Ab 1929, lautet die gängige Lehrmeinung, herrscht Tonfilm. Da erstaunt ein Stummfilm aus dem Jahr 1932 zunächst, in Japan aber war es offenbar noch lange Zeit üblich, Filme stumm zu drehen. Man könnte, vermutlich abenteuerliche, Theorien darüber aufstellen, woran das liegt. Wilde Vermutungen: Vielleicht hat es etwas mit der Benshi-Tradition zu tun (Benshis waren die Kommentatoren neben der Leinwand, die den Film von dort aus sozusagen 'erzählten', und unter ihnen gab es ein regelrechtes Starsystem), vielleicht auch damit, dass Japans Filmoutput zur Stummfilmzeit rein zahlenmäßig weltweit zu den Spitzenreitern zählt, dabei aber ganz und gar auf den eigenen Markt begrenzt blieb - mag sein, dass dadurch Neuerungen wie der Tonfilm sich nur zögerlich durchsetzten. Vielleicht liege ich aber auch einfach völlig falsch damit, mögen japanologisch informierte Filmhistoriker eine (mit Spannung erwartete) Antwort formulieren.
Jedenfalls: Japan, Stummfilm, 1932. Der Regisseur heißt Mikio Naruse, der durchaus - und die endlich zumindest international in die Gänge kommende DVD-Auswertung auch im Westen belegt dies - den klassischen japanischen Regisseuren zuzurechnen ist, dabei aber - im Gegensatz zu Ozu, Kurosawa und Mizoguchi, deren Werke zur Geschlossenheit in sich neigen - ein motivisch und ästhetisch sehr heterogenes Werk hinterlassen hat.
Nasanu Naka entstand denn wohl auch eher noch im Tagesgeschäft der japanischen Filmproduktion, wiewohl sich historische Quellen finden lassen, die den Film bereits eindeutige künstlerische Distinktion beimessen. Der Film folgt einem klassisch melodramatischen Konflikt: Eine Mutter überlässt ihre neugeborene Tochter dem Vater, um in Hollywood Karriere machen zu können; dieser wiederum zieht es mit seiner neuen Frau auf, die sich liebevoll um das Kind kümmert, für das sie sich bald schon als Mutter versteht. Jahre später kehrt die leibliche Mutter zurück, während das wirtschaftliche Unternehmen des einstigen Ehegatten vor dem Hintergrund der weltweiten Rezession in Trümmern liegt. Die Mutter fordert das Kind zurück, ein Streit bricht vom Zaun. Am Ende entführt sie das kleine Mädchen, das sich widerspenstig zeigt und zu ihrer 'eigentlichen', nicht der leiblichen, Mutter zurück möchte. Im luxuriösen Apartement des Hollywood-Stars kommt es zur Entscheidung ...
Nasanu Naka folgt dem Melodram im geschickten Aufbau - Erzählokonomie, Figurenkonstellationen und dergleichen befinden sich durchweg auf höchstem Niveau. Davon aber abgesehen ist es vor allem die Inszenierung des Films, die staunen lässt: Nasanu Naka ist von einer unvergleichlichen Bild- und Bewegungsdynamik getragen. Die Position und Bewegung der Kamera sind in jedem Moment reflektiert und als Ergebnis einer ästhetischen und gestalterischen Entscheidung vordergründig präsent: Nie hat man den Eindruck in einer distanzierten Position des Geschehens zu verharren, stets ist man 'mittendrin': Die Kamera bannt nicht das Geschehen, sondern folgt ihm nach. Schon die erste Szene - ein Dieb wird auf offener Straße gestellt - ist ein Bravourstück in der Geschichte der entfesselten Kamera, die keine Kapriolen aufführt, sondern jede Einstellung genau so - und offenbar bereits mit Hinblick auf die syntaktische Dynamik in der Montage - gestaltet und nicht anders.
Die Bewegung der Kamera in die diegetische Wirklichkeit hinein lässt dabei im Minutentakt neue Nuancen entstehen: Eine Fahrt aus dem Geschehen heraus holt neue Figuren ins Bild, deren man sich zuvor nicht bewusst war; auffallend häufig dramatisiert sich das Geschehen durch fast schon aggressive Fahrten auf Gesichter zu, die schließlich, im Umschnitt, auf andere Gesichter wiederholt werden und dadurch die Intensitäten der Beziehungen der Figuren untereinander auf neues Niveau tragen.
Überhaupt setzt Nasanu Naka auf eine besondere Form des filmischen Schocks: Neue Figuren werden durch ihre Ausrufe mittels Schriftinserts etabliert - man sieht erst, was sie sagen, und erst dann, wer sie sind; häufig werden auf diese Weise auch Lokalitätenwechsel eingeleitet. Von der 'amerikanischen Einstellung' wechselt das Geschehen in den nuancierenden close-up (Hände, Gesten, etc. werden betont), ohne dass hierfür ein Schnitt notwendig wäre: Die flüssige Bewegung dieser ertastenden Kamera macht es möglich, und die Bewegung selbst steht im rhythmischen Einklang mit den Kamerabewegungen, die vorangehen und folgen.
Nasanu Naka ist aufgrund dieses Inszenier- und Erzählmodus ein unglaublich dynamischer Film, der die Feinheiten des späten Stummfilms noch zusätzlich und auf eine Weise potenziert, die auch im späten Stummfilm des westlichen Kinos nach meinem Dafürhalten kaum denkbar gewesen ist; anschaulich wird einem vor Auge geführt, welche Mobilität und welcher visueller Reichtum mit der Einführung des (die Kamera für viele Jahre wieder sträflich fixierenden) Tonfilms zunächst verloren ging. Die Ahnung dessen, welche filmhistorischen Schätze aus dieser Phase der japanischen Filmproduktion noch ungesehen in Archiven schlummern mögen, macht einen schwindelig vor Aufregung.
» imdb ~ infoblatt der berlinale-retrospektive (pdf)
kommentare dazu:
Es war in der Tat so, dass 1932 fast 90 Prozent der etwa 400 in Japan gedrehten Filme noch Stummfilme waren. Als Erklärung dafür werden neben den von dir bereits genannten und erklärten Benshis mehrere weitere Gründe angeführt.
Dazu gehört zum einen der Konservatismus der Verantwortlichen des großen Filmstudios Nikkatsu, die sich ein Jahrzehnt zuvor auch lange geweigert hatten, die Oyamas (männliche Schauspieler, die Frauen darstellten) durch "echte" Schauspielerinnen zu ersetzen. Ein weiterer Grund war, dass die Studios die hohen Investitionen und Folgekosten scheuten (die Stummfilmproduktion in Japan war sehr günstig, Tonfilme hätten die Produktionskosten etwa verdreifacht).
Dazu kommt noch die anfängliche Skepsis des Publikums: Die ersten importierten Tonfilme waren alles andere als positiv aufgenommen worden, erst Josef von Sternbergs Morocco (der glaub ich 1932 in Japan gezeigt wurde) hatte großen Erfolg, was vor allem auf die erstmals eingesetzten Untertitel zurückgeführt wird. Zuvor waren verschiedene Experimente mit (schlecht umgesetzter) Synchronisation und per Diaprojektion angezeigten Erklärungen und Untertiteln gescheitert. Das Publikum hatte sich an die Benshis gewöhnt, die daher ein enormes Druckpotenzial hatten und dieses in Streiks gegen die Studios auch nutzten.
All diese Einflussfaktoren werden zusammen für den deutlich verspäteten Siegeszug des Tonfilms in Japan verantowrtlich gemacht.
Mag sein, dass es außerhalb der USA generell etwas länger dauerte. Andererseits hatte Lang seinen letzten Film vor M bereits 1929 gedreht, er hatte also eine recht lange "Schaffenspause" während Naruse allein 1932 außer Nasanu naka noch 5 oder 6 andere Filme drehte. Wer weiss, ob Lang nicht schon früher einen Tonfilm gemacht hätte?
Der Unterschied ist glaub ich einfach der, dass im Westen die von dir genannten Beispiele für den späten Umstieg auf talkies eher Ausnahmen waren, während sie in Japan die Regel waren (siehe 90% Stummfilme 1932). Ein Grund für Naruse, im Jahr 1933 (glaub ich) das Studio zu wechseln, war auch, dass ihn Shochiku keine Tonfilme drehen lassen wollte.
(in archiven wird, deucht mir, nicht mehr viel schlummern. das kernproblem des japanischen films der zeit lässt sich auf die formel "nitrat + feuer" bringen.)
(im übrigen glaube ich mich zu entsinnen, die voranstellung relevanter zwischentitel, die hier so schön als schockerlebnis beschrieben wird, auch bei anderen stummfilmen der zeit gesehen zu haben. ozus "walk cheerfully" vielleicht? mariann lewinsky beschreibt in ihrem buch über kinugasas "verrückte seite", das viel mehr ist als ein buch über diesen film, die frühe japanische zwischentitelpraxis als sehr heterogen, soweit man sie - nitrat&feuer - überhaupt rekonstruieren kann.)
Danke für Deine kenntnisreichen Hinweise und Ergänzungen.
@orcival
Ja, aus naheliegenden Gründen - u.a., was den potenziellen Absatzmarkt betrifft - stand das Ausland jenseits der USA dem Tonfilm zunächst reserviert gegenüber; dennoch vollzog sich der Wechsel auch hier relativ flott, wenngleich nicht ganz so schnell wie in den USA (die "1929" ist ja auch eher diskursive Wegmarke; es versteht sich ja, dass sich eine derartige Umrüstung nicht binnen kürzester Zeit vollzieht) und danke auch für deine weiteren hinweise!
@katatonik
Ja, das ist mir bekannt, dass aus der japanischen STummfilmzeit nur ein erschreckend spärlicher Teil aller produzierten Filme erhalten geblieben ist; vor einiger Zeit wurde da aber so ein Privatarchiv geöffnet, in dem sich wohl noch einige Schätze verbergen könnten. Müsste ich mal genauer nachschauen, ob sich da mittlerweile was ergeben hat.
auch von meiner seite danke fuer die hinweise.
und stimmt schon, dass das wahrscheinlich eher ein uebergangsphaenomen war.
mal eine frage an dich, wie gross war denn japans filmindustrie damals ungefaehr?
oh, schwierig. Zahlen aus der Vorkriegszeit kenne ich nicht allzu viele. Die von mir oben genannten etwa 400 Filme im Jahr 1932 und dass die Zuschauerzahlen von ca. 150 Mio (1930) auf über 400 Mio (1940) stiegen, ist auch schon so ziemlich alles. Muss da mal bei Gelegenheit noch ein bisschen recherchieren...
Noch kurz zur verspäteten Einführung des Tonfilms: Es gab bis in die frühen 40er Jahre noch kleinere Studios, die sich auf Stummfilme spezialisiert hatten und die etwa 10% der Filme stellten!
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