zum Urbanismus der Zeit mit seinen klaren Formen und Linien. Michael Endes Metropolen-Ennui lässt grüßen, folgerichtig verfilmt Schaaf später Momo.

In Traumstadt scheitert das Versprechen grenzenloser Freiheit schon daran, dass zum ausgelebten Begehren eben doch mindestens zwei zählen und diese miteinander übereinkommen müssen. Im Film, basierend auf Alfred Kubins einzigem, surrealen Roman Die andere Seite, schlägt die Utopie daher nach einem bürokratischen Zwischenspiel bald um in ein Wahnbild aus Enthemmung und Degeneration, irgendwo zwischen Federico Fellini, Alejandro Jodorowsky und Hieronymus Bosch, besonders augenfällig in einer grotesken Theaterszene, in der unzählige Akteure vor leerem Saal permanent obszön aneinander vorbeispielen.



Kurz nach 1968, in einer Zeit, in der der deutsche Sexfilm eine sieche Industrie über Wasser hält und die RAF längst zu den Waffen gegriffen hat, ist das trotz aller Weltferne als Statement zur Gegenwart zu lesen: Eine tiefe Skepsis gegenüber allen Verlockungen großer Freisprengungsnarrative durchweht den Film, immer mit Blick darauf, dass darin auch die Gefahr der Zerstörung des Gegebenen und Tradierten liegt. Der aktuelle Peter Sloterdijk mit seiner Klage über die schrecklichen Neuzeitkinder hätte seine Freude. In der DVD beiliegenden, eigens gedrehten Interviewfilm äußert Johannes Schaaf denn auch Zweifel, ob der Film im heutigen Kontext überhaupt noch richtig verstanden werden kann.

In der Tat wirkt nun manches etwas morsch, zumal der Künstlertypus Einsiedler in der Post-Christoph-Schlingensief- und Jonathan-Meese-Gegenwart eher ausgestorben scheint. Schöner ist die Stellenlektüre: Unter den Schichten an Weltuntergangsromantik, die am Ende sehr konkret in den Kader schießt, ist hier eben doch eine für den damals noch jungen deutschen Film ungewöhnliche Lust am drastischen, entrückten, bizarren Bild zu beobachten. Es sagt viel aus über die 70er-Jahre-BRD, dass man an die grellen Welten aus Jodorowskys zeitgleich entstandenem Heiligen Berg hierzulande näher kaum herangekommen ist – und auch dann nur mit mahnend erhobenem Zeigefinger. Allein für diese Erkenntnis ist der vorbildlichen Edition, die eine lange nur in Form defizitärer Fernsehaufnahmen kursierende Rarität der westdeutschen Filmgeschichte wieder zugänglich macht, zu danken.

Die hervorragende DVD ist bei Filmjuwelen erschienen.


° ° °




Freitag, 5. September 2014
(zuerst erschienen im Freitag)

Kein Filmstar von wahrem Glanz und Rang, der nicht mit der einen großen ikonischen Szene ins Bildgedächtnis eingegangen wäre. Die Monroe hatte den Fahrtwind aus dem Schacht, der ihren Rock in Turbulenzen brachte; Elizabeth Taylor den pompösen Großauftritt als Cleopatra – Hollywood-Überbarock in seinem besten Ausdruck.

Die Drag-Queen Divine (bürgerlich: Harris Glenn Milstead) wird dagegen für immer in jener Szene mit dem Hundehaufen erinnert werden, den sie in John Waters’ schmutzigstem Film Pink Flamingos (1972) unter sichtlichem Kampf mit dem Würgreflex vor laufender Kamera verschlang. Finaler Höhepunkt eines Proto-Punk-Films, der Divine in einer losen Abfolge bis heute verstörender, fröhlich dargebotener Geschmacklosigkeiten und Regelverletzungen endgültig zum Star machte. Fortan wurde sie gefeiert in den Nischen der queeren Gegenkultur, später zwischen trashigem 80er-Jahre-Dancefloor und Produktionen auch in Hollywood-Nähe. 1988 starb Divine, deren enormes Übergewicht neben ihrer demonstrativ konfrontativen Attitüde stets ein Markenzeichen war, kurz nach der Premiere von Waters’ Film Hairspray auf dem Gipfel ihres Erfolgs an einem Herzinfarkt.

Aufstieg, Triumph und melodramatischer Abgang eines Filmstars gegen alle Widerstände und Wahrscheinlichkeiten – dieses Narrativ übernimmt Jeffrey Schwarz in seiner nun auf DVD veröffentlichten Hommage "I Am Divine". Die Dokumentation montiert die für solche Filme üblichen Interview-Blurbs zahlreicher Weggefährten – darunter natürlich auch der „Pope of Trash“ John Waters – mit zum Teil bislang ungesehenem Archivmaterial. Der Film erzählt auf diese Weise die Geschichte eines zwar verfressenen, im Auftritt aber femininen und sensiblen Jungen, der unter den zahlreichen Gehässigkeiten seiner Mitschüler litt. Zuflucht und Anschluss fand er in der schwulen Underground-Kultur seiner Heimatstadt Baltimore mit ihren Drogen, Drag- und Film-Events („Lasst uns Bergman auf LSD sehen!“), ehe er schließlich den ewig gehegten Traum, Filmstar zu werden, mit seinem Partner in Crime John Waters in Angriff nahm – ohne Rücksicht auf sich selbst, mit billigstem Equipment und einer ziemlichen Naivität in Bezug auf das Business.



Für Milstead entpuppte sich die Kunstfigur Divine zunächst als Segen, weil sie ihm Türen öffnete. Am Ende aber, bei den Versuchen, als seriöser Darsteller in Hollywood Fuß zu fassen, erwies sich das Image mitunter als Fluch. Hier zeigt sich noch die bittere Dialektik selbst liberaler Heteronormativität: Wer einmal im Drag geduldet war, soll darin bitte schön bleiben. Milsteads fast tragisch anzusehende Versuche, sich der Öffentlichkeit des Mainstreams als „echter Mann“ anzubieten, scheitern mangels Interesse.

Vor allem die Vielfalt des versammelten historischen Materials macht aus I Am Divine einen sehenswerten Film – Interesse an Trash und Queer Culture vorausgesetzt. Ob man dem Leben eines Menschen, der mit allen Regeln und Tabus brach, mit einem formal recht gewöhnlichen und sein Sujet auf wenig überraschende Weise narrativisierenden Porträtfilm allerdings wirklich gerecht werden kann, bleibt zumindest fraglich. Mag der Film dadurch auch etwas brav geraten sein, ist die Geschichte vom gehänselten Jungen, der im Fummel nach den Sternen greift, doch anrührend. Dass sich Schwarz’ Film über weite Strecken wie eine klassische Hommage an einen Hollywood-Star anfühlt, hätte Divine wohl am besten gefallen.


° ° °




Donnerstag, 4. September 2014
(zuerst erschienen in Sissy - Magazin für den nicht-heterosexuellen Film)

Ein Dorf in Brandenburg. Öde Wohnhäuser aus grauem Beton mit Vorgarten, keine Gehsteige. Ein Fußballverein, herumlungernde Mofa-Jugendliche, ringsum viel Wald. Tristes Idyll, in dem eine eindeutige Sprache herrscht: „Wir sind hier doch nicht bei der Tuntenparade“, bellt es aus dem ruppigen Fußballtrainer Horvath (Uwe Preuss) heraus. Hier leben? Nein, danke.

Jakob (Michel Diercks) ist sichtlich abseits dieser umzäunten Gemeinschaft. Als junger Polizist steht er zwar symbolisch ein für die phallokratische Macht von Recht und Ordnung. Doch im Detail ist das Bild unstimmig: Schon das Gesicht ist zu sanft gezeichnet, um zumindest das Filmklischee vom deutschen Bullen zu erfüllen. Sein Blick ist melancholisch, seine Antworten zögerlich.

Ein „echter“, ein „ganzer“ Kerl ist er also gerade nicht. Zwar kommt er von hier, doch das hat nichts zu bedeuten: Als Autorität ist er faktisch nicht anerkannt, eher schon wird er skeptisch beäugt, unter spitzen Bemerkungen höchstens geduldet. Das mag damit zusammenhängen, dass dörfliche Gemeinschaften den öffentlichen Strukturen ohnehin meist nur zum Schein folgen, während man triftige Angelegenheiten für gewöhnlich unter sich ausmacht. Vielleicht aber auch damit, dass Jakob offenbar noch nie zu den Alpha-Männchen dieses Dorfrudels gezählt hat: „Jakob hat seine Pistole noch niemals abgefeuert“, wird einmal geunkt.

Stattdessen kümmert er sich fürsorglich um einen nachts in den Wäldern heulenden Wolf, den die Bevölkerung gerne aus der Welt geschafft sähe: Bonding unter Missverstandenen. Nicht zuletzt ein erster Hinweis darauf, dass es in „Der Samurai“ auch um eine verdrängte Form des Begehrens geht, und einen Brückenschlag zur Bilderwelt des Märchens, in dessen tieferen Schichten der Wolf meist ambivalent, mit deutlicher Angstlust besetzt, figuriert.

So wie der Wolf jüngst nach Brandenburg zurückgekehrt ist, so kehrt mit Till Kleinerts an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) entstandener Abschlussarbeit „Der Samurai“ auch der fantastisch-exzessive Film ins hiesige Kino zurück: vorsichtig zwar, ein wenig zögerlich, doch schließlich umso selbstbewusster. Die repressive Atmosphäre entlegener Dörfer zeichnet Kleinert binnen weniger Minuten mit kräftigen, prägnanten Strichen, Martin Hansl­mayrs Kamera fängt die Tristesse gut ein. Das im deutschen Kino so präsente Sozialdrama schneidet „Der Samurai“ zwar kurz an, um sich dann aber rasch für Motivik und Mittel des drastischeren Genre­kinos zu entscheiden. Und das zum Glück sehr selbstverständlich, sehr selbstbewusst, ganz ohne das auftrumpfende, elend nervende Pathos, mit dem andere Werbetrommelrührer in eigener Sache verkrampft den „Neuen Deutschen Genrefilm“ ausrufen.

Spätestens wenn sich die Nacht mit ihren Gefahren und Verlockungen, ihren poetischen Uneindeutigkeiten und Verzauberungen über dieses Nest legt, entrückt sich dieser im Schein der spärlichen Straßenbeleuchtung eigentümlich zu glühen beginnende Film in Richtung Märchen- und Horrorwelt, aus der auch der mysteriöse Samurai entsprungen scheint, der Jakob erst in ein verfallendes Hexenhaus lockt, um ihn dann in ein so brutales wie lüsternes Katz- und Maus-Spiel zu verstricken.



Eine durch und durch queere Gestalt: Hühnenhaft, viril, körperlich agil, mit blutrot geschminktem Mund, gekleidet in ein weißes Kleid – eine verlockende, tödliche Braut aus nichts als nervös überbordender Männlichkeit. Ein Symbol für den Rausch eines entfesselten Begehrens jenseits heteronormativer Strukturen: Phallisch und weiblich, anziehend und bedrohlich zugleich, insbesondere, wenn er seine scharfe Klinge schwingt und Köpfe von Rümpfen schlägt, um das in den Leibern gefangene Begehren wie ekstatisches Feuerwerk im Blutregen freizusetzen: Als ob man Champagnerflaschen köpfen würde, ein ejakulatorisches Spektakel inmitten der dunklen Provinznacht, wo solche Befreiungsschläge dringend not tun, auch wenn fürs Erste nur die aufgeräumten Vorgärten dran glauben müssen. Hinter den geschlossenen Jalousien zittert das Kleinbürgertum bald ängstlich, während allein Jakob sich auf den blutigen Tanz mit dem Samurai einlässt – nur um schließlich sein eigenes, hinter der Fassade des Ordnung wahrenden Polizisten verdrängtes Begehren zu entdecken und freizusetzen. Dass nun ausgerechnet Jakob zu Beginn der Hatz noch ein „Hör mit dem Versteckspiel auf und zeig Dich“ in den Wald, diesen Sehnsuchtsort unbefriedigten Begehrens, hineinruft, ist bewusst gesetzte Ironie, ein verdeckter Aufruf vielleicht auch an alle, die selber in der Provinz sitzen, allein gelassen mit ihrer sexuellen Lust abseits dessen, was heterosexuelle Männer als sanktionsfrei gekennzeichnet haben.

Eine Allegorie auf abweichendes sexuelles Begehren also, oder auch auf die Furcht, die man davor empfinden mag, wenn es sich regt und einen verwirrt. Ohne weiteres hätte man aus dem Stoff einen sehr verständnisvollen, pädagogisch wertvollen, nach allen Richtungen ausgewogenen und – jaja, gewiss – natürlich auch gesellschaftskritischen Fernsehfilm fürs Abendprogramm drehen können, sozialdemokratische Sorgenfalte inklusive. Und hätte mit einem solch braven Vorgehen nach Regelbuch ästhetisch und motivisch jenen betulichen Behaglichkeitswünschen des gesellschaftlichen Konsens zugearbeitet, die es ganz besonders zu unterwandern und zu brüskieren gilt. Zum Glück hat Till Kleinert die relative Freiheit, die ein Abschlussfilm noch bietet, zu nutzen gewusst und – eine kühne, tapfere, eines queeren Kino-Samurais sehr würdige Entscheidung – gerade kein Empfehlungsschreiben in Richtung Fernsehspiel gedreht, sondern einen schön ekstatischen, die Lust am Exzess immer wieder zelebrierenden Genrefilm, der dadurch, dass er sich nicht verzweifelt den US-Vorgaben andient, sondern seinen Stoff hier, in der sozialen Wirklichkeit Brandenburgs, ansiedelt, zu punkten versteht.

Wenn die Köpfe erst mal rollen, wird das saubere, aufgeräumte, theaterdeutsche Kino hier schön mit Kunstblut eingeschmiert, wie man das sonst nur von den bizarren Sudeleien eines Takashi Miike her kennt. Wie sich der Film dabei nach und nach enthemmt, also ganz buchstäblich ein Coming-Out zelebriert, das ist – trotz kleinerer Unebenheiten, die aber leicht verzeihlich sind – schon ziemlich toll. Im Grunde ist das schon gar kein Freiheitsdrang mehr, der hier aus den Bildern spricht, sondern ein selbstbewusst insistierendes Pochen darauf, dass solche Stoffe, solche Bilder, eine solche Ästhetik auch hierzulande möglich sein müssen – bis hin zu einem tapferen, jedes FSK-Gremium in Wallung bringenden Bild, in dem ein halberigierter Schwanz in Großaufnahme von der Leinwand auf sein Publikum herab blickt; Das offensichtlichste Indiz für männliches Begehren – gleich in welche Richtung auch immer – gilt in den bürgerlichen Prüfstuben immer noch als Maßstab, um zwischen sauberem Kino und akuter Jugendgefährdung zu unterscheiden, auch wenn nahezu jeder 16-jährige in seinem Leben einen steifen Schwanz schon in Händen gehalten haben dürfte, und wenn es nur der eigene war.



In all diesen Strategien der Veruneindeutigung nähert sich Kleinert dem allegorischen Potenzial eines queer gelesenen Horrorkinos, wie es etwa Louis Peitzman in einem Essay für Buzzfeed im vergangenen Jahr perspektiviert hat. Ein nicht geringer Teil der Angstlust am pubertären Slasherfilm – oft als Parabel auf einen neuen Puritanismus gelesen – bestehe demnach nicht zuletzt auch in der darin codierten Angst vor dem eigenen zwar queeren, sich gegenüber sich selbst aber noch nicht eingestandenen Begehren: in der spekulativen Lust an der buchstäblichen Über-Mannung durch eine stark phallisch codierte, monströse – also in seinen Komponenten eben nicht vereindeutigte – Präsenz. Wer sich solcher Allegorien bedient, dreht zwar keine pädagogisch wertvollen Plädoyer-Filme für ein schöneres Miteinander – aber er kriegt dadurch ein Partikel der Realität vieler junger Leute zu fassen, die der Betriebsblindheit eines braven Kinos grundsätzlich unzugänglich bleibt.


° ° °




(zuerst erschienen beim Perlentaucher)

Muskeln, Römer, Griechen - mit Filmen wie dem "300"-Sequel, "Pompeii" und dem bei Kritik und Publikum zwar gleichermaßen durchgefallenen, wegen seiner ganz eigenen Qualitäten aber von einigen Cinephilen derzeit versuchsweise rehabilitierten "Legend of Hercules" erlebte der Sandalenfilm zuletzt ein erstaunliches Comeback. Mit dem zweiten "Hercules"-Film der Saison, passend mit Dwayne "The Rock" Johnson in der Titelrolle besetzt, dessen Muskelberge sich mittlerweile zu Kontinenten auswachsen, endet der jüngste Höhenflug des Genres nun allerdings abrupt. Konnte "300: Rise of an Empire" noch als konsequente Durchfetischisierung und "Pompeii" als gegenüber dem Genre und seiner Geschichte respektvolle Reprise für sich bestehen, ist "Hercules" im wesentlichen eine so scham- wie charmlos depperte "Gung Ho"-Variante mit blöden Sprüchen und rustikaler "Aufs Maul"-Attitüde. Hübsch allein: Die zahlreichen Großaufnahmen von Johnsons Gesicht, wenn dieser sich redlich müht, als Held von Format ein gütiges, im Resultat allerdings nur dümmliches Grinsen zu bewerkstelligen - da findet der Film tatsächlich für wenige Sekunden einen Weg ins Herz des Publikums.



Nicht, dass sich der auf einem Comic von Steve Moore basierende Film keine Mühe gibt, das Geprügel ein wenig zu erden. Zum einen stellt er dem Geschehen von Beginn an einen mythenskeptischen Diskurs zur Seite: Besungen wird hier nicht nach alter Väter Sitte der große Held und dessen überirdische Taten, sondern ein Freelance-Söldner, der seine Taten quasi schon aus Gründen des Eigenblutdopings von einem Rhapsoden ausschmücken und überhöhen lässt - und damit die Messlatte so hochlegt, dass der Halbgott nur mit großer Mühe die selbst erweckten Ansprüche erfüllen kann. Zum anderen erzählt "Hercules" eine Geschichte mit sachten Shakespeare-Anflügen, ein Intrigendrama rund um Herrschaftsansprüche und Landbesitznahme, in dem Hercules einer bis dahin wenig durchschlagskräftigen Armee binnen kürzester Zeit zu Glanz und Glorie verhelfen soll.

Beides läuft freilich wenig rund. Will man einen antiken Held tatsächlich im ständigen Widerstreit mit seinem lancierten Image sehen? Und was ist damit gewonnen, die Fabelwesen der antiken Mythologie aufs reichlich Menschliche zurückzuwerfen? Die sich am Horizont drohend abzeichnenden Zentauren entpuppen sich hier bald als schnöde Reiter hoch zu Ross - fahler lässt sich Poesie kaum entzaubern. Und was ist spannend daran, einen aufgeputschten Dwayne Johnson dabei zu erleben, wie er einen Haufen schmaler Hemden mit Sprüchen aus der "Tschaka - Du schaffst"-Motivationsecke durch die griechische Pampa hetzt?

Auch ästhetisch bietet "Hercules" vor allem trocken Brot. Auf gepflegten Kintopp-Irrsinn wartet man nahezu vergeblich. Erst zum Showdown, und da schon viel zu spät, verirrt sich diese ansonsten reichlich durchschnittliche Hausmannskost für ein paar Momente in die Gefilde jenes gigantomanischen Schwachsinns, den man sich von einem "Hercules"-Film versprechen können sollte.


° ° °




Dienstag, 13. Mai 2014
Im folgenden nach langer Zeit in sanfter Überarbeitung dokumentiert: Meine Einführung zu Brian De Palmas "Blow Out", die ich im vergangenen Jahr im Kino Arsenal zu Beginn der Filmreihe "Real Eighties" gehalten habe..

Vielen Dank für die Einladung, hier im Kino Arsenal zu sprechen. Danke auch an meine lieben Freunde der Gruppe “The Canine Condition” - nicht nur für diese Einladung, sondern auch für diese tolle Reihe zum us-amerikanischen Kino der 80er Jahre, aus der in den kommenden Tagen der thematische Schwerpunkt “Neo-Noir” zu sehen sein wird. Ich denke, alleine schon die in ihrer Menge, aber auch in ihrem Zuspruch überwältigende Berichterstattung in allen großen Feuilletons in Österreich, Deutschland und der Schweiz legt offen, dass es ein schwelendes Bedürfnis gibt, die Geschichte vom Niedergang, als der das US-Kino der 80er gemeinhin eingeschätzt wird, einer Revision zu unterziehen, das Material neu zu sichten und auf Spuren und Splitter einer anderen Geschichte des Kinos der 80er Jahre hin zu untersuchen. Und sei es, wie in dieser Reihe, von den Rändern des Mainstreams her, mit Blick ins Zentrum einer Industrie, die sich zum Zeitpunkt, der uns hier und heute Abend ganz besonders interessiert - also ab Ende der 70er und besonders mit Anfang der 80er - in einem dramatischen Transformationsprozess befindet.



Material sichten ist auch ein gutes Stichwort für den Film, den wir gleich im Anschluss sehen werden. Bereits im Titel lehnt sich Brian De Palmas “Blow Out” an Antonionis “Blow Up” an. In beiden Filmen geht es, wenn man so will, um Medienarbeiter, deren jeweiliges Medium - dort die Fotografie, hier die Tonaufnahme - mit Gleichmut auch all das registriert, was sich der selektiven menschlichen Wahrnehmung entzieht. Und in beiden Filmen entwickeln die jungen Männer beim immer neuen Durchgehen des Materials eine rasende Manie, um das Rätsel zu lösen, das ihnen ihre Medienartefakte stellen: Hier nun ist es John Travolta als Tontechniker für räudige Exploitationmovies, der sich die Frage stellen muss, ob sein Aufnahmegerät in seinem unwissenden Beisein Zeuge eines Mordes wurde oder nicht. “Tontechniker”, schreibt Daniel Eschkötter in der aktuellen Ausgabe der Filmzeitschrift Cargo, “Tontechniker und Effektemacher, das sind, im Kino, Eingeweihte, Verstrickte, Skeptiker - Epistemologen des Wahns und der Zerrissenheit des Kinos”. Die “Zerrissenheit des Kinos” - in "Blow Out" nimmt diese ganz konkrete Fomen an: Zwar ist jede Tonaufnahme zunächst einmal Dokument eines akustischen Ereignisses, doch zur Einschätzung ihres Charakters braucht es äußere Parameter - etwa ästhetischer Kontext, eine quasi-notarielle Zeugenschaft, eine gut dokumentierte Provenienz. Oder aber anderer, beglaubigender Medien. In “Blow Out” liefert diese ein undurchsichtiger, ziemlich schmieriger Fotograf, der in mancher Hinsicht eine Art dunkler Zwilling zu Travoltas Figur darstellt - seine im Stil der Serienfotografie erstellten Aufnahmen erinnern einerseits an die Vorgeschichte des Kinos bei Muybridge und nehmen andererseits eine medientechnische Komplementärfunktion ein: Aus einzelnen Bildern wird ein Daumenkino, daraus ein Stummfilm und schließlich, unter Hinzunahme der vorliegenden Tonspur, ein Tonfilm - eine Verschaltung von Medien, die in ihrer Addition mehr ergeben als die Summe der einzelnen Teile: Ton und Bild erläutern und beglaubigen einander wechselseitig. Das gesammelte Material spricht in der Sichtung für einander.



Während kriminalistische oder gar konkret politische Aspekte bei Antonioni vergleichsweise unterbelichtet bleiben, kann an der Existenz einer Leiche in "Blow Out" kein Zweifel bestehen. Dass es sich dabei um den aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten handelt, verleiht der Sache eine Brisanz, die direkt ins Paranoia-Dickicht der großen Verschwörungsthriller der 70er Jahre führt, in denen sich die innere Krise der USA der 70er Jahre und die diffuse Ahnung, dass Filz und Cliquen die “Nation under god” übernommen haben, konkret bildhaft niederschlugen. Von der Idee getrieben, an der Oberfläche zur größten Verschwörung seit der Ermordung Kennedys zu kratzen, benennt Travolta seine im Diffusen agierenden Gegner einfach nur noch “them”, bzw “they”.

Für den historischen Kontext der Produktion mag es dabei nicht unerheblich sein, dass sich zeitgleich zu den Dreharbeiten Ronald Reagan im Endspurt auf dem Weg zum Weißen Haus befand. Dass der Film an den Kassen floppte, mag wiederum auch daran liegen, dass knapp drei Monate vor seiner Kinoauswertung das erfolglose Attentat auf den dann schon im Amt befindlichen Präsidenten Reagan stattgefunden hat. Nach den Krisenjahren der 70er standen die Zeichen der Zeit auf Konsolidierung und Aufbruch - sowohl nach innen, wie nach außen. Für einen Film wie "Blow Out", der gerade auf die Zerrissenheit der USA, die Krise insistierte, nicht die besten Voraussetzungen.

Real Eighties, die wahren 80er. Welches Verhältnis nimmt dieser Film am Beginn dieser Reihe, mehr noch aber, enstanden an der Schwelle zu diesem Jahrzehnt, zu den wahren, den echten 80ern ein?

Eine gewisse, in den Film eingravierte Janusköpfigkeit ist schwer von der Hand zu weisen. Das Dekors, die Kleidung, die starke Präsenz von Brauntönen verweisen auf das zurückliegende Jahrzehnt, die voluminösen Locken der zweiten Hauptrolle Nancy Allen schon sehr auf das kommende. Doch auch abseits solcher Texturaspekte wirkt "Blow Out" in mancher Hinsicht wie ein Abgesang auf eine Ära bei zeitgleicher Überführung in eine neue. Wenigstens passagenweise - man denke etwa an Coppolas auch thematisch verwandten “The Conversation” - wirkt der Film wie die Nachglühphase der Zeit New Hollywoods, die im Herbst zuvor mit Ciminos “Heaven’s Gate” und Scorseses “Raging Bull” gewissermaßen offiziell zu Ende gegangen war. Und doch mündet der Film in einen präzise choreografierten Actionbombast, der die energische Rohheit der Autoverfolgungsjagd aus Friedkins “French Connection” in den Modus des Thrillrides der künftigen Sommerblockbuster überführt und am Ende mit einem funkensprühenden Feuerwerk von einigem Oberflächen-Gloss die ästhetischen Präferenzen des 80er Jahre Kinos geradewegs einzuläuten scheint.



Auch eine andere Geschichte des Kinos, noch mehr aber der urbanen Kultur der 70er Jahre hat "Blow Out" - wenn auch zuweilen etwas argwöhnisch - im Blick. Sehr selbstverständlich liegt das Büro der kleinen Filmgesellschaft, für die Travolta arbeitet, über einem großen Pornokino, an den Wänden im Büro hängen reißerische Plakate zu Filmen, wie man sie in den 70ern in Grindhouse oder hierzulande in den Bahnhofskinos gesehen hat. Allein fünf Billigproduktionen - mit Titeln wie etwa “Bordello of Blood” - hat Travolta in den vergangenen zwei Jahren für die Gesellschaft vertont. “Blow Out” selbst beginnt, in Form völliger Absorption, als Film-im-Film im Gewand der aktuellsten Produktion, eines buchstäblich zusammengeschusterten Slasherfilms im Stil der kaum zählbaren Sequels von “Halloween”, “Friday the 13th” oder “Sleepaway Camp”. Der akustische Höhepunkt - der angsterfüllte Schrei eines Mordopfers, das wie bei Meister Hitchcock unter der Dusche steht - lässt allerdings sehr zu wünschen übrig und setzt damit die Geschichte überhaupt erst in Gang, wenn Travolta sich auf die Suche nach neuem Klangrohstoff begibt.

Was man sieht oder hört, sind die letzten Schnaufer des Bahnhofskinos in der urbanen Öffentlichkeit. Schon wenig später finden Pornografie und die formal gröbsten Exzesse des B-Movies dank des Siegeszugs von Homevideo vorrangig im Privaten ihren Raum. Als clever getarnter Slasherfilm im Gewand eines Verschwörungsthrillers, der "Blow Out" in letzter Konsequenz eigentlich ist, hält De Palmas auch Genre-Rückschau: Der Begriff “Peeping Tom” fällt im Zusammenhang seiner ursprünglichen Bedeutung, die Duschmord-Hommage wurde bereits genannt, spätere Morde gemahnen an die Ästhetik von Giallos, den italienischen Serienkillerfilmen, die ihrerseits auf “Psycho” rekurieren. Der bereits erwähnte schmierige Fotograf wirkt zumal in seiner aquivalent schmierigen Bleibe wie ein fernes Echo des von Joe Spinnell im Jahr zuvor eindrucksvoll und buchstäblich verkörperten “Maniac” aus dem gleichnamigen Slasher-Klassiker. Was alles nicht heißen soll, dass De Palma Anlauf zu einer lustvollen Umarmung nimmt - im Gegenteil, gerade in seiner formalen Virtuosität, seiner meisterlichen Inszenierungskunst unternimmt De Palma in “Blow Out” eine eigentlich paradoxe Doppel-Bewegung eines parasitären Aufgriffs der schmutziger Bilder bei gleichzeitiger Distanzierung zur Wahrung der damals noch wacker gehaltenen Position innerhalb der Filmindustrie: Zwar im Hinblick zu deren Zentrum durchaus bloß in Sichtweite, aber eben doch nicht in der Hölle runtergenudelter Slasherproduktionen, deren Schäbigkeit De Palma, wie sie gleich sehen können, paradoxerweise technisch geradezu brillant in Szene setzt.



Mit der Zerrissenheit des Kinos, die insbesondere der Beginn von Blow Out in einer waghalsigen Diskrepanz von Bild und Ton ausstellt, korrespondiert hier womöglich auch eine Zerrissenheit der USA, zumindest in den 70ern, als das Land innerlich aufzuplatzen - engl. “to blow out” - scheint - insbesondere und gerade auch im Kino. Diese Diskrepanz begründet den alles in Gang setzenden Konflikt, der am Ende, in einer einzigartig zynischen Volte, geschlichtet ist. Es geht in diesem Film am Ende auch um eine Wunde - griechisch Trauma - die zwar geschlossen scheint, unter der der Schmerz aber noch immer revoltiert.

Vielleicht also zum Abschluss eine kleine, mit aller Vorsicht formulierte Hypothese:

Es liegt eine gewisse Ahnung in diesem Film: Die Traumata der 70er scheinen überwunden, die Konkretizität der Gewalt wird tätlich überführt in unverbindlichen Nervenkitzel. Im Hinblick auf das zentrale US-Kino der 80er Jahre, das diese Reihe wie eine Art Leerstelle umkreist, scheint mir das zu diesem frühen Zeitpunkt durchaus hellsichtig und wie eine noch in der Resignation der letzten Bilder unversöhnliche Insistenz darauf, dass hinter den Bildern des offiziellen Reagan- und Traumabewältigungskinos noch immer eine Spur zu der realen Gewalt in der Geschichte führt. Die wahren 80er, das wird diese Reihe womöglich zeigen, fanden vielleicht im Modus der Überwinterung an den Rändern statt.



° ° °




Donnerstag, 6. März 2014
Heute beim Perlentaucher erschienen: Meine Kritik zum 300-Sequel, das ich wider Erwarten sehr genossen habe.

---------------

Zack Snyders "300", die Verfilmung der gleichnamigen Comicvorlage des um so politisch unkorrekte, wie nervige Kernigkeiten nie verlegenen Rechtsaußen Frank Miller, war eine groß angelegte Peinlichkeit des Kinojahres 2007: Markig im Ton, künstlich im Bild, virtuell das Geschlachte, Geschwafel und Gebrülle. Ein bleiernes Filmerlebnis, das sich zudem noch vom Vorwurf, gleichermaßen xeno- wie homophob zu sein, trotz allen mit übergroßen Strichen gepinselten Überzeichnungen und Verschiebungen ins Camp-hafte, nie so wirklich reinzuwaschen vermochte. Schlimmer noch: In der Zuspitzung seines Kriegspathos, seiner eisernen Reden, seiner digital verplompten Welt wirkte der Film so lustfeindlich, gehemmt in seinen Vektoren des Begehrens, dass der Rezeptionsvorschlag des Films selbst, seine ausgebreiteten Transgressionen wenigstens als Tabubruch lustvoll mitzugehen, abperlte. Ein Lust vergrätzendes Ärgernis, eine gülden-bronzene Albernheit.



Ob es nun also am neuen Regisseur liegt, dass "300: Rise of an Empire" seinen Vorgänger zwar nicht verleugnen kann, aber doch ein wuchtiger Blockbuster im besten Sinn geworden ist? Zack Snyder jedenfalls produzierte das nun vorliegende Sequel "300: Rise of an Empire" lediglich als einer von vielen mit, auch Frank Millers Vorlage "Xerxes" ist noch gar nicht abgeschlossen, geschweige denn veröffentlicht (und alles, was darüber zu lesen ist, klingt nicht so, als hätte es viel mit dem Film zu tun). Stattdessen sitzt mit Noam Murro ein ziemlich unbeschriebenes Blatt auf dem Regiestuhl. Lediglich eine Romantic Comedy, "Smart People", hat er vorzuweisen. Oder liegt es nur an der zwischenzeitlich nochmal deutlich avancierteren Technik, dass dem schon jetzt jämmerlich veralteten, texturarmen Vorläufer nun ein Sequel zur Seite steht, das den bei Snyder ins digital-unverbindliche geschobenen Körper wieder in seiner ganzen Kraft, Agilität und vor allem Verletztlichkeit ins Bild setzt?

Vielleicht liegt es auch einfach nur daran, dass "300: Rise of an Empire" mit einer im Blockbusterkino selten geahnten, enthemmten Lust seinen Erregungs- und Affektpotenzialen freien Lauf lässt. Zum Vorteil gereicht es, dass die golden schimmernde Patina aus Teil 1 einer profunden, weihevollen Schwärze weicht, dass der Film über weite Strecken auf einem toll stürmischen Meer spielt und der alberne Monstertand aus Snyders "300" beinahe konsequent ignoriert wird: "300: Rise of an Empire" ist ein Fetischfilm reinsten - oder besser: schwärzesten - Wassers, der eine Lust an allem entwickelt, was körperlich ist und was auf den Körper einwirkt, was ihn fesselt, freisetzt, verstümmelt, zum Bluten und zum Beben bringt; nicht zuletzt den Körper des Zuschauers, der sich - eine entsprechende Soundanlage im Saal vorausgesetzt - inmitten einer stählern dröhnenden Höllenwelt hoch zu Wasser wiederfindet.

War "300" noch der Versuch, eine Geschichte von Soldatenmut zu erzählen, erzählt "300: Rise of an Empire" nur noch nebenbei. Seiner ästhetischen Programmatik ordnet er alles unter: Alles ist Exzess, alles Spielmaterial - Raum, Zeit, Körper, Ding und Wucht, Bewegung. Was in "300" an erotischem Begehren noch albern übergepfropft wirkte, erfährt Konkretion: In jedes Bild schießt ein ekstatischer Überschuss, geradezu gefräßig ist dieser Film, wie er alles einer sehr dunklen Form des Begehrens unterordnet. "Die Ekstase von Stahl und Fleisch" benennt ein Dialog es einmal konkret. Dem folgt eine schön ruppige Sexszene, die zugleich den Nukleus des Films bildet, seinen Mittelpunkt und seine Achse, in der das erotische Spiel nur eine Waffe innerhalb einer militärischen Auseinandersetzung mit schwerstem Gerät darstellt. Und Eva Green, die selten so schön war wie in diesem Film, führt das Regiment in dieser Auseinandersetzung noch dort, wo sie sich dem Schein nach unterwirft. Aus Königen macht sie Götter und Könige bringt sie zu Fall. Den Phallus hält am Ende dieser Sexszene eindeutig sie in der Hand.

"300: Rise of an Empire" ist im Grunde kein Kinofilm, keine Sache der Öffentlichkeit. Eigentlich ist er der Halböffentlichkeit ästhetischer Produktionen zuzurechnen, die konkret und ungefiltert dem körperlichen Begehren entspringen: Eine intimistische Fetisch-Séance in aller Öffentlichkeit, die überwältigen, einen mit ihrer eigenen Logik des Genusses infizieren will. Entsprechend gelten eigene Regeln, die mit denen des Kinos nicht wirklich übereinstimmen. Wie sollte etwa einem Sado-Maso-Porno, in dem erwachsene Beteiligte und Zuschauer die Sache unter sich ausmachen, mit allegemeinen Kategorien und Auflagen moralischen Handelns zu begegnen sein, ohne der Gesamtanordnung im höchsten Maße Gewalt anzutun? Ähnlich verhält es sich mit "300: Rise of an Empire", der durch und durch Fantasie und Wonne am Fetisch ist: Politisch ist dieser Film rundheraus abzulehnen. Aber als überwältigender Fetischfilm macht er verdammt viel Spaß.



Das Uninteressanteste zum Schluss: Gewiss gibt es auch eine Geschichte. "300: Rise of an Empire" wird teils als Prequel, teils als Parallelhandlung des Vorgängers, teils als dessen Fortsetzung erzählt. Quasi: Die nachgelieferte Parallelmontage mit Überhang. Waren es im ersten Teil Computerspiele-Spartaner, die ihr Pixelblut ließen, geht es nun um Protein-Athener, die sich auf hoher See mit der Flotte des Xerxes aus dem fernen Persien herumschlagen müssen. Der Armada voran steht - kalblütig, sardonisch, breitbeinig, ein lüsternes Amalgam aus Eros und Thanatos - Artemisia, die den Griechen und ihren eigenen Männern ordentlich was mit auf den Weg gibt. Gespielt, wie gesagt, von Eva Green, einem dem Cine-Olymp entsprungenen Geschenk der Götter.

____________________
300: Rise of an Empire - USA 2014 - Regie: Noam Murro - Darsteller: Lena Headey, Eva Green, Rodrigo Santoro, Sullivan Stapleton, Jack O'Connell, David Wenham - Laufzeit: 102 Minuten.



° ° °




Thema: festivals
Für drei Tage und drei Nächte im April liegt Italien in Nürnberg. Dann gibt es "Terza Visione", das erste Festival zum italienischen Genrefilm. Auf 35mm, kuratiert von echten Freunden des Italokinos. Eine Empfehlung von Herzen. Details zu Programm und Ablauf hier.



° ° °




Freitag, 7. Februar 2014
Zweiter Tag der Berlinale. Ständige Updates gibt es im Kritikerspiegel von critic.de, wo ich mit einigen Freunden und Kollegen Filme bewerte. Hinweis auch hier und hier auf die Berichterstattung bei der taz. Im Berlinale-Blog vom Perlentaucher gibt es ebenfalls ständig Updates - bei beiden, taz und Perlentaucher, auch von mir. Beim letzterem erschien gestern auch mein Text über die Filme von Noboru Nakamura, die in der traditionell japanischen Meisterregisseuren des klassischen japanischen Studiokinos vorbehaltenen Hommage zu sehen sind. Im folgenden dokumentiert, beim Perlentaucher schöner mit Bildern.

-----------

800 Yen zahlt man für einen kostbaren Kunstband im Japan des Jahres 1951. Mit 3000 Yen schlagen 1964 die Dienste einer Prostituierten zu Buche. In seiner traditionellen Hommage an japanische Meisterregisseure des Shochiku-Studios zeigt das Forum in diesem Jahr drei Filme von Noboru Nakamura - von 1951, 1957, 1964. Es sind bei weitem nicht alle Filme des Regisseurs - wie man erfährt: ein Schüler des 2010 gewürdigten Yasujiro Shimazu - in diesem Zeitraum, aber sie wirken wie drei Schlaglichter auf das Japan dieser Zeit: Man erfährt viel über den Wandel und - im guten, wie im schlechten - die Modernisierung Japans. Und über die Sorgen und Nöte seiner Bevölkerung.

Die Sorge um das Geld, die Arbeitswelt, die Zirkulation der Waren spielen in allen drei Filmen eine zentrale Rolle. Dem japanischen Genre des "Shomingeki", des "Alltagsfilms", sind dabei im engeren Sinne nur die ersten beiden, noch im Academy-Format gedrehten Schwarzweiß-Filme - "Home, Sweet Home" (1951) und "When It Rains, it Pours" (1957) - zuzurechnen, während der dritte Film, "The Shape of Night" (1964), als - atemberaubend schöner - Farbfilm in CinemaScope bereits Anflüge von Exploitation und Kolportage zeigt (was im japanischen Film noch keineswegs Richtung Schundfilm weist, ganz im Gegenteil). Mit seiner Geschichte um Yakuza und Zwangsprostitution siedelt er auch gestalterisch in nicht allzu großer Ferne zu den Filmen von Kenji Fukasaku.

Von "Home, Sweet Home" kann in "The Shape of Night" keine Rede mehr sein - knapp 13 Jahre sollen zwischen beiden Filmen liegen? Es sind Welten! Die Beschwörung der Häuslichkeit, die Wahrung der Familie und ihrer Rituale, vor allem auch innerhalb des gesellschaftlichen - und also: stark hierarchisch gegliederten - Gefüges, mögen 1951, wenige Jahre nach dem desaströs verlorenen Krieg, auch einer rein ökonomischen Not geschuldet sein. Den Schauplatz dieser kleinen, mit souveränem Geschick erzählten Geschichte kennt man aus vielen anderen japanischen Filmen dieser Themenlage: Eine überschaubare Nachbarschaft, schlichte Häuser aus Holz, unweit fährt ein Zug. Fokussiert wird eine Familie, für die das Geld eben so - und oft eben so auch nicht - ausreicht. Am Sake für den Mann (Ryū Chishū - man kennt ihn als das Gesicht des einfachen Mannes bei Ozu), erfahren wir in einer Szene, soll indessen nicht gespart werden - Verfügung der Frau (Isuzu Yamada, die später bei Akira Kurosawa einen zweiten Karriere-Frühling erleben würde), nicht des Mannes! Eine Berufsprämie sorgt für kurzzeitigen Freudentaumel: Für die Kinder werden wertvolle Geschenke gekauft, Mann und Frau gönnen sich einen Abend in der Stadt. Doch auf dem Rückweg wird der verbliebene Rest der Prämie gestohlen. Um die Familie zu unterstützen, gibt die älteste Tochter ihren Traum auf, als Künstlerin zu reüssieren, der grantelnde Vermieter des Hauses - er wohnt nebenan in einem Haus, in dessen Garten die zerstörte Mauer, ein Hinweis auf den wenige Jahre zurückliegenden Krieg, der Tochter und ihrer Staffelei besten Einblick bietet - droht mit Rauswurf. Doch das letzte Wort in all diesen Dingen ist noch nicht gesprochen.

Spannender als die Geschichte mit ihrem künstlich und dadurch fast schon entlarvend parodistisch wirkendem Happy-End ist allerdings die Erzählwelt als solche. Immer wieder - auch in den beiden späteren Filmen - lässt Noboru Nakamura die Kamera auf den Dingen verweilen, geht in die Großaufnahme - ansonsten herrschen, wie üblich für Studioproduktionen, halbtotale und halbnahe Einstellungen vor - und zeigt dabei die Kärglichkeit der Dingwelt im Japan des Jahres 1951: Man hat wenig und das Wenige nutzt man mit Bedacht.

Betrachtet man die drei Nakamura-Filme als Triptychon erzählen die Filme schon alleine anhand ihrer Ausstattung sehr viel über ihre Zeit. Zu beobachten ist geradezu eine Explosion der Warenwelt: Schon sechs Jahre später, in dem 1957 entstandenen "When it Rains, it Pours", sehen wir vollausgestattete Wohnungen, "The Shape of Night" zeigt 1964 schließlich eine Welt, in der die Existenz schon lange nicht mehr vom Nötigsten in seiner basalen Form abhängt: Wenn hier die 19jährige Yoshie (die zu diesem Zeitpunkt bereits für Nagisa Oshima und Akira Kurosawa drehte) sich zunächst in einer Fabrik, später dann - von einem Yakuza niederen Rangs mit viel passiv-aggressivem Sweettalk, schließlich mit machistischer Vorwurfsrhetorik dazu gezwungen - als Prostituierte verdingt, befinden wir uns bereits in einer Welt, in der bunte Neonröhren als Insignien des zum Greifen nahen Luxus die Auslagen der Schaufenster bestimmen und die urbane Welt an allen Winkeln glitzert, blinkt, nach Business ruft. Zeigt "Home Sweet Home" - gedacht wohl auch durchaus als "pädagogischer" Film - noch eine Welt, in der Identität und Arbeit als eins gedacht werden, leistet sich Yoshie bereits den Luxus, Erwerbsarbeit als Ärgernis zu empfinden.

Das Thema der Prostitution findet sich in allen drei Filmen und wenn man so will: in Form einer Annäherung. In "Home Sweet Home" wenn die Tochter ihre Zeichnungen - Trägerinnen übrigens einer recht kunstlosen Kunst, wie auch der angesehene Künstler, der sie am Ende bei sich aufnehmen wird, keiner ist, dessen Werke sich durch ästhetische Avanciertheit, sondern eher durch einen demütigen Impressionismus auszeichnen, was man auch, natürlich nur im guten, als Metapher für die Filme von Noboru Nakamura verstehen kann - wenn also in "Home Sweet Home" die Tochter ihre Zeichnungen auf den Straßen ausstellt, drängt sich ihr ein betrunkener Kerl mit eindeutigen Geldangeboten auf, die sie aufs Energischste von sich weist. In "When it Rains, it Pours", dessen finsterer Titel - wenn es schon regnet, dann schüttet es auch - in diesem zu Herzen gehenden Melodram nicht nur eine bildlich konkrete, sondern auch eine sinnlich allegorische Entsprechung findet, ist die Geschichte von vornherein in einem Bordell oder zumindest einem Stundenhotel angesiedelt, das eine im Grunde rechtschaffene Familie betreibt. Deren Tochter wiederum verleugnet diesen Background gegenüber ihrem Freund, was schließlich auffliegt. Auf Druck seiner Eltern wird die Liaison gelöst, das Mädchen landet in den Nachtbars Tokios, wo die beiden einander zwei Jahre später wiederbegegnen.

Selbst noch in "When it Rains, it Pours" blinken die sündigen Verheißungen und Abgründe des Amüsementbetriebs noch verschüchtert durchs Fenster rein, in Form einer einzigen Leuchtreklame, die das Geschehen im Zimmer gelegentlich in ein magisch pulsierendes Licht taucht. In "The Shape of Night" hat die Leuchtreklame schließlich die Welt erobert, ja sie strukturiert und rhythmisiert diesen Film sogar - in abstrakten, farbsatten Inserts. Insignien einer Welt, die in "Home Sweet Home" - und hier verweist der Titel noch auf so etwas wie ein Schutzrefugium - höchstens durch die Bilder schimmert, sich in "When it Rains..." konkretisiert und in "The Shape of Night" schließlich völlig aufbricht. Aus dieser Welt, die den Körper zur geldwerten Ware erklärt, über die andere verfügen, gibt es schließlich kein Entkommen.

Im Verbund erzählen die drei Filme schließlich auch von der Auflösung der Familie. Ob bewusst oder unbewusst: Noboru Nakamura findet dafür in "The Shape of Night" ein großartiges Bild: Das 4:3-Format der ersten beiden Filme betont noch deren Häuslichkeit, zeigt noch eine gleichmäßig im Schärfebereich gehaltene, wenn man denn so will: in sich intakte Welt, in der die Identitäten zwar noch klar verteilt sind, sich aber bereits Richtung individueller Lebensgestaltung zu öffnen beginnen. Wenn "The Shape of Night" - wenn ich mich richtig erinnere: tatsächlich nur einmal - die Umgebung einer Familie in ihrer Wohnung aufsucht, dann zergliedert das Bild in Scope, subjektivierender Einstellung und vor allem qua knappstem Schärfebereich schon räumlich jeden Zusammenhalt: Der Vater der Familie arbeitet im scharfen Vordergrund stumpfsinnig vor sich hin, Frau samt Tochter sind nur Schemen im Hintergrund - einander zu sagen hat man, ja kann man hier schon nicht mehr viel. Schutz vor den Zumutungen einer industriellen Welt, die auch dem Körper - ob in der Fabrik oder auf der Straße - einen eindeutigen Wert zuteilt, bietet dieser zerschnittene Raum schon lange nicht mehr.

Wobei man sagen muss, dass Nakamura sicher kein Traditionalist ist. Wenn seine Filme eine solche Entwicklung protokollieren, dann ist das nicht unbedingt als Wehleidklage zu verstehen. Eher beobachten sie und machen - insbesondere in "Home Sweet Home" - kenntlich, dass ein verteidigenswerter Wert darin liegt, sich einer gemeinen Welt nicht vorbehaltlos unterzuordnen. Nakamura ist ein Chronist der Würde des Menschen - ob sie nun gedeiht oder mit Füßen getreten wird.

-------

Also gut, weil es so schön ist: Doch ein Bild. Aus The Shape of Night:



° ° °




Donnerstag, 6. Februar 2014
Heute beginnt die Berlinale. In der heutigen taz gibt es erste Texte von Cristina Nord, Lukas Foerster und mir - hier im Überblick. Ich bespreche, im folgenden dokumentiert, den Panorama-Eröffnungsfilm Nuoc von Nguyen-Vo Nghiem-Minh, hier die Festivalermine.

----



Am Horizont, im Dunst nur schemenhaft erkennbar, liegt die Stadt, eine Megalopolis, wie man sie gut aus teuren US-Blockbustern kennt. Ein sanfter Indikator dafür, dass man es hier mit Science-Fiction zu tun hat, einem Genre, dessen visuelles Alphabet im Übrigen nahezu unausgesprochen bleibt: "Nuoc" ("Wasser") von Nguyen-Vo Nghiem-Minh spielt zum Großteil auf dem Meer vor der Küste, auf Hausbooten und Stelzenhäusern in einem ärmlichen Holz-Ambiente, das sich mit dem Technologiefetisch und dem optischen Bombast, für den das Genre weithin steht, schwerlich in Einklang bringen lässt.

"Nuoc" ist ein Film der zurückhaltenden visuellen Codes, der brüchigen Erzählweise. Die Welt, die er zeigt, löst sich auf: Längere Strecken müssen per Boot zurück gelegt werden, die Megalopolis am Horizont wird kaum einmal Schauplatz.

Die Prämisse: Im Jahr 2030 ist der Meeresspiegel bedrohlich gestiegen. Weite Teile Vietnams sind überflutet. Die ländlichen Besitzansprüche der Bauern sind obsolet. Notgedrungen zu Fischern geworden, sitzen sie einander auf, um der durchschwimmenden Beute habhaft zu werden. Unter diesen Umständen versuchen die junge Frau Sao und ihr Mann Thi oberhalb ihres Landes unter entbehrungsreichen Bedingungen ihre Existenz zu sichern. Als Sao Thi ermordet auffindet, heuert sie bei der Firma an, die am Rande des Meeres unter dubiosen Bedingungen Gen-Gemüse produziert.

In jedem Fall spannend zu beobachten, wie sich ein Land, das von der Klimaerwärmung mit am schlimmsten betroffen sein wird, der manifesten Bedrohung filmisch nähert: Mit leisen, zurückhaltenden Tönen - in einigen Momenten sogar retro-nostalgisch im Bezug auf die heutige Zeit, wenn etwa einmal Bücher in ihrer Haptik gegenüber der Flüchtigkeit digitaler Formate in Stellung gebracht werden. Nghiem-Minh erzählt seine Geschichte im Rückschaumodus, fragil und komplex zugleich, seine Welt konturiert er in wenigen, vielleicht etwas zu abstrakten Strichen. Etwas schade bleibt, dass der Film in seinen letzten Bildern eine sentimentale Ergebenheit gegenüber der Katastrophe entwickelt, die sich in die Poesie des buchstäblichen Untergangs flüchtet.



° ° °




Montag, 3. Februar 2014
Inspiriert von Lukas.

++
die Filme von Noboru Nakamura (Forum-Hommage)

+
Der Samurai (Perspektive)
Parasite (Forum)

+/-
Risse im Beton (Panorama)
Concerning Violence (Panorama Doks)
Kumiko - The Treasure Hunter (Forum)
Nước - 2030 (Panorama)
The Midnight After (Panorama)

-
DMD KIU LIDT (Forum)
Another World (Panorama Doks)
The Darkside (Forum)

---
Tape_13 (Perspektive)


° ° °




Montag, 27. Januar 2014
Thema: Hoerspiele
Heute Abend um 23:05 läuft auf WDR3 "Das Märchen vom unglaublichen Super-Kim aus Pyöngyang", das neue Hörspiel von Jörg Buttgereit (im Anschluss auch als Download). In der taz steht heute meine Besprechung. Nachtrag: Hier jetzt als MP3 vom WDR.

---

Eine Lesart der japanischen Riesenmonsterfilme, der "Kaiju Eiga", besagt, dass es sich bei Godzilla und Co. um Allegorien der Nuklearschläge gegen Japan handelt, um die Konkretion einer nicht eindämmbaren Macht, die das Land in Schutt und Asche zu legen droht. Das Militär schaut dem meist hilflos zu, oft sind es blanke Zufälle, die Schlimmstes verhindern.

Für Propagandazwecke, zur agitatorischen Einschwörung auf neue, große Taten, bietet sich diese recht offene Artikulation eines Traumas und einer verheerenden historischen Niederlage weder ersten, noch zweiten Blickes an. Und doch ließ es sich der 2011 verstorbene, nordkoreanische Diktator Kim Jong Il - im Nebenberuf, stets hervorgehobenes Kuriosum, passionierter Filmliebhaber und Autor filmtheoretischer Werke, wenngleich mindersten Rangs - nicht nehmen, in den Achtzigern eine nordkoreanische Kaiju-Variante anfertigen zu lassen: "Pulgasari", ein insbesondere im Pre-YouTube-Zeitalter unter Trash-Fans alleine schon wegen seines historischen Status legendärer Film, dessen Hintergrundgeschichte ihn nur noch kurioser macht: Regisseur Shin Sang-ok wurde 1978 von Kim Jong Il nach Nordkorea entführt, um dort die Filmindustrie aufs Niveau zu bringen. Erst 1986 gelang ihm beim Filmfestival in Wien die Flucht in die US-amerikanische Botschaft.



Eine Geschichte, wie gemacht für den Undergroundfilm-Regisseur und Godzilla-Experten Jörg Buttgereit, der sich bereits in vielen Dokumentarfilmen, Büchern und Radiohörspielen mit den japanischen Riesenmonster befasste, zuletzt in der WDR-Produktion "Die Bestie von Fukushima" (WDR-Download), einer Aktualisierung des Kaiju-Mythos unter den Eindrücken des Reaktorunglücks von 2011. [Nachtrag: Oder zuvor in "Green Frankenstein", hier noch immer im WDR-Download]

Der Titel seines neuen Doku-Fiction-Hörspiels "Das Märchen vom unglaublichen Super-Kim aus Pjöngjang" ist ernst zu nehmen: "Es war einmal" sind die ersten Worte, es folgt die Geschichte eines infantilen Narziss', dem sein kommunistisches Königreich zugleich Paradies und Sandkasten ist, der seiner Bevölkerung die von ihm geliebten "James Bond"- und "Rambo"-Filme niemals zeigen würde und der sich für den Kampf gegen den Imperialismus nichts mehr herbeisehnt als eine stählerne Filmindustrie, die den Feind in Grund und Boden stampft. Angesichts von Plastikpuppen-Trash wie "Pulgasari" klafft die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit ganz besonders weit auf.

Die Form des Märchens ist klug gewählt: Ganz buchstäblich gibt es da eine Erzählerin und zwei naseweise, wikipedia-affine Kinder, alle drei von der bewundernswert wandlungsfähigen Cathlen Gawlich gesprochen. Über Wesen und Zweck des Propagandafilms in einem Märchen zu reflektieren und den ernsten Untertönen in einem kindlichen Bettkanten-Setting nachzuspüren, ist erstaunlich effektiv. Nicht zuletzt infantilisieren auch Propagandafilme als böse Märchen ihr Publikum. Buttgereits Hörspiel versteht sich da auch selbst gewissermaßen als ein Stück Meta-Propaganda.

Die Geschichte vom König, der sich die Welt mittels des Kinos Untertan machen will, erzählt Buttgereit als eine Art Umkehrung des Godzilla-Stoffs: Steht das Monster darin noch für die Abstraktionsleistung des Kinos, das den realen Nuklearschlag im ästhetischen Reich aufhebt, steht am Ende von "Super-Kim" der sehr konkrete Griff nach der Atombombe. Wenn am Ende ein Weltenbrand tost, dem ganz neue Monster entspringen könnten, merkt man, wie akut das Hörspiel unter den Eindrücken der fast schon wieder vergessenen Nordkorea-Krise vor etwa einem Jahr entstand. War auch diese nur Propaganda? Und wer erzählte hier wem etwas? Godzilla jedenfalls ist realer als man denkt.



° ° °




Freitag, 24. Januar 2014
Thema: videodrome
Ein neues Album von Bohren & der Club of Gore. Hier im Vorabstream. Und ein neues Video (Vollbild & HD ratsam):



° ° °




Wegen akuten Zeitmangels ist der letzte Hofbauer-Kongress hier noch nicht so weit aufgearbeitet wie ich mir das wünschen würde. Doch immerhin habe ich mich mit Lukas Foerster, ebenfalls begeisterter Kongressbesucher, darüber unterhalten, was ein Hofbauerkongress ist und zu welchem Ende man diese Veranstaltung besucht.

Das Gespräch ist diese Woche im Freitag dokumentiert. Und ein Hinweis: Den beim Kongress gezeigten Cover Girls von José Bénazéraf (hier Lukas' euphorischer Text) zeigen wir in der "Nachtschicht" am 01. Februar im Kino Babylon/Berlin-Mitte - auf 35mm und in Cinemascope. Wer das verpasst, ist des Hofbauers nicht wert.



° ° °




Donnerstag, 16. Januar 2014
Dieser Solomon Northup (Chiwetel Ejiofor) ist ein geachteter Gentleman in den feineren Kreisen im New York des Jahres 1841. Seine Künste als Geigenspieler sind geschätzt, man grüßt ihn auf den Straßen und in den Läden mit zuvorkommendsten Floskeln und hält gerne Konversation mit ihm. Es ist der Traum des gelingenden Lebens, dessen Verwirklichung Solomon Northup und der enge Kreis seiner Liebsten beträchtlich nahe kommen.

Bis er auf die Herren trifft, die Gentlemen zu sein nur vorgeben, ihn dann unter Drogen setzen, demütigen, auspeitschen und in den Süden nach New Orleans verkaufen. Denn Solomon Northups Hautfarbe ist dunkler als ihre. Das Scheusal, das ihn als erstes in einer ganzen Reihe von Scheusalen mit der Peitsche malträtiert, prügelt es ihm gehörig ein: "Ich bin ein Sklave", soll Northup sagen. Zum Sklaven ist man nicht geboren, zum Sklaven wird man gemacht. [weiterlesen beim perlentaucher]



° ° °




Mittwoch, 15. Januar 2014
Aufstieg und Fall eines Mannes, der seinen Ambitionen manisch nachgeht und sich und seine Welt dabei in den Abgrund reißt: Ein wiederkehrendes Thema in den Filmen des amerikanischen Meisterregisseurs Martin Scorsese, etwa in seinen epischen Mafiafilmen "Goodfellas" (1990) und "Casino" (1995). Wenn er dieses Sujet nun neuerlich aufgreift und mit der wahren Geschichte des schillernden Aktienhändlers Jordan Belfort (Leonardo DiCaprio) verknüpft, der sich in der New Yorker Finanzbranche in den 1980er- und 1990er-Jahren ein Vermögen – unter anderem mit dem Verkauf von wertlosen "Penny Stocks" – ergaunerte, lässt sich dies vor dem heutigen Stand der Dinge auch als Statement lesen: Jenen Berufsstand, dessen unverantwortlich habgieriges Handeln 2008 die globale Finanzkrise verursachte und zahllose Menschen weltweit in die Armut stürzte, verortet Scorsese damit von vornherein in der Nähe des organisierten Verbrechens. [weiterlesen bei fluter]



° ° °




Samstag, 11. Januar 2014
Angekündigt als "trister Überraschungsfilm" entpuppt sich Alexander Maxwells Mysterien der Pornographie als hypnotisch-relaxte Voyeurmeditation in grobkörnigem Schwarzweiß: Ein "Wissenschaftler" namens Albert Jenkins, der aussieht wie eine Mischung aus Martin Scorsese im Vollbartmodus und Charles Manson, führt sein neugieriges Publikum in die Schattenwelt der "Untergrundzeitungen" ein, in denen so verheißungsvolle wie anspielungsreiche Kleinanzeigen laszive Sensationen und geheimnisvollen Nervenkitzel versprechen - und all diese erotischen Abenteuer liegen zum Greifen nahe, sofern man über die dafür nötigen Finanzmittel verfügt, wie Jenkins immer wieder mit wissendem Grinsen Richtung Kamera versichert. Verspricht der deutsche, raunende Verleihtitel noch ein romantisch verbrämtes Zauberland, spricht der amerikanische Originaltitel auf hemdsärmelig geschäftige Weise Tacheles: It's All For Sale - als befände man sich im Paradies für Gebrauchtwageninteressenten.

Von pädagogischen Projekten wie den etwa im selben Zeitraum entstandenen Kolle-Filmen, die auf zwar anrührend naive, aber doch aufrichtige Weise von der Sorge um ein emanzipiertes Sexleben ihres Publikums getragen sind, ist Mysterien der Pornographie beträchtlich entfernt: Der Film bedient auf allen Ebenen die Haltung eines Voyeurs. Primärer historischer Adressat dürfte wohl wirklich eher der in seinem erotischen Begehren tendenziell sanft verklemmte Mitbürger gewesen sein, der zwar niemals auf eine dieser Kleinanzeigen reagieren würde, aber eigentlich schon mal gerne einen sicheren Blick in die Welt der sexuellen Libertinage werfen möchte. In Albert Jenkins hat er für dieses Anliegen einen verständnisvollen Bündnispartner: Neben der reißerischen Präsentation des publizistischen Quellmaterials fokussiert er vor allem auf die schön säuberliche Präsentation des eigenen "Medienapparats", wie es also ihm, Jenkins, gelingen kann, die im folgenden, vorgeblich im Selbstversuch erstellten Aufnahmen zu erstellen: Man erfährt, wo das Tonbandgerät versteckt war, und ahnt, welche Schwierigkeiten damit verbunden sind, eine beträchtliche Kamera in einer Aktentasche so zu drappieren, dass sie von außen nicht auffällt, aber dennoch maximale Einsicht in das muntere Treiben besteht. Was einerseits die folgenden Aufnahmen - Jenkins beim Gruppensex, Jenkins beim Nacktfoto-Termin, Jenkins im Nudistencamp, Jenkins bei der Privatmassage, Jenkins beim Dildo-Einkauf, Jenkins bei der Voodoo-Audienz, etc. - authentifiziert, schafft dem unsicheren Voyeur zugleich eine rückversicherte Basis der Anschauung: Keine Sorge, wir werden alles sehen - auch wenn Jenkins, väterlicher Freund, der er ist, darauf hinweist, dass er beim Gruppensex "natürlich einige Szenen herausschneiden" musste - und uns wird nichts passieren. Puh.



Die eigentlichen Attraktionen dann: Meditation im Stillstand. Tatsächlich großartig von melancholischer Gitarrenmusik unterlegt, die man heute als American Primitivism auch einem an Singer/Songwritertum geschultem Indie-Expertenpublikum vorlegen könnte. Gerade diese Tiefenentspanntheit - okay, manchmal gibt es auch blöde Witzeleien, wenn Jenkins etwa an einen schwulen Masseur gerät - verleiht dem Film einen fast sehnsüchtigen Resonanzraum nach jener Form von Freiheit, der sich verzwicktes Spießbürgertum kaum aussetzen würde.



Bizarr geraten sind jene Momente, in denen uns Jenkins - eigener Auskunft nach "Verhaltensforscher" - via Kleinanzeige erworbene Nudistenfilmchen zeigt. Er bedient den Projektor, setzt den Film in Gang und der Film-im-Film übernimmt rahmenlos die eigentliche Form. Zwischendrin immer wieder: Inserts von Jenkins' Gesicht in Großaufnahme - düster dräuend, lüstern dreinblickend. Eine Erinnerung an den eigentlichen Ort des Films einerseits, andererseits wächst Jenkins in diesen kurzen Inserts aber selbst zu so etwas wie einem dunklen Hohepriester einer düsteren erotischen Fantasie heran. Spooky.

Mehr bei Oliver





° ° °




Ein Film, der im Vorfeld eigentlich wie für mich gemacht schien (und in der Tat freute ich mich auf dieses Erlebnis mit am meisten): Scandelaris Das Paradies - international bekannter unter dem Titel Beyond Love and Evil - widmet sich lose den Klassikern der sexuell subversiven Literatur im Spannungsfeld zwischen De Sade und Sacher-Masoch, legt dabei auf narrative Kohärenz wenig wert und feiert den Schangel mit Kostümen, bizarren Ritualen und allgemein entgrenzter Entrücktheit. Und obwohl der Film über weite Strecken ein bisschen so wirkt, als hätte hier ein Jean Rollin mit deutlich mehr Budget (und deutlich umfangreicherem Theaterfundus zum Plündern) seiner sexuellen Libertinage und seiner Lust am freakigen Verkleiden gefrönt, nervte mich Das Paradies zu meiner eigenen Verblüffung ziemlich schnell.

Es mag daran liegen, dass der Film für mich keinerlei poetischen Wert entwickelt hat, das Gezeigte also ästhetisch nur selten über das hinauswuchs, was es eben zeigte: Menschen in obskuren Kostümen, die Obskures sagen und obskure Schminke tragen. Selbst noch eine Szene, in der sich eine junge Frau lustvoll in allerlei Fischen und einem Oktopus wälzte, wirkte lediglich wie die platte Nachstellung einer, in diesem Fall dem japanischen Kulturkreis entlehnten, Ikonografie transgressiver Sexualität ohne je eigenen archaischen oder wenigstens subversiven Reiz zu entwickeln. Die Veranstaltung wirkte wie Kindergeburtstag mit Verkleiden auf mich: Nie schoss das ins Delirium, sondern stellte immer nur dessen Behauptung auf. Nie entwickelte das Lust und Pathos, sondern blieb als infantile Provokation ohne shock value zurück (zugegeben: heute sagt sich das leicht, 1971 mag das anders gewesen sein). Hinzu kommt, dass ich den Eindruck nicht los wurde, dass der Filme seine ausgestellten Libertinagen und die profunde Widersprüchlichkeit seiner Figuren - es geht um eine Gruppe von Aussteigern, die die "Gemeinheiten" der Menschen hinter sich lassen, um das Reich totaler sexueller Freiheit zu erkunden, dabei aber eine im höchsten Maße phallokratische Despotie entwickeln - im Grunde genommen als Schachfiguren zur Denunziation und Diffamierung sexueller Freiheitsbewegungen auf dem Spielbrett bewegt.


Dazu passt, dass das einzige mir als wirklich poetisch in Erinnerung bleibende Bild ausgerechnet eine heteronormative Rekonstruktion vornimmt: Der junge Mann, der hier seine junge Frau dem Kreis der sexuellen Libertinage zu entreißen versucht, stürzt mit dieser nackt in einen Wildbach, wo er sie tatsächlich vergewaltigt - was innerhalb des Konstrukt des Films, der fortlaufend von Grenzübertritten und Überwältigungen handelt, allerdings nicht allzu viel heißt. Kamera, Musik, Schnitt, Rhythmus und Körperbewegungen gehen an dieser Stelle erstmals eine wirkliche Symbiose ein, sie poetisieren das bloß faktisch Vorfilmische, erstmals bewegen sich Körper mit- und auf Bezug zueinander, es entsteht eine eigene, sehr faszinierende Ästhetik des Körpers im sexuellen Rausch, der hier keinen Theatertand mehr braucht, um Ekstase zu erreichen oder wenigstens abzubilden. Dass nun ausgerechnet dieses Bild als einziges die Qualität eines cine-ästhetischen Faszinosums entwickelte, während die viel interessanteren, da unkonventionelleren Sexualitäten, die der Film noch zeigte, zur Klamottenparade verkamen, nehme ich ihm sehr übel.

(und ja, gewiss gibt es Momente, in denen für einen Moment lang ein anarchischer Funke aufblitzte. Die Szene als eine Art engmaschige Polonäse vor den Augen des masochistischen Verzichtergreises aus einer Tür herausmarschiert kommt, um in die nächste wieder einzumarschieren, war natürlich super)

Florian meinte sehr passend nach der Sichtung: "Intellektuell armselig." Und Lukas schrieb gar bloß ein "Nehmt den Hippies die Kameras weg". Beobachtung am Rande: Der Titel Vulkane der höllischen Triebe, der auf den so bezeichneten Film so gar nicht passen wollte, wäre hier jedenfalls deutlich passender gewesen als Das Paradies, das im Grunde eine Hölle darstellt.

Mehr: Lukas - Michael - Alex - Programmtext



° ° °




Arbeitskampf unter Frankreichs heißer Sonne: Eine Obstplantage wird zum Schauplatz rhetorischer und praktischer Auseinandersetzungen darüber, was es heißt, nichts als seinen Körper zu besitzen und sich gegenüber jenen zu behaupten, die über mehr als das - Produktionsmittel und also Macht - verfügen.

Anders als der deutsche Verleihtitel vermuten lässt, handelt es sich dabei weniger um ein unzüchtiges Werk für Voyeure, die verschwitzten Obstpackerinnen in den Ausschnitt schauen wollen, sondern um ein genau beobachtetes, genau komponiertes, vielschichtig sortiertes Werk, das sich für seinen Ort, die Leute, die dort arbeiten, und deren Lebenslagen sehr aufmerksam interessiert. Da sind die LKW-Fahrer, die sich über defekte Bremsen beklagen, die der Unternehmer nicht reparieren lassen will. Da sind die Obstpackerinnen in ihrem Trott, von denen manche sich fügen, andere wiederum - darunter die ziemlich modern sich behauptende, attraktive Kissa (Scilla Gabel) - fügen sich weniger, wie sich nicht nur im Dialog, sondern auch in de Details am Rande zeigt, etwa wenn Josine fertig abgepacktes Obst kurz vor der Abfahrt mutwillig mit ihren Fingernägeln beschädigt, um die eigene Arbeitskraft nicht ganz so profitabel werden zu lassen. Da ist der Barbetreiber, der am Rande der Baracken vom Feierabend der Leute lebt. Der schwarze Junge, der sich zwischen den Baracken herumtreibt. Nicht zu vergessen: Der Unternehmersohn in feinster Kleidung und mit feschem Wagen, der sich mit der wonnevollen Arroganz der Bessergestellten über die Angestellten seines Vaters erhebt. Und natürlich gibt es die Bar, den Amüsementbetrieb in der fernen Stadt, zu dem die Leute am Wochenende fahren, um ihr bisschen Geld für etwas Sinnenfreude zu verprassen. Und schließlich gibt es den Schweiß, die Hitze, das alltägliche, entbehrungsreiche Geschäft.

Obwohl ein gewisses Maß an Lüsternheit dem Film ohne weiteres untergehoben ist (die Leute haben, wie gesagt, zunächst einmal nichts als ihre Körper), gibt sich Die Ernte der sündigen Mädchen dem Sleaze nie voll hin - ganz im Gegenteil ist der Film herausragend vernünftig konstruiert: Als gegen Ende eine der Frauen vergewaltigt aufgefunden wird, richtet sich der Zorn des sich schnell formierenden Mobs zunächst gegen den aus der Situation heraus auf den ersten Blick wahrscheinlichsten Täter - den schwarzen Jungen -, doch bevor es zum äußersten kommt, regen sich schon Stimmen der Vernunft, die durch beherztes Eingreifen Schlimmeres verhindern - zu Recht und zum Glück, wie sich wenig später herausstellt. Auch der finale Konflikt, der auf eine ganz handfeste Konfrontation hinausläuft, erfährt eine Auflösung, in der eben nicht das Gute sich die Hände, rechtlich gesehen, schmutzig machen und primäre Impulse schubhaft abreagiert werden - vielmehr entwickelt der Geiz des Unternehmertums ganz eigene tragische Züge.

Sprich: Ein mit wackerem kommunistischem, zumindest aber stramm sozialdemokratischem Gestus gedrehter Film - im allerdings jeweils besten Sinne. Gut dabei vor allem auch, dass sich der Film nicht in den Arbeitsethos kommunistischer und sozialdemokratischer Film-Manifeste rettet. Dass die Leute hier sich der Arbeit entziehen, wo sie nur können, dass sie Strategien entwickeln, um sich dem Leistungsregime zu entwinden, stößt seitens des Films auf viel Solidarität. Körper, so unterstreicht dieser Film ganz eindeutig, sind zu mehr und weit besserem geschaffen als zu bloßer Plackerei. So ist Die Ernte der sündigen Mädchen nicht zuletzt auch ein frühes Beispiel für ein Kino der Arbeitsverweigerung, einem Thema, dem man ohnehin einmal näher nachgehen sollte.

Dass dieser Film, der auf der einen Seite ohne weiteres als Spätausläufer des Neorealismus gesehen werden kann, auf der anderen Seite aber auch mit einem amerikanisch informierten Cine-Existenzialismus wie aus Lohn der Angst anbändelt, heute so profund in Vergessenheit geraten ist, ist nicht nur unverständlich, sondern auch unverzeihlich. Es mag auch an der Besetzung liegen: Scilla Gabel figuriert hier in einer Rolle, in der man sich auch Weltstars wie Sofia Loren oder Gina Lollobrigida vorstellen könnte, ohne dass ihr Name allerdings denselben Klang besäße.

Mehr bei Oliver - Lukas - Udo - Alex - Programmtext


° ° °