Thema: Filmtagebuch
14.11.2004, Kino Arsenal
Mit Fug und Recht meine ich behaupten zu können, dass man diesen Film, heutzutage, zweimal zum ersten Mal sieht. Zunächst natürlich auf dem Fernsehgerät. Schön und gut, doch ist das Dispositiv des Heimkinos kaum in der Lage, diesem Film gerecht zu werden. Dann nämlich, wenn man etwas Glück und ein engagiertes Kino in der Nähe hat, wenn man also diesen - Achtung, Doppelsinn! - Kinofilm in seiner angestammten Gegend sichten kann, dann erst sieht man ihn wirklich zum ersten Mal, der eigentlich ersten ganz zum Trotz.
Die Kamera nimmt einen bei der Hand, von Sekunde 1 an, zeigt in der Tat alles, führt einen durch diese Hinterhofwelt. Und in atemberaubend kurzer Zeit ist man mittendrin, in diesem Film, in diesem wunderschönen, detaillierten, kontingenten Technicolor-Mikrokosmos, dessen künstliche Studio-Stadthintergrund-Kulisse zum hermetisch-konzentrierten Eindruck entschieden beiträgt (einen Moment lang der Gedanke, diese Zeitschriften im Hintergrund, die Bücher in den Regalen mal mit Muße durchblättern zu wollen, und der Brandy hierfür steht ja auch stets bereit - überhaupt was in dem Film gesoffen wird!). Verblüffend ist, wie dieser Film, zumal im Kino, in den Bann zieht und einen wirklich erst wieder entlässt, wenn das letzte Bild auf der Leinwand abdunkelt.
Ein ungemein sinnliches Erleben. Der Moment etwa, als sich Grace Kelly - zunächst ihr Schatten, dann der Schnitt auf ihr Gesicht - dem vor sich hin dämmernden James Stewart erstmals nähert. Der Kuss in Zeitlupe, das perfekte Einfangen jenes Zustands zwischen Dösen und Erwachen. Gänsehaut. Oder die Tänzerin gegenüber. Wie Hitchcock genau weiß, was er machen muss. Ein heruntergefallener BH - gibt's hier gleich was zu sehen? -, der gleich wieder übergestreift wird - außer einem nackten Rücken nichts gewesen! Schon hier, in der ersten Minute, hat er den Zuschauer an der Angel. Wie die Kleidung der Tänzerin auf den Millimeter genau abgepasst wurde, obwohl man sie ja doch aus ziemlicher Entfernung filmte, und zwar so, dass jeder Beinwurf ein Versprechen zu geben scheint (schon deshalb, wegen dieser, mit Verlaub, zwar textilbelegten, aufblitzenden Details aus der Schoßgegend macht die Kinosichtung Sinn - das Fernsehgerät schluckt kleine Falten und beraubt sie ihrer suggestiven Kraft, soviel ist sicher).
Es gibt Momente, da verlässt der Film die ungefähre Perspektive aus dem Apartement des Fotografen. Plötzlich sind wir dicht an den Personen dran. Der Hof, der an sich Distanz aufbaut, ist plötzlich direkte Umgebung. Harte Blickwinkel nach oben, Durchmessung des neutralen Gebiets aus seinem Inneren heraus. Vorstöße. Genauer zu beobachten wäre beim nächsten Mal, was es mit diesen Sprüngen auf sich hat, an welchen Positionen der Erzählung sie auftauchen, zu welchem Zweck genau. Die Kammern des Arsenals wären mir für eine solche Beobachtung der liebste Ort - schon jetzt das ungeduldige Warten auf die nächste Vorführung dieses Films.
web: imdb | mrqe | hitchcock im tv
filmtagebuch: alfred hitchcock | james stewart | grace kelly
Mit Fug und Recht meine ich behaupten zu können, dass man diesen Film, heutzutage, zweimal zum ersten Mal sieht. Zunächst natürlich auf dem Fernsehgerät. Schön und gut, doch ist das Dispositiv des Heimkinos kaum in der Lage, diesem Film gerecht zu werden. Dann nämlich, wenn man etwas Glück und ein engagiertes Kino in der Nähe hat, wenn man also diesen - Achtung, Doppelsinn! - Kinofilm in seiner angestammten Gegend sichten kann, dann erst sieht man ihn wirklich zum ersten Mal, der eigentlich ersten ganz zum Trotz.
Die Kamera nimmt einen bei der Hand, von Sekunde 1 an, zeigt in der Tat alles, führt einen durch diese Hinterhofwelt. Und in atemberaubend kurzer Zeit ist man mittendrin, in diesem Film, in diesem wunderschönen, detaillierten, kontingenten Technicolor-Mikrokosmos, dessen künstliche Studio-Stadthintergrund-Kulisse zum hermetisch-konzentrierten Eindruck entschieden beiträgt (einen Moment lang der Gedanke, diese Zeitschriften im Hintergrund, die Bücher in den Regalen mal mit Muße durchblättern zu wollen, und der Brandy hierfür steht ja auch stets bereit - überhaupt was in dem Film gesoffen wird!). Verblüffend ist, wie dieser Film, zumal im Kino, in den Bann zieht und einen wirklich erst wieder entlässt, wenn das letzte Bild auf der Leinwand abdunkelt.
Ein ungemein sinnliches Erleben. Der Moment etwa, als sich Grace Kelly - zunächst ihr Schatten, dann der Schnitt auf ihr Gesicht - dem vor sich hin dämmernden James Stewart erstmals nähert. Der Kuss in Zeitlupe, das perfekte Einfangen jenes Zustands zwischen Dösen und Erwachen. Gänsehaut. Oder die Tänzerin gegenüber. Wie Hitchcock genau weiß, was er machen muss. Ein heruntergefallener BH - gibt's hier gleich was zu sehen? -, der gleich wieder übergestreift wird - außer einem nackten Rücken nichts gewesen! Schon hier, in der ersten Minute, hat er den Zuschauer an der Angel. Wie die Kleidung der Tänzerin auf den Millimeter genau abgepasst wurde, obwohl man sie ja doch aus ziemlicher Entfernung filmte, und zwar so, dass jeder Beinwurf ein Versprechen zu geben scheint (schon deshalb, wegen dieser, mit Verlaub, zwar textilbelegten, aufblitzenden Details aus der Schoßgegend macht die Kinosichtung Sinn - das Fernsehgerät schluckt kleine Falten und beraubt sie ihrer suggestiven Kraft, soviel ist sicher).
Es gibt Momente, da verlässt der Film die ungefähre Perspektive aus dem Apartement des Fotografen. Plötzlich sind wir dicht an den Personen dran. Der Hof, der an sich Distanz aufbaut, ist plötzlich direkte Umgebung. Harte Blickwinkel nach oben, Durchmessung des neutralen Gebiets aus seinem Inneren heraus. Vorstöße. Genauer zu beobachten wäre beim nächsten Mal, was es mit diesen Sprüngen auf sich hat, an welchen Positionen der Erzählung sie auftauchen, zu welchem Zweck genau. Die Kammern des Arsenals wären mir für eine solche Beobachtung der liebste Ort - schon jetzt das ungeduldige Warten auf die nächste Vorführung dieses Films.
web: imdb | mrqe | hitchcock im tv
filmtagebuch: alfred hitchcock | james stewart | grace kelly
° ° °
kommentare dazu:
christian123,
Mittwoch, 17. November 2004, 12:51
Besitzt du David Bordwells "Narration in the Fiction Film", London/New York 1988? Das Kapitel "The Viewer's Activity" (das nämlich ist der eine von zwei Texten, wozu dieses Referat mit dem Neoformalismus und dem Kognitivismus ansteht ;-) ) enthält gegen Ende eine Analyse der Erzählstrategien des Films, um die vorher von Bordwell im Text dargelegten Thesen anschaulich zu machen, einigermaßen lesenswert.
Bleibt mir noch zu ergänzen: wieviel in dem Film, obwohl in ihm nicht gerade wenig gesprochen wird, doch über der Darsteller Mimik und ihre Blicke hierhin und dorthin kommuniziert wird, da finden die eigentlichen Gespräche über den tatsächlich gehörten meist stumm statt. Oh, und dass Raymond Burr mitspielt, den ich noch aus früheren Fernsehzeiten als rollstuhlfahrenden reaktionären "Ironside" / "Der Chef" in Erinnerung habe, begeistert mich immer wieder; Hitchcock soll ihn ja so umgemodelt haben, dass er aussehe wie David O. Selznick, mit dem er auch noch die eine oder andere Rechnung offen hatte.
Hitchcock gewinnt wirklich eine neue Frische im Kino. *vorfreudigDieHändeReib* Da kann man dank der Berliner Kinolandschaft in den nächsten Jahren gewiss noch einiges Andere von ihm neu entdecken und es wird so, als entdecke man einen neuen Filmemacher.
Bleibt mir noch zu ergänzen: wieviel in dem Film, obwohl in ihm nicht gerade wenig gesprochen wird, doch über der Darsteller Mimik und ihre Blicke hierhin und dorthin kommuniziert wird, da finden die eigentlichen Gespräche über den tatsächlich gehörten meist stumm statt. Oh, und dass Raymond Burr mitspielt, den ich noch aus früheren Fernsehzeiten als rollstuhlfahrenden reaktionären "Ironside" / "Der Chef" in Erinnerung habe, begeistert mich immer wieder; Hitchcock soll ihn ja so umgemodelt haben, dass er aussehe wie David O. Selznick, mit dem er auch noch die eine oder andere Rechnung offen hatte.
Hitchcock gewinnt wirklich eine neue Frische im Kino. *vorfreudigDieHändeReib* Da kann man dank der Berliner Kinolandschaft in den nächsten Jahren gewiss noch einiges Andere von ihm neu entdecken und es wird so, als entdecke man einen neuen Filmemacher.
thgroh,
Mittwoch, 17. November 2004, 13:12
Das Buch habe ich gerade aus der Bibliothek hier, allerdings natürlich noch keine Seite gelesen. Wann auch? Aber danke für den Hinweis, werde ich nachher mal mit etwas Muße lesen.
Das mit dem wenig Sprechen sehe ich ganz genauso. Hitchcock ist ja der Meister des visuellen Erzählens und hatte gerade auch deshalb ja bei den französischen Freunden Saison in Permanenz. Die ersten Minuten sind dafür beispielhaft: Alles ist durch diese Kameraarbeit gesagt, ohne dass auch nur ein Wort Dialog nötig gewesen wäre. Und überhaupt die "stummen" Szenen durch Objektive und Ferngläser (die ja oft genug die Iris des Stummfilms simulieren) in die Häuser gegenüber: Wie dort dann das ganze Geschehen sich in Form von Gesten vermittelt, nur vom Audiokolorit der Großstadt (da dachte ich kurz an Fritz Langs M, der die Soundkulisse ähnlich organisiert) unterlegt (und somit schon wieder eigentlich kein Stummfilm ist, denn der Ton ist wichtig, wir sind in der Stadt, der Metropole, nur hier sind solche konzentrierten Beobachtungen möglich).
Interessant auch, dass fast alle Nachbarn irgendwie Kreative sind. Die Bildhauerin, die Tänzerin, der Komponist, der Fotograf, und Miss Lonely Heart ist an einer Stelle gewissermaßen Schauspielerin.
Und dann natürlich, wie hier unterschiedlichste Lebens(beziehungs)entwürfe diskutiert werden: Wir haben die junge Frau, die sich umgarnen lässt, das junge Ehepaar, das sich zu lange umgarnt hat und nun in der Falle hinter verschlossenen Gardinen sitzt, wir haben den Junggesellen, der berauschende Gesellschaften gibt, die Jungfer, die nie einen abbekommen hat und darüber verzweifelt, das in Harmonie alt gewordene, drollige Ehepärchen mit Hund und Matratze unter freiem Himmel, dann die rüstig gebliebene alte Dame, die einen Ehemann nie benötigt hat, und das Ehepaar natürlich, das nie hätte heiraten dürfen. Und die Beobachtenden stehen gerade auf der Schwelle ihrer Biografie: Man könnte meinen, dass sie in mögliche Szenarien ihrer eigenen Zukunft blicken.
Hitchcock im Kino entdecken: Ich bin dabei!
Das mit dem wenig Sprechen sehe ich ganz genauso. Hitchcock ist ja der Meister des visuellen Erzählens und hatte gerade auch deshalb ja bei den französischen Freunden Saison in Permanenz. Die ersten Minuten sind dafür beispielhaft: Alles ist durch diese Kameraarbeit gesagt, ohne dass auch nur ein Wort Dialog nötig gewesen wäre. Und überhaupt die "stummen" Szenen durch Objektive und Ferngläser (die ja oft genug die Iris des Stummfilms simulieren) in die Häuser gegenüber: Wie dort dann das ganze Geschehen sich in Form von Gesten vermittelt, nur vom Audiokolorit der Großstadt (da dachte ich kurz an Fritz Langs M, der die Soundkulisse ähnlich organisiert) unterlegt (und somit schon wieder eigentlich kein Stummfilm ist, denn der Ton ist wichtig, wir sind in der Stadt, der Metropole, nur hier sind solche konzentrierten Beobachtungen möglich).
Interessant auch, dass fast alle Nachbarn irgendwie Kreative sind. Die Bildhauerin, die Tänzerin, der Komponist, der Fotograf, und Miss Lonely Heart ist an einer Stelle gewissermaßen Schauspielerin.
Und dann natürlich, wie hier unterschiedlichste Lebens(beziehungs)entwürfe diskutiert werden: Wir haben die junge Frau, die sich umgarnen lässt, das junge Ehepaar, das sich zu lange umgarnt hat und nun in der Falle hinter verschlossenen Gardinen sitzt, wir haben den Junggesellen, der berauschende Gesellschaften gibt, die Jungfer, die nie einen abbekommen hat und darüber verzweifelt, das in Harmonie alt gewordene, drollige Ehepärchen mit Hund und Matratze unter freiem Himmel, dann die rüstig gebliebene alte Dame, die einen Ehemann nie benötigt hat, und das Ehepaar natürlich, das nie hätte heiraten dürfen. Und die Beobachtenden stehen gerade auf der Schwelle ihrer Biografie: Man könnte meinen, dass sie in mögliche Szenarien ihrer eigenen Zukunft blicken.
Hitchcock im Kino entdecken: Ich bin dabei!
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