Über allem liegt das kalte, diesige Grau eines trockenen Novembersonntags. Volkstrauertag ist heute; das wüsste ich selbst nicht, das Radio hat es mir am Morgen beim Kaffee gesagt. Aber das interessierte mich nicht, also habe ich es vergessen. Deshalb stehe ich jetzt hier, am Boxhagener Platz, erwartet hatte ich das emsige Flohmarkttreiben, das hier allsonntäglich zu beobachten, zu erleiden, zu genießen ist, aber nichts dergleichen: Der Platz ist so karg wie der ganze Tag. Volkstrauertag, vermutlich deshalb, denke ich kurz, als ich mich wieder an die entsprechende Information aus dem Radio erinnere. Kein Flohmarkt, kein Treiben, keine schmuddeligen Bücherkisten mit kleinen und auch größeren Schätzen. En contraire, der Platz stellt seine weiß-grauen Flächen aus, wie sonst nie, das Grün in seiner Mitte: abgeriegelt, eine große Tafel klärt das Bauvorhaben auf, irgendein Bauarbeitermonstermobil steht herrenlos herum.

Doch egal, es ist noch vor Mittagszeit, ich bin schon eine ganze Weile wach und überdies kein Kind von Traurigkeit. Ich genieße es, im fast menschenleer gefegten Kiez für einen Moment so dazustehen, nicht zu wissen, was mit dem angebrochenen, nunmehr sinnlos erscheinenden Gang aus dem Hause anzufangen ist, und entschließe mich kurzerhand zu einem Spaziergang durch den Kiez und seine karge Novembersonntagmorgenwelt, sinnfreie, müßige Beobachtungen anzustellen. "Dieser Tag gehört nur Dir allein", hauchen, später: schreien, Dawnbreed in einem wunderbaren Song, der mich seit meiner Jugend Blüte an Morgen wie diesen (manchmal auch: an Morgen nach Nächten wie jenen) stets im Geiste begleitet.

Friedrichshain lässt sich, in dieser Ecke, als große Galerie begreifen. Überall gibt es was zu sehen. Nicht im Sinne des Ausdrucks natürlich, denn sensationslüstern geht es hier nur selten zu. Es gibt was zu sehen für jene, die Freude am Sehen haben, die nicht vom Anblick erschlagen werden, sondern einen solchen, der sich lohnt, ausfindig machen wollen. Ich beginne umherzustreifen und erstmals wieder seit langer Zeit (im Sommer war ich oft hier nachts unterwegs, aus gleichem Grund) erbllicke ich, befreit von der Zweckhaftigkeit meines Weges, das Viertel (oder besser: diese Ecke desselben) mit, in der Tat, wachen Augen. An den Wänden erblühen Generationen von Werken der Straßenkunst, die sich zunehmend komplexer gestalten (dies erschließt sich freilich nur dem, der das oft Aufregende, was hier an verfallenen Fassaden wuchert, über längere Zeit mitverfolgt). An manchen Gemäuern ist die Farbe kaum mehr auszumachen, dafür befinden sich darauf Dutzende, Aberdutzende kleiner Xerox-Art-Artefakte, die sich ergänzen, kommentieren, Strukturen in das Zettelchaos bringen, die doch nur die Strukturlosigkeit zum Thema haben. Oft und gerne bleibe ich stehen, fasziniert von dem Einfallsreichtum, mit dem sich Künstler jenseits von Kulturbetrieb, Museumsmuff und Fördergremien mit dem wenigen, was hier - jüngster Wahlbezirk Deutschland, überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit, Copyshops mit lachhaft kleinen Preisen - greifbar ist, aufschwingen, um Kreatives zu leisten, dem die eigene Vergänglichkeit, der eigene Ursprung aus Abfall der Populär-, Reklame-, was-weiß-ich-Kultur in jeder Nuance eingeschrieben ist.

Ich entdecke einen Hinweiszettel, auf dem der neue, sehr sympathische Buchladen Lit.List in der Mainzer Straße von einem öffentlichen und wöchentlichen Treffen in seinen Räumlichkeiten jeden Donnerstag Abend um 20 Uhr erzählt und alle Schreibenden, die das Zeug zum Vorlesen haben, herzlich einlädt (Buhrufer sollen, so der Zettel weiter, indes zu hause bleiben). Ich mag das, dass dieser Zettel überall hängt, die Möglichkeit dort donnerstags einfach hinzugehen, nur zwei Ecken weg von meiner Wohnung, das Gefühl, dass das genau hier ist, genau jetzt, ohne diesen ganzen Hippness-Scheiß, der sonst an here and now zu hängen pflegt. Ob ich hingehe, weiß ich nicht. Aber es ist schön, davon zu wissen, dass Menschen voller Leidenschaft andere, in dieser Hinsicht Gleichgesinnte suchen. Mit einem Zettel an einem Baum, an einer Wand, an Abfalleimern, die so zum zentralen Ort des öffentlichen Austauschs werden.

Und dann der ganze Abbruchcharme dieser Ecke. Kaputte, rusige Fassaden, abgeplatzter Putz, schäbige Antiquariate, die noch versuchen dem, was andere achtlos wegwarfen, einen schnellen Euro zum Leben abzuringen. Ich erinnere mich, wie ich selbst vor langer Zeit hierherzog, aus dem sauberen Franken/Westdeutschland, wie ich damals, 19jährig, geradewegs abgeschreckt war von diesen Insignien des Verfalls (die in den letzten Jahren weniger wurden, leider), wie ich mich lange Zeit weigerte, daran Gefallen zu finden, obwohl ich weiß Gott kein Spießerjunge war, und wie ich mich irgendwann dabei ertappte, das alles, dieses Spezifische dieser Gegend, bereits seit langer Zeit mit der Selbstverständlichkeit des heimisch Gewordenen zu lieben, ohne mir dabei des Bruchs dieser Ansicht bewusst gewesen zu sein. Heute, an diesem frösteligen Tag, um diese Zeit, liebe ich das Ambiente wieder ganz besonders. Ein kleiner Rumpelladen an der Ecke hat ein Akkordeon im Schaufenster hängen, das ich kurz näher beobachte, daneben wieder abgefledderte Straßenkunst. Diese Kreuzung hier mag ich, den "Feuermelder", eine abgeranzte, unheimlich charmante Kneipe, in der es gerne mal laut wird, im Rücken, ganz besonders.

Ich manövriere mich von Zeichen zu Zeichen, mäandere durch die Vertrautheit dieses Soziotops, denke kurz an die Situationisten, die das ziellose Umherschweifen als politischen Akt zelebrierten und frage mich kurz, ob das überhaupt die Situationisten waren. Egal. Eine andere Wand zeigt sich neu bemalt, die Hauseigentümer waren der wilden Zuständ' darauf wohl überdrüssig. Eigentlich beklagenswert, könnte man meinen, doch ich weiß es besser, denn nichts in dieser Ecke ist von Bestand und in spätestens drei Monaten wird die Wand wieder in alter Pracht erblühen, voller Schmierereien mit orthografisch zweifelhaftem Inhalt, ambitioniert-wilder Straßenkunst und Plakaten, die auf wundersame Ereignisse der nächsten Zeit in den lokalen Kleinclubs und dergleichen hinweisen. Bis dann wieder zuviel Farbe übrig ist und ein neuer Anstrich gewagt wird. Das Spiel vom Hasen und dem Igel.

Ich sehe mich satt an allen Ecken, gehe zufrieden nach Hause, fröstele etwas, da ich über meinem T-Shirt nur eine Kapuzenpullover trage. Ich denke mir, dass das zu diesem Tag passt, schüttele mich und weiß einmal mehr: Ich liebe diesen Flecken Erde von ganzem Herzen.


° ° °




kommentare dazu:



christian123, Sonntag, 14. November 2004, 14:18
Na das ist doch mal eine Abwechslung zu den deprimierenden "Wie schäbig und dreckig und arm und elend Berlin doch ist"-Berichten etwa eines Don Alphonso. Sehr schöner Text.

Dafür, dass Friedrichshain bei mir so gut wie nebenan liegt, geh ich gar nicht mal so oft hinein, aber wenn, dann ziehe ich für den Weg dorthin immer die Fahrt mit der Straßenbahn (= gemächlich klappernder Ausblick, und fährt außerdem direkt bei mir vor der Haustür ab) vor und steige gern ein zwei Stationen zu früh aus, um ein bissel Umfeld zu schnuppern. Ist schon ein sympathischer Fleck.



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