14.01.2007, Heimkino.



Vier Hunde auf dem Asphalt. Maschinelles Lärmen aus dem Irgendwo. Plötzlich, unvermittelt von oben: Vier mechanische Arme einer, vermute ich, bizarren Maschine, mit der Straßen aufgerissen werden. Die Maschinenarme schlagen zu, heftig. Laut. Die Hunde rennen davon, jaulen. Ein starkes Bild, mit dem der Film beginnt, in ihm liegt eine Form von Archaik und Mythik, die durch das ganz reale, ästhetisch nicht überhöhte Bild gebrochen wird; dass man es nicht direkt versteht, ist wesentlicher Bestandteil seines Gelingens und darüber hinaus programmatisch für den sich diesem Bild anhängenden Film, in dem das Direkte und Beobachtete, das Gefüge der alltäglichen Realität bis zu einer diffusen Kenntlichkeit verfremdet wird. 4 ist der Debütfilm von Ilya Khrjanovsky, der ihn in Zusammenarbeit mit Vladimir Sorokin, einem Provokateur der russischen Gesellschaft, konzipiert hat, und allemal Erfahrung. In ihm überwuchern sich Bildertumore ins Groteske, zugleich ist er, vielleicht, einer der wichtigsten, wohl aussagekräftigsten, zumindest aber bemerkenswertesten Filme aus/über Russland der letzten Jahre.

Dreh- und Angelpunkt ist ein nächtliches Gespräch an einem Tresen einer Bar, in irgend einer größeren russischen Stadt. Drei finden sich ein, der vierte ist der Barkeeper, der im wesentlichen aber mit einnicken beschäftigt ist. Zwei Männer, eine Frau, sie vermutlich Prostituierte, jedenfalls wohl keine, die in Werbung macht, wie sie sagt, der eine vorgeblich in der Administration des russischen Präsidenten beschäftigt, in echt jedoch nur ein mafiöser Gammelfleischhändler, dessen kartografierte Businesswelt bald in sich zusammenbricht, wenn er erstmals von der Existenz kugelrunder Ferkel erfährt, der letzte schließlich Pianostimmer, der allerdings vorgibt, in ein weit in den Stalinismus zurückreichendes Klonprojekt jenseits administrativer Kenntnis von ganz oben verstrickt zu sein, und dabei sehr deutlich in den Raum stellt, dass die einst noch hinter dem Eisernen Vorhang gezüchteten "Doubles" längst schon massenhaft in der Gesellschaft angekommen seien. Die Ziffer 4, sagt jener letzter, sei schließlich diejenige, die mythologisch und kulturell am wenigsten aufgeladen sei: 1, 2, 3, 7 - undsoweiter - alle belegt, aufgeladen, mythologisiert. Die 4 hingegen ist die reine Funktionalität; vier Beine hat der Tisch - und vier Kanten, sagt man sich als Zuschauer, fast jedes Industrieprodukt.

Das Gespräch dauert lang, entzündet sich an Small Talk und ist streng funktional gefilmt. Es führt vom Tresenplausch direkt in die Zone, die schmerzt, in das Unterirdische jeder Gesellschaft, dorthin, wo man das Gespräch beendet, aufsteht und vondannen zieht. In dieser Form bildet es das Auge des Sturms, der sich in den ersten Filmbildern andeutet - und mit dem er - lange, schmerzvoll - enden wird. Weit draußen in der russischen Provinz, in einer Art Kolonie der alten Vetteln, die mit ihren ganz eigenen Psychosen zwischen Stützstrümpfen, gekautem Brot und verwelkten Titten das Leben zur Hölle umformen.

Provinz und Stadt, Straße und tiefste Keller (in denen Tierleichen seit den 60er Jahren gehortet werden - es hat hier 28 Grad unter Null, die kann man noch verkaufen!) - in einer Art Schuss-/Gegenschussverfahren (das ist durchaus wörtlich zu nehmen; wo man hier hinblickt: man will den Blick abwenden) faltet 4 eine eigenartige mentale Karte der gegenwärtigen russischen Gesellschaft auf, ohne dabei aber didaktisch, essayistisch oder gar analytisch vorzugehen; man muss ihm dies danken. Khrjanovsky/Sorokin verfolgen eine Strategie der Eskalation, die jedoch nie das bloße Bersten sucht (die Kamera weiß, was sie tut, immer), sondern, sozusagen, nach Methode einer kontrollierten Sprengung vorgeht.

Das Ergebnis ist das Paradox eines surreal flirrenden Realismus: Quasi-instinktiv /weiß/ man, dass dieser Film sich mit höchster Relevanz zum Zustand des gegenwärtig gärenden Russlands verhält, ohne dass man konkret benennen könnte, wie. Wenn, wie Brecht das richtig gesagt hat, die Fotografie einer Fabrik uns noch nichts über den Kapitalismus sagt, dann zieht 4 - weit abseits bloß abgefilmter Begebenheiten - mit geschliffenem Skalpell tief ins Gewebe einer Gesellschaft, die vor den Trümmern der eigenen Geschichte steht und sich deshalb in Permanenz transformiert. Das Umspannende einer derart disparaten Kultur, die sich vielleicht am ehesten mittels des schönen englischen Wortes vast ausdrücken lässt, versucht 4 in den Blick zu kriegen.

Speaking of Geschichte. Tarkowskij war vielleicht derjenige Regisseur, der einen Moment zumindest der russischen Mentalitätsgeschichte unter Umständen am prägnantesten ins Filmbild übersetzt hat. 4 ist übervoll mit zumindest ikonischen Anspielungen auf sein Werk: Vor allem Stalker und Solaris kommen einem immer wieder in den Sinn. Doch im Unterschied zu dem mexikanischen Regisseur Carlos Reygadas, der sich in Japón ganz offenkundig an die Tarkowskij'sche Ästhetik angeschmiegt hat, sucht 4 nicht die cinephile Liebkosung, sondern betont das Moment des Aufbrechens und der Inversion: Wenn der Gammelfleisch-Sohn nach Hause kommt, fällt der psychotische Hygiene-Vater auf die Knie und schmiegt sein Gesicht an des Sohnes Rumpf - eine ikonisch direkte Umkehrung des Schlussbildes aus Tarkowskijs Lem-Adaption. Und die Hunde rennen draußen vor den Türen über vor Nässe glitzernde Straßen, als wäre die Welt überflutet worden wie die Gemäuer in der Zone, während am nebligen Horizont über winterlich vermatschten Seepfützen die Türme der Atomkraftwerke in sich ruhen.

4 entlässt einen mit Rätseln, Andeutungen, nicht zu Ende gedachten Sackgassen und Ekel allenthalben. Er bietet kein hermeneutisch zu entschlüsselndes "Paket" an, vielmehr lässt er Gedanken fließen, ohne ins bloß delirierende Assoziieren zu verfallen. Eine Welt wird etablert, die ganz alltäglich ist und von der Kamera nie überhöht wird, und doch ist sie bizarr und jenseitig. Momente des Dokumentarischen, fast schon Ethnografischen, stehen neben offenkundig Fiktionalem. Doch alles ist aus einem Guss, folgt einer eigenständigen Syntax. 4 ist einer der spannendsten und vielleicht, was die Filmkunst betrifft, wichtigsten Filme der letzten Jahre.

weiterführende Links:
» imdb ~ offizielle website
» movie magazine search engine ~ movie blog search engine

» kinokultura.com ~ jump-cut.de ~ taz ~ senses of cinema ~ rouge

Zur Erhältlichkeit:
Der auf internationalen Festivals ausgezeichnete und von der internationalen Kritik gefeierte Film ist in Deutschland - wen sollte dies auch wundern - weder im Kino gelaufen, noch auf DVD erschienen. Eine englisch untertitelte DVD lässt sich mittels Eigenimport aus Großbritannien beziehen. In Berlin kann der Film in den Programmvideotheken Videodrom (Kreuzberg) und Filmkunst (Friedrichshain) entliehen werden.


° ° °




kommentare dazu:



esexistiertschoneinunsermit, Montag, 15. Januar 2007, 18:31
ein großartiger film, ganz deiner meinung. wobei der regisseur in interviews gerne betont, der film beziehe sich eben nicht auf russische verhältnisse sondern ziele genauso auf westeuropäische gesellschaften. ich selber hab den film mitte letzten jahres des interessanten covers wegen in china als raubkopie erworben und war von meinem glückskauf dann auch mehr als begeistert.

soralis, Freitag, 19. Januar 2007, 23:11
Eine Assoziation zur 4 kommt mir dann doch. Und das als Moslem, was mich dann moslemtechnisch wieder total ins Abseits führt.
Aber:
4 Enden hat das Kreuz.

Und das Abseits bin ich ja gewöhnt.



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