03.05.2007, Seminarsichtung "Filmkritik"

Los Muertos, die Toten, heißt der zweite Film des jungen argentinischen Filmemachers Lisandro Alonso. Ein schlichter, lakonischer Titel, und doch präzis und exakt, in dem was er bezeichnet, mit einer sublimen Ahnung von Schrecken, doch ohne jedes Pathos. Ein passender Titel.

Mit den Toten beginnt der Film. Die höchst bewegliche Kamera – so agil wird sie an kaum einer zweiten Stelle - taumelt in sich versunken durch einen Wald, der Blick geht nach oben, nach unten. Ein suchender Blick, der indes nichts findet: Das Geäst bleibt nscharf, fleckenhaft. Nur hier und da tritt ein Blatt in den Schärfebereich direkt vor der Linse, als würde es ganz unwirklich erst direkt dort entstehen, und zeichnet sich konturiert vom undeutlichen Hintergrund ab. Dann, nur im vorbeigleitenden Anschnitt, ein toter Junge am Boden, Blut. Man hört Wasser plätschern, die Kamera schwebt weiter, eine weitere Leiche, ebenfalls ein Junge, dem kaum mehr Aufmerksamkeit vergönnt ist. Schließlich der Mörder, ebenfalls nur im Anschnitt, ebenfalls ein Junge. In seiner Händ hält er eine Machete. Das Bild wird grün, kein Vorspann folgt.

Alonso lässt Los Muertos fast schon hypnotisch beginnen. Er lenkt den Blick auf die Machart des Films und stellt auf das Tempo ein. Bedächtig, kontemplativ, jedoch nicht einlullend, oft genug nur minimal über dem Nullpunkt von Narration, und dennoch immer wieder überraschend, spannend, da Details in die Aufmerksamkeit rücken dürfen.

Im Mittelpunkt steht Vargas, ein bereits älterer Mann und offenbar der Mörder aus dem Prolog, der ein Gutteil seines Lebens für den Mord an seinen beiden Brüdern im Gefängnis abgesessen hat. Daran erinnere er sich kaum mehr, sagt er an einer Stelle, auf seine Tat angesprochen. Dass sich Vargas im Gefängnis befindet, ergibt sich erst nach und nach. Einen establishing shot, der die Zuschauer über Setting und Person einführend und umfassend in Kenntnis setzt, eine typische Erzählweise des kommerziellen Kinos also, findet man in Los Muertos an keiner Stelle.

Stattdessen reiht Alonso einzelne, oft sehr lange Einstellungen aneinander. Vargas im Bett, wie er geweckt wird. Später bei der Arbeit, beim nachmittäglichen Spazieren, ein Gespräch mit anderen Insassen. Eine Vielzahl von Räumen, die eine Kartografie der Örtlichkeit indes nur schwer ermöglicht und die ihren institutionellen Charakter – es könnte zunächst auch ein beengtes Dorf sein – erst nach und nach zu erkennen geben. Immer ist Vargas schon da, in diesem jeweiligen Raum, und immer verlässt er die Einstellung zu ihrem Ende hin und lässt ein unbelebtes, nachwirkendes Bild zurück. Nur selten schwenkt die Kamera ein wenig und verrät weitere Details der Umgebung.

Vargas wird entlassen, nach 30 Jahren Haft. Er lässt das Gefängnis hinter sich und damit die überschaubaren Bahnen seines Lebens. Vargas streift durch's Land. Er besucht eine Prostituierte, kauft ein Kleid für seine erwachsene Tochter, die er noch nie gesehen hat, fährt mit einem Boot auf dem Fluß entlang, erreicht eine Insel, ernährt sich von erbeutetem Honig und schlachtet fachmännisch eine Ziege. Die vollgestellte Welt der Gefängnissiedlung weicht einer existenziellen, rein auf Physis abgestellten Welt, in der nurmehr wenig an die Zivilisation erinnert. Eine Welt, die nach Vögelgezwitscher, Grillengezirpe und heißem Wind klingt; die Tonspur von Los Muertos ist über weite Strecken reinster Ambient.

Nach und nach ergibt sich eine Form von Karte: Die einzelnen Orte, die Vargas durchstreift, erscheinen zusehends verknüpft. Ist Vargas im Gefängnis immer schon da gewesen, so ergibt sich hier eine vorgefundene Welt: Einzelne Bilder sind erst da, und werden erst anschließend von ihm betreten. Eine Einstellung – die schönste des ganzen Films – zeigt ihn auf dem Gepäckladeteil eines fahrenden Transporters. Der Wagen hält, Vargas springt ab, die Kamera folgt seiner Bewegung im stoisch-langsamen Schwenk. Vargas setzt sich in Bewegung. Mit ihm fährt auch der Wagen an, auf dem sich die Kamera noch immer befindet. Beide fahren weiter, Vargas wird zum kleinen, weißen Punkt in einem stumm bleibenden Bild.

Vargas sucht seine Tochter. Schließlich findet er deren Sohn in einem ärmlichen Zelt am Rande einer Dschungelsiedlung. Eine Reise ist am Ende, mit ihr auch Alonsos kontemplative, filmisch minimalistische Meditation. Die Bilder, die er findet, sind, in dem was sie zeigen, von einzigartiger Klarheit und bleiben dennoch rätselhaft. Sie bilden keine Metaphern aus, sind weder sinnüberfrachtet, noch von ausgestellter Tiefe berauscht. Spielzeug liegt am Boden, die Toten sind tot, der Fluß fließt und Vargas, informiert der Abspann, ist Vargas.

imdb



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