(zuerst erschienen im Freitag)

Die Traumstadt ist eine Altstadt: pittoresk verwinkelt, angenehm unherausgeputzt, touristisch nicht erschlossen, gelegen im letzten Winkel der Welt – im Film irgendwo hinter einer Karl-May-Wüstenlandschaft, in echt im tschechischen Erzgebirge. Preßnitz, die Traumstadt aus Johannes Schaafs gleichnamigem Film von 1973, die im furiosen Ende vor laufender Kamera gesprengt wird, wurde tatsächlich dem Erdboden gleichgemacht und liegt heute am Grunde eines Stausees.



So also sieht die Traumstadt aus, eine Art Dorfkommune, in die ein von Schaffenskrisen gebeutelter Künstler (Per Oscarsson, mit seiner hager-eitlen Körnerfresser-Weltabgewandtheit bestens besetzt) aus dem aufregend urbanen München der 70er Jahre aus seiner hippen Space-Age-Wohnung samt Gattin (Rosemarie Fendel) von einem mysteriösen Fremden mit dem Argument gelockt wird, dass man hier von den Zumutungen der Moderne frei und für alles gesorgt sei, dass man jedem Bedürfnis und jeder Lust nachgehen könne. Regressive Utopie: das Dorf mit bürgerlichem Anstrich – alles sehr 18., 19. Jahrhundert – als freiheitlicher Gegenort zum Urbanismus der Zeit mit seinen klaren Formen und Linien. Michael Endes Metropolen-Ennui lässt grüßen, folgerichtig verfilmt Schaaf später Momo.

In Traumstadt scheitert das Versprechen grenzenloser Freiheit schon daran, dass zum ausgelebten Begehren eben doch mindestens zwei zählen und diese miteinander übereinkommen müssen. Im Film, basierend auf Alfred Kubins einzigem, surrealen Roman Die andere Seite, schlägt die Utopie daher nach einem bürokratischen Zwischenspiel bald um in ein Wahnbild aus Enthemmung und Degeneration, irgendwo zwischen Federico Fellini, Alejandro Jodorowsky und Hieronymus Bosch, besonders augenfällig in einer grotesken Theaterszene, in der unzählige Akteure vor leerem Saal permanent obszön aneinander vorbeispielen.



Kurz nach 1968, in einer Zeit, in der der deutsche Sexfilm eine sieche Industrie über Wasser hält und die RAF längst zu den Waffen gegriffen hat, ist das trotz aller Weltferne als Statement zur Gegenwart zu lesen: Eine tiefe Skepsis gegenüber allen Verlockungen großer Freisprengungsnarrative durchweht den Film, immer mit Blick darauf, dass darin auch die Gefahr der Zerstörung des Gegebenen und Tradierten liegt. Der aktuelle Peter Sloterdijk mit seiner Klage über die schrecklichen Neuzeitkinder hätte seine Freude. In der DVD beiliegenden, eigens gedrehten Interviewfilm äußert Johannes Schaaf denn auch Zweifel, ob der Film im heutigen Kontext überhaupt noch richtig verstanden werden kann.

In der Tat wirkt nun manches etwas morsch, zumal der Künstlertypus Einsiedler in der Post-Christoph-Schlingensief- und Jonathan-Meese-Gegenwart eher ausgestorben scheint. Schöner ist die Stellenlektüre: Unter den Schichten an Weltuntergangsromantik, die am Ende sehr konkret in den Kader schießt, ist hier eben doch eine für den damals noch jungen deutschen Film ungewöhnliche Lust am drastischen, entrückten, bizarren Bild zu beobachten. Es sagt viel aus über die 70er-Jahre-BRD, dass man an die grellen Welten aus Jodorowskys zeitgleich entstandenem Heiligen Berg hierzulande näher kaum herangekommen ist – und auch dann nur mit mahnend erhobenem Zeigefinger. Allein für diese Erkenntnis ist der vorbildlichen Edition, die eine lange nur in Form defizitärer Fernsehaufnahmen kursierende Rarität der westdeutschen Filmgeschichte wieder zugänglich macht, zu danken.

Die hervorragende DVD ist bei Filmjuwelen erschienen.


° ° °




kommentare dazu:



kid37, Samstag, 6. September 2014, 14:40
"Freisprengung" also in jeder Hinsicht. Danke für den Hinweis auf die DVD-Edition, das ist an mir vorbeigegangen. Dabei wollte ich den Film immer mal sehen. Ich vermute aber, das hier wie bei manchen vergessenen exaltierten Werken dieser Zeit die Geschichten hinter der Geschichte und die Erlebnisse am Set interessanter sind als das eigentliche Werk.



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