Im folgenden mein nach Korrektur und Kommentierung nochmals leicht überarbeitetes Thesenpapier zu Tom Gunnings Aufsatz "Das Kino der Attraktionen. Der frühe Film, seine Zuschauer und die Avantgarde" nach der Wiederveröffentlichung in Meteor 04/96 (Wien, 1996), geschrieben für das Seminar/die Übung "Einführung in die Filmgeschichte" bei Prof. Dr. Kappelhoff und M.A. Groß.

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Gunning legt dar, dass die bisherige Untersuchung des frühen Kinos bis 1906 unter Gesichtspunkten der Entwicklung narrativer Elemente maßgebliche Impulse (wie die Nutzbarmachung des Visuellen) zu seiner Formung übersieht. Um diese zu verdeutlichen entwickelt er unter Rückgriff auf Eisensteins Begriff der „Attraktion“ - eine aggressive Einwirkung auf die Sinne und Psyche zum Zwecke anti-illusorischer Effekte - das Schlagwort vom „Kino der Attraktionen“. Dieses unterscheidet sich im Gegensatz zum narrativen Kino der folgenden Jahre durch den direkten Bezug zum Zuschauer über eine exhibitionistische Konfrontation mit der eigenen Sichtbarkeit zu Lasten einer kontingenten fiktionalen Diegese: Sich über die Kamera bewusst ans Publikum wendende Schauspieler, der performativ in die Vorführung eingreifende Schausteller, der Verzicht auf ein Narrativ (zugunsten einer Zur-Schaustellung) und auf psychologisch oder als Individuen voll etablierte Figuren ergeben ein vorrangig an "Gags" und direkten Reizeinwirkungen interessiertes, anti-illusorisches Kino, das nach außen auf den Zuschauer und nicht nach innen auf narrative Kontinuität abzielt. Gunning untermauert seine These mit dem Attraktionscharakters der Kinolokalität als Ausstellungsort seiner selbst und kennzeichnet frühe Versuche der Nahaufnahmen als exhibitionistischer und kaum narrativ interpunktierender Natur. Das hier angesprochene Publikum rekrutiert sich aus der frisch entstandenen Massenkultur (Vaudeville, etc.), die ihm, mit traditionellen Künsten nicht vertraut, neue, direkte und als befreiend empfundene Reizeinwirkungen bot. Das frühe Kino vor 1906 knüpft daran über die serielle Präsentation von Ansichten an, deren Faszinationskraft von der Illusion der Bewegung oder ihrer Exotik ausging, und erfährt zudem im direkten Umfeld des Vaudeville seine Popularisierung. Diese Aspekte der Vermassung und der Reizlust legen Eisenstein und Co. die Attraktion als strategisches Mittel zur Einwirkung auf den Zuschauer nahe.

Von 1907 bis 1913 erfährt das Kino eine Narrativisierung mit dem Spielfilm an deren Ende. Das Kino orientiert sich am Theater, greift psychologisierende Modelle auf und entwickelt eine in sich geschlossene diegetische Form, die die Attraktion in ein dialektisches Verhältnis zwischen Spektakel und Narration stellt, das sich im Slapstickkino als wichtige Antriebskraft des klassischen Kinos erweist. Spektakuläre Werbeversprechen verdeutlichen die weiterhin große Rolle des attraktiven Elements innerhalb des narrativen Systems. Das oft als unvereinbar apostrophierte Verhältnis zwischen narrativem Film und Avantgarde kennzeichnet Gunning dabei als ahistorisch: Das ambivalente Schlussbild von The Train Great Robbery (1903; hier kostenfreier Download) weist bereits den Weg der Durchmengung beider Systeme. Wie jeder Wandel der Filmgeschichte zugleiche eine neue Art, sich dem Zuschauer zuzuwenden, bedeutet, konstruiert sich auch jede Periode ihren Zuschauer neu.


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kommentare dazu:



christian123, Mittwoch, 5. Januar 2005, 15:49
Too much
2959 Zeichen, das sind 459 Zeichen zu viel, erlaubt waren nur 2500! ;-)

Ach nur mal aus Interesse, welche Note?


thgroh, Mittwoch, 5. Januar 2005, 16:44
Jo, das weiß ich wohl mit den Zeichen: Deshalb ja auch im Seminar am Abgabetag damals meine "unschuldige" Frage, ob sich die Zeichenvorgabe auf "mit" oder "ohne Leerzeichen" bezöge. Naja ... :-/

Aber offensichtlich gereichte mir diese leichte Übertritt nicht zum Nachteil, zumindest wenn ich auf meine Note schaue, die hiermit wohl implizit genannt ist. ;-)

baehr, Donnerstag, 6. Januar 2005, 00:51
Ein Thema, das weit führt, finde ich. Ich glaube, dass gerade in dieser Frage des Verhältnisses von Narration und Attraktion und was da das bestimmende ist der Zuschauer nicht außer acht gelassen werden darf. Der sieht ja, was er sehen will, wie auch der Filmwissenschaftler. Vor 1906 war vieles im Flusse - natürlich gab es auch schon schwer narrative Ansätze. Man könnte also auch sagen, unter dem Druck des Marktes in der bürgerlichen Gesellschaft hat sich das pure Spektakel im Gewande des Theaterähnlichen in die Wohnstube geschlichen. Wie weit über dem Pornofilm liegt da die Grenze - selbst er behauptet noch Handlung, wo es nun echt nicht nötig wäre. Was wäre unerträglicher: "Pearl Harbour" ohne Handlung oder ohne Action? Wo würden mehr Leute aus dem Kino gehen?



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