Thema: Filmtagebuch
18.11.2004, Kino Arsenal
Ulrich Gregor begrüßt die Anwesenden im Saal. Man merkt ihm deutlich an, wie wichtig ihm das ist. Diese kurze Ansprache, wie überhaupt der gleich gezeigte Film. Ob man denn Griffith nicht zuviel Raum in der filmhistorischen Jahresreihe gewähre, auf dieser rethorischen Frage hebt er ab und argumentiert: Natürlich kann man auf die Kurzfilme nicht verzichten, die gehören dazu, das sind wundervolle Artefakte. Und Intolerance, der sei ja sein Meisterwerk, muss also. Birth of a Nation, ideologisch fragwürdig sicher, aber auf dieses große Epos mag man allein der Filmsprache halber schon nicht verzichten wollen. Und Broken Blossoms, der gleich zu sehen wird, der sei nun Griffiths schönster und poetischer Film. Was will man also tun, als Programmator? Eine Zwickmühle, die man mit Lust nicht auflöst, sondern sich ihr fügt: Zeigen wir eben alle. 4 Griffithabende von 365, in denen die Filmgeschichte erneut zum Leben erweckt werden soll: Das ist knapp mehr als 1 Prozent aller Termine (erfahrungsgemäß kommt die Reihe meist ohnehin nicht ans Ziel), ein stolzer Raum, der da gewährt wird also. Bedauern darüber seitens Gregor? Wie man sieht: keineswegs. Es ist ihm eine Freude. Ich bin gespannt, was da nun kommt.
Die Pianistin hebt mit den Bildern einer längst vergangenen Epoche an, lässt mich ins Geschehen hineingleiten. Ihre Improvisationen und Miniaturen sind wundervoll: Sie unterstützen das Bild, dehnen den Zeitfluß, wo es Not tut, durch erdrückende Stille (die Peitsche!) und verleihen dem stummen Film eine Leichtigkeit, die denen jener Tage oft abhanden gekommen scheint. Und dabei rückt sich die Musik nie in den Vordergrund, bleibt immer eins hinter dem Bild, dem die eigentliche Aufmerksamkeit gebührt. Mit einem Wort: Schön.
Der Film selbst ist vielleicht die Geburtsstunde des Melodrams wie wir es heute kennen. Er hat eine Leichtigkeit, eine Schönheit, aber auch eine tiefe Melancholie, die bis heute auf der Klaviatur der Gefühle mit leichter Hand zu spielen weiß. Es sind Bilder zu entdecken, die sich umgehend einbrennen, die man behalten möchte und wie einen Schatz nach der Vorführung mit nach Hause trägt. Der Hafen in China etwa, mit dem der Film beginnt und endet. Die Glocke im Tempel, wie auf sie geschlagen wird. Der "Gelbe Mann", wie er sich in London an die Wand drückt, darin gescheitert, die Lehre des Friedens in die westliche Welt zu tragen. Natürlich das Mädchen, das unter dem Vater, der verkörperten Rohheit dieser Tage, leidet. Deren Trauer und natürlich die tiefe Verzweiflung, die aus den zunächst witzig anmutenden Versuchen spricht, ein ungelenkes Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Wie sie am Ende, mit diesem kläglichen Lächeln, das zeit ihres Lebens kein wirkliches war, aus dem Leben scheidet. Der Tand, der überall zu bewundern ist. Die Reihe könnte beliebig fortgesetzt werden.
Beeindruckend, wie das frühe Kino emotional zu manipulieren wusste. Innerlich kämpfte ich beim Anblick dieser geisterhaften Bilder mit, wollte einschreiten, Leben retten. Man ist sich dessen bewusst, dass man hier einer List ergeht, der List der Filmsemantik, des behaupteten Gefühls: Ein lustvolles Sich-Ergeben. Ein schöner, glänzender Film. Auf ihn zu verzichten wäre in der Tat nicht zu verzeihen.
imdb | mrqe
filmtagebuch: magical history tour | griffith
Ulrich Gregor begrüßt die Anwesenden im Saal. Man merkt ihm deutlich an, wie wichtig ihm das ist. Diese kurze Ansprache, wie überhaupt der gleich gezeigte Film. Ob man denn Griffith nicht zuviel Raum in der filmhistorischen Jahresreihe gewähre, auf dieser rethorischen Frage hebt er ab und argumentiert: Natürlich kann man auf die Kurzfilme nicht verzichten, die gehören dazu, das sind wundervolle Artefakte. Und Intolerance, der sei ja sein Meisterwerk, muss also. Birth of a Nation, ideologisch fragwürdig sicher, aber auf dieses große Epos mag man allein der Filmsprache halber schon nicht verzichten wollen. Und Broken Blossoms, der gleich zu sehen wird, der sei nun Griffiths schönster und poetischer Film. Was will man also tun, als Programmator? Eine Zwickmühle, die man mit Lust nicht auflöst, sondern sich ihr fügt: Zeigen wir eben alle. 4 Griffithabende von 365, in denen die Filmgeschichte erneut zum Leben erweckt werden soll: Das ist knapp mehr als 1 Prozent aller Termine (erfahrungsgemäß kommt die Reihe meist ohnehin nicht ans Ziel), ein stolzer Raum, der da gewährt wird also. Bedauern darüber seitens Gregor? Wie man sieht: keineswegs. Es ist ihm eine Freude. Ich bin gespannt, was da nun kommt.
Die Pianistin hebt mit den Bildern einer längst vergangenen Epoche an, lässt mich ins Geschehen hineingleiten. Ihre Improvisationen und Miniaturen sind wundervoll: Sie unterstützen das Bild, dehnen den Zeitfluß, wo es Not tut, durch erdrückende Stille (die Peitsche!) und verleihen dem stummen Film eine Leichtigkeit, die denen jener Tage oft abhanden gekommen scheint. Und dabei rückt sich die Musik nie in den Vordergrund, bleibt immer eins hinter dem Bild, dem die eigentliche Aufmerksamkeit gebührt. Mit einem Wort: Schön.
Der Film selbst ist vielleicht die Geburtsstunde des Melodrams wie wir es heute kennen. Er hat eine Leichtigkeit, eine Schönheit, aber auch eine tiefe Melancholie, die bis heute auf der Klaviatur der Gefühle mit leichter Hand zu spielen weiß. Es sind Bilder zu entdecken, die sich umgehend einbrennen, die man behalten möchte und wie einen Schatz nach der Vorführung mit nach Hause trägt. Der Hafen in China etwa, mit dem der Film beginnt und endet. Die Glocke im Tempel, wie auf sie geschlagen wird. Der "Gelbe Mann", wie er sich in London an die Wand drückt, darin gescheitert, die Lehre des Friedens in die westliche Welt zu tragen. Natürlich das Mädchen, das unter dem Vater, der verkörperten Rohheit dieser Tage, leidet. Deren Trauer und natürlich die tiefe Verzweiflung, die aus den zunächst witzig anmutenden Versuchen spricht, ein ungelenkes Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Wie sie am Ende, mit diesem kläglichen Lächeln, das zeit ihres Lebens kein wirkliches war, aus dem Leben scheidet. Der Tand, der überall zu bewundern ist. Die Reihe könnte beliebig fortgesetzt werden.
Beeindruckend, wie das frühe Kino emotional zu manipulieren wusste. Innerlich kämpfte ich beim Anblick dieser geisterhaften Bilder mit, wollte einschreiten, Leben retten. Man ist sich dessen bewusst, dass man hier einer List ergeht, der List der Filmsemantik, des behaupteten Gefühls: Ein lustvolles Sich-Ergeben. Ein schöner, glänzender Film. Auf ihn zu verzichten wäre in der Tat nicht zu verzeihen.
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° ° °
kommentare dazu:
christian123,
Sonntag, 21. November 2004, 16:20
Griffith
Griffith ist einfach ein Wunder für sich. Wie der Mann es geschafft hat, und das zeigte sich auch an den Kurzfilmen vom Dienstag so schön (die Sprünge von 1908 zu 1911 zu 1913), innerhalb weniger Jahre derart ausgefeilte Formen filmischen Erzählens zu entwickeln, um damit vollständig die narrativen Grundlagen des Hollywoodkinos festzulegen ...
"Broken Blossoms" von 1919 natürlich, aber auch schon "The Birth of a Nation" von 1915, sind erstaunlich nah an heutigen Sehgewohnheiten. Das Hineinführen in ein in sich abgeschlossenes filmisches Universum mit seinen Figuren und seiner Story hat bei Griffith bereits einen Höhepunkt erreicht. Unvorstellbar nach Anschauung dieser jenes Ziel perfekt erreichenden Filme, dass ein Jahrzehnt zuvor das Kino nur ein höchstens fünfzehnminütiger Programmpunkt zwischen Varieté-Nummern war und weit davon entfernt, den Zuschauer glaubwürdig in eine innerfilmische Realität zu entführen.
Griffiths Filmsprache wirkt auch heute noch ungewöhnlich 'modern' (dabei ist sie ein Jahrhundert alt), eben weil sie sich derart zum Fundament der Hollywood-Filmsprache entwickelte, die bis heute fortwirkt und die meisten Filmkulturen der übrigen Welt nach wie vor auf sich eingeschworen hat.
Deshalb ist auch heute noch ein Film wie "The Birth of a Nation" oder "Broken Blossoms" mindestens so mitreißend wie ein aktueller Hollywood-Blockbuster oder ein aktuelles Hollywood-Melodram (wenn nicht vielleicht sogar noch mitreißender, denn letztere sind zwar nach den selben Formeln aufgebaut wie erstere, allerdings in viel geringerem Bewusstsein der Arbeitsweise dieser Formeln (und wirken gerade erst dadurch auf so unangenehme Weise formelhaft); denn einer wie Griffith wusste ja auch viel besser, warum und wie diese Formeln derart funktionieren, wie sie es tun, da er sie selbst nach eigenen Erfahrungen und Überlegungen aufstellte).
"Broken Blossoms" von 1919 natürlich, aber auch schon "The Birth of a Nation" von 1915, sind erstaunlich nah an heutigen Sehgewohnheiten. Das Hineinführen in ein in sich abgeschlossenes filmisches Universum mit seinen Figuren und seiner Story hat bei Griffith bereits einen Höhepunkt erreicht. Unvorstellbar nach Anschauung dieser jenes Ziel perfekt erreichenden Filme, dass ein Jahrzehnt zuvor das Kino nur ein höchstens fünfzehnminütiger Programmpunkt zwischen Varieté-Nummern war und weit davon entfernt, den Zuschauer glaubwürdig in eine innerfilmische Realität zu entführen.
Griffiths Filmsprache wirkt auch heute noch ungewöhnlich 'modern' (dabei ist sie ein Jahrhundert alt), eben weil sie sich derart zum Fundament der Hollywood-Filmsprache entwickelte, die bis heute fortwirkt und die meisten Filmkulturen der übrigen Welt nach wie vor auf sich eingeschworen hat.
Deshalb ist auch heute noch ein Film wie "The Birth of a Nation" oder "Broken Blossoms" mindestens so mitreißend wie ein aktueller Hollywood-Blockbuster oder ein aktuelles Hollywood-Melodram (wenn nicht vielleicht sogar noch mitreißender, denn letztere sind zwar nach den selben Formeln aufgebaut wie erstere, allerdings in viel geringerem Bewusstsein der Arbeitsweise dieser Formeln (und wirken gerade erst dadurch auf so unangenehme Weise formelhaft); denn einer wie Griffith wusste ja auch viel besser, warum und wie diese Formeln derart funktionieren, wie sie es tun, da er sie selbst nach eigenen Erfahrungen und Überlegungen aufstellte).
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