Dienstag, 29. März 2005
Thema: literatur
Die junge deutsche Literatur der Gegenwart wirft gerne den Blick zurück. Wie war das "damals"? Wie war das "dort"? Und wie lässt sich über einen solchen Blick zurück Identität schaffen, im Verein mit dem Leser natürlich, der die ganze Zeit "Genau!" denken soll, wenn ihm ein anderer seine vermeintliche Vergangenheit vor die Füße rotzt. Sei es der unerträgliche Snobismus, mit dem Florian Illies eine Marken- und Geistesgeschichte des wohl ödesten Jahrzehnts - die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts - zur Revue geraten lässt, oder die allenfalls lähmende Larmoyanz, mit der Jana Hensel in "Zonenkinder" ein ähnliches Projekt für die Ostsozialisierten in Angriff nimmt: Die so genannte "Generation Berlin", wie man die aufstrebenden jungen Leute der 90er Jahre noch für alle klar erkennbar als "jung und dynamisch" apostrophieren wollte, ist schon kurz nach ihrer Maienblüte schon älter und satter als manch anderer Generationenentwurf vor ihr und trägt einen Rattenschwanz melancholischer Vergangenheitsapropos mit sich herum, dass die Forderung nach "tabula rasa" schon aus bloßen Gründen der Nächstenliebe notwendig erscheint. Allein Rocko Schamonis jüngstes Werk, "Dorfpunks", gelingt es, in die Vergangenheit zu blicken, Entwicklungslinien zu ziehen und dabei in der Tat einen kurzen Moment historischer Mentalitätsverfasstheit literarisch festhalten zu können. Es mag daran liegen, dass es bei ihm gerade nicht um ödes Quiz geht, in dem derjenige gewinnt, der die meisten mit "Ach, weißt Du noch..." beginnenden Fragen richtig zu beantworten weiß. Im Gegenteil, bei ihm geht es um eine an sich zur Geschichtslosigkeit neigenden Haltung - wer hätte unter Punkern schon Historiker mitschreiben sehen? -, die als kaum mehr bewusste Gegenbewegung in der Peripherie der Öffentlichkeit sich einen Freiraum von eben jenem Marken- und Nutellaterror verschaffte, dem Illies und Co in späteren Jahren nachweinen würden: Das Aushänge-Spießerbübchen, das von sich gerne behauptet, einer bewegungslosen Zwischengeneration anzugehören, war eben schon damals zu blöde, um stattfindende Bewegungen auf den Schirm zu kriegen.

Entsprechend distanziert nähert man sich zunächst Kolja Mensings Versuch, dem System Provinz nachzuspüren. Der Generalverdacht lautet zunächst: Eine weitere Retrosauce, voller Sentiment, Verklärung und debiler Verbrüderung mit dem Leser: "Damals, als Tante Erna noch die Spüli-Aufkleber auf den Kühlschrank pappte..." Und in der Tat gibt sich Mensing, Kulturredakteur bei der taz, zunächst alle Mühe, diese Erwartung zu bestätigen: Sein Buch beginnt mit einem Gespräch zweier Provinzflüchtlinge, die sich über ihre Heimat unterhalten; implizit läuft ein Wettbewerb ab: Wer sich als von der Provinz am meisten emanzipiert erweist, gewinnt. Es folgt die Rückfahrt in die Provinz, obligatorisch zu Weihnachten natürlich, Blick aus dem Zug-, Auto- und schließlich Schlafzimmerfenster: Willkommen zuhause, ein paar Tage lang wenigstens. Die letzten Seiten sind für die rückführende Bewegung reserviert.

Doch der erste Eindruck trügt. Hat man die etwas unglückliche fiktionalisierte Rahmung überstanden, gelingt Mensing manch kluger, kleiner Beitrag zu einer Kulturgeschichte der Provinz der letzten 25 Jahre. Seine Form ist dabei nicht die der nostalgisch ausgeschmückten Anekdote, auch geht es ihm nicht um literarisierende Überhöhung. Das Wort "Roman" findet sich auf dem Umschlag nicht. Mit gutem Grund, eher schreibt der journalistisch versierte Mensing Reportagen, Artikel, Magazinbeiträge, Versuche eben, das Spezifische des Systems Provinz - und wie es sich im Laufe der letzten 20 Jahre wandelte, anpasste und, mit den Landflüchtlingen der "Generation Berlin", die Großstädte imperialisierte -, zu packen. Die Beobachtungen, Verdichtungen und Zusammenhang konstruierende Entwürfe sind dabei klar und besonnen geschrieben, natürlich um den Leser und dessen Erfahrungsschatz buhlend, gleichzeitig aber auch immer auf eine gewisse Distanz aus, die das Detail - sagen wir: das Mülltonnenhäuschen, das der Nachbar um seine Mülltonne herum bauen ließ - noch berücksichtigt, aber auch vor größeren Zusammenhängen - eine Mediengeschichte der Provinz etwa, wie sie über Satellitenschüsseln, Autobahnzubringern und nicht zuletzt das Internet die Welt zu sich holte und einverleibte - die Augen nicht verschließt.

Die behandelten Themen und Nischen sind vielfältig. Was sagen uns die Gothics der 80er Jahre? Was die Bushäuschen als zentraler Ort jugendlichen Kulturlebens? Komasaufen im Wald, sektiererischer Buchhandel in der Stadt, ominöse Hippieläden nebenan. Ein neues Kino bringt das Kino nahe, Erlebnisparks sorgen für Ausgleich, im Unterricht wird die katastrophale Bedeutung der Umweltverschmutzung für die Lebensqualität in der Region untersucht. Glanzmomente sind sicherlich die Gedanken über Boris Becker und die Hannoverander Indieband Fury in the Slaughterhouse - beide Phänomene der Medienwelt werden als bezeichnende des Verhältnisses zwischen Provinz und Kosmopolitismus nachgezeichnet und ergeben so, neben all der Profanität, die man einem Becker-Lebenslauf ansonsten vielleicht zumessen würde, eine zweite, kulturgeschichtliche Ebene: Der Junge aus Leimen, der nach den Sternen greift, in Monaco lebt und liebt, wehmütig in die Provinz zurückblickt und ihr eigentlich so recht doch nie entkommt - der späte Becker landet bei AOL, ist "drin" im Internet; der Horizont der Provinz wurde um ein wenig Welt erweitert. Mit den Hannoveranern - wie die anderen großen Musiker aus selber Stadt: natürlich fürchterlich - verhält sich das ganz ähnlich. Beide Texte leben dabei ganz entschieden von der soliden journalistischen Kenntnis des Autors: Der begnügt sich nicht, wie manche Popliteraten, den ewig jovialen Fanziner zu spielen, sondern reichert seine Texte mit sauber recherchierten (Arte-)Fakten an; Zusammenhänge werden nicht allein subjektiv konstruiert, sondern immer wieder anhand guter Quellen - im Falle Beckers etwa zahlreiche Interviews und Artikel aus der Frühzeit seiner Karriere - untermauert.

Auch wenn nicht jeder Text die Zunge schnalzen lässt, gelingt insgesamt doch Erkenntnis statt, wie bei Illies, Verklärung. Was die Provinz ausmacht - jenseits bloßer Stadtbilddifferenz -, was sie, sozusagen, "im Innersten zusammen hält", wird in den besten Momenten sichtbar (in den nicht ganz so guten entsteht immerhin Ahnung). Die Provinz, so das etwas melancholische Fazit, ist letzten Endes in der Großstadt angekommen: Auf der Love Parade in Berlin entdeckt Mensing die Wiederkehr der funshirt-bewehrten Komaköpfe einstiger Waldhüttenparties. So abwegig ist das nicht. Eine Verbrüderung findet, trotz aller aufgeschlossener, oft beinahe schon etwas standpunktlos erscheinender Beobachtung, nicht statt: Der Titel immerhin ist eine Frage, die Flucht geht weiter.

Kolja Mensing: Wie komme ich hier raus? Aufwachsen in der Provinz. Kiepenheuer & Witsch, 2002.


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Thema: comics
20th Century Boys, ein Manga von Naoki Urasawa - eine spannende Lektüre. Es geht, über mehrere Zeitebenen hinweg, um einen Haufen von Freunden aus Kindertagen. In den späten 60ern hat man sich im geheim errichteten Lager ein Weltuntergangsszenario ersonnen, das im Spiel schließlich abgewendet wurde. Man feierte sich als Retter der Welt, vergrub Relikte in der Erde und schwor sich darüber, auf ewig der Rettung der Welt verpflichtet zu sein.

Später, im Erwachsenendasein, ist davon nicht mehr viel übrig: Man hat sich verstreut, den Kontakt teilweise verloren, geht üblichen Jobs nach, hat übliche Familien, übliche Probleme. Die Kindheitsversprechen wurden irgendwann vergessen, zahlreiche Erinnerungen sind längst verblasst. Da taucht eine Sekte auf, deren Anführer sich "Freund" nennt und binnen kurzer Zeit sozialen und politischen Einfluss gewinnt. Gleichzeitig häufen sich Anschläge mit biologischen Waffen auf dem ganzen Globus. Kenji, der sich in frühen Tagen besonders engagiert in der Erschaffung spielerischer Szenarien zeigte, dämmert es langsam, dass hier die Abenteuergeschichte seiner Kindheit sich mit mörderischer Konsequenz entfaltet. Als er dem "Freund" auf die Schliche kommt, inszeniert dieser ihn als Propheten. Merkwürdige Obdachlose, einer davon offenbar mit dem zweiten Gesicht gesegnet, bestätigt ihm prophetische Gabe. Wer ist der "Freund"? Ein Gefährte von früher, der im Dunkel des Gedächtnisses vergessen wurde? Folgt er Kenjis Masterplan zur Vernichtung der Welt? Und kann er seine früheren Gefährten davon überzeugen, dass sie noch einmal, wie in ihrer Kindheit, die Welt vor dem Übel retten müssen?

Urasawa ist ein Meister im Geschichtenerzählen. Mit viel Gespür für dramaturgische Wirkung entfaltet er auf zahlreichen Zeitebenen gleichzeitig ein Vexierspiel aus Gegenwärtigkeit, Erinnerung und der Erahnung zukünftiger Ereignisse. Stück für Stück und mit großer Behutsamkeit führt er einzelne Fäden der Geschichte zusammen und kontextualisiert Erinnerungen mit den Ereignissen der Erzählgegenwart. Im Kreise erinnert man sich neuer Details und fügt dem Mosaik neue Aspekte hinzu, die wiederum den Lauf der Dinge präfigurieren.

Dem Leser ist es dabei große Freude, sich in diese epische Erzählung hineinsaugen zu lassen. Denn das Thema ist universell: Wer hat nicht in seiner Kindheit Szenarien voller Roboter und Kataklysmen entworfen, die man im Verein mit den Freunden zum Wohlergehen der Menschheit abgwendet hätte! Und wer erinnerte sich denn noch konkret an den Ablauf dieser Abenteuer und an alle Namen zu den Gesichtern vor dem geistigen Auge? Das kindliche Staunen über solch selbstentworfene Megalomanie - an dem man selbst bei der Lektüre gerne Anteil nimmt - wandelt sich hingegen zu echtem Schrecken, wenn sich der minutiöse Plan des "Freundes" in der Geschichte zusehends - für den Zusammenhang an Freunden wie für den Leser gleichermaßen - entfaltet. Diese Spannbreite an Emotionen - von nostalgischer Kindheitserinnerung hin zum mangatypischen apokalyptischen Szenario - handhabt Urasawa dabei mit leichter Hand: Ein schönes Wechselbad der Gefühle, das in der erzählenden Strategie kindlichen Sensationalismus mit dem eher erwachsenen Stoff eines Science Ficion Plots kreuzt und sich gegenseitig bereichern lässt. Dabei kann, natürlich, auch der Kommentar zur Geschichte der Mangas selbst nicht fehlen: Natürlich lesen die kleinen Jungs im Flora-Verhau vor den Häusern der Stadt die florierenden Jungsmangas der 60er Jahre (die natürlich auch zur Inspiration des apokalyptischen Szenarios dienten).

Gleichzeitig weiß Urasawa sein primäres Handwerkszeug mit sicherer Hand zu führen: Die Zeichnungen sind detailliert, oft panoramahaft, wo es Not tut, dann wieder gestrafft und dynamisiert, wenn der Ablauf es gebietet. Die im Manga (im Gegensatz zu westlichen Comics) traditionell kleineren Infobits per Panel dynamisieren das Geschehen auf beinahe schon filmische Weise. Wo im Manga die Figuren analog zur Zeichenweise oft dazu neigen, abstrakt und "leer" zu wirken, besetzt Urasawa sie mit Biografie und emotionaler Tiefe. Jede einzelne wirkt - mit allen Marotten und liebenswerten Seiten - menschlich adäquat. Liebenswerte Figuren jedenfalls allenthalben. Und selbst noch die zahlreichen Nebenfiguren, die oft nur für wenige Seiten auftauchen, sind rein zeichnerisch echte Typen, richtige Figuren mit Differenzqualität und dem Anschein biografischer und emotionaler Tiefe. Ähnliches gilt für die detaillierten Milieuschilderungen, die vom schrulligen Kleinhandel der Gegenwart über noir-esque Seitenstraßen in Großstädten bis hin zu sonnendurchfluteten Erinnerungsbildern aus Kindheitstagen reichen.

Eine epische, detaillert und konzentriert konzipierte Geschichte, die allen Charme der japanischen Populärkultur aufweist - vom Nostalgiefilm, über die groteske Komödie bis hin zu Action und Gigantomanie - und den Leser im besten Sinne mit sich zu verbrüdern sucht. Dazu lässt dieser sich gerne ein und kann nicht anders, als immer wieder händeringend nach dem nächsten Band zu lechzen.

Naoki Urasawa: 20th Century Boys. Deutsch bei Planet Manga, Panini Comics. Bislang 10 Bände à ca. 210 Seiten.


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Eigentlich ist der Boxhagener Platz im Südkiez noch gesperrt. Im Winter wurde der Rasen "gewechselt", eine kleine Sandfläche eingebaut, der Rasen selbst umzäunt, um das Gelände offenbar hundefrei zu halten (was ich irgendwie auch ganz okay finde, ehrlich gesagt - Hundescheiße am Hosenboden ist wenig freudespendend). Wie gesagt: Eigentlich ist das Gelände noch gesperrt: Bauzäune verriegeln das Gelände an den drei Zugängen.

Ist aber dennoch voll egal. Gestern, an dem Tag, den ich nun auch offiziell als Frühlingsbeginn in Berlin charaktersieren würde (weil sich erstmals dieses Gefühl einstellte, dass nicht nur endlich gutes Wetter ist, sondern dass das schlechte, diesige des ausgehenden Winters nun auch endlich überwunden ist ), war der Boxhagener Platz so voll wie selten. Der frische Rasen wurde bevölkert von allen möglichen Gestalten. Mancher war in ein Buch versunken, andere lasen sich gegenseitig aus "Erinnerungen an Kafka" vor, hie und da trank man Bier, andere saßen etwas abseits vom Schuß und zogen an außergewöhnlich geformten Zigaretten... Der Bauzaun wurde kurzerhand ignoriert - schließlich kann man ihn leichtester Hand "umklettern". Wie überhaupt dann diese Abriegelung komplett sinnlos ist, die Hilflosigkeit, die daraus spricht, vor allem aber der selige Glaube, dass so ein bisschen Autorität schon Wirkung zeitigen würde. Die Menschen hinter den Bauzäunen, die es sich in der Sonne gut gingen ließen und den Tag zelebrierten, jeder auf seine Weise, ohne dem anderen in die Quere zu kommen. Dieses Bild der Menschen auf dem Rasen hinter dem Bauzaun, dieses Unbekümmerte, das ist es, was ich an diesem Viertel so unheimlich liebe.


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