(zuerst erschienen in Sissy - Magazin für den nicht-heterosexuellen Film)

Ein Dorf in Brandenburg. Öde Wohnhäuser aus grauem Beton mit Vorgarten, keine Gehsteige. Ein Fußballverein, herumlungernde Mofa-Jugendliche, ringsum viel Wald. Tristes Idyll, in dem eine eindeutige Sprache herrscht: „Wir sind hier doch nicht bei der Tuntenparade“, bellt es aus dem ruppigen Fußballtrainer Horvath (Uwe Preuss) heraus. Hier leben? Nein, danke.

Jakob (Michel Diercks) ist sichtlich abseits dieser umzäunten Gemeinschaft. Als junger Polizist steht er zwar symbolisch ein für die phallokratische Macht von Recht und Ordnung. Doch im Detail ist das Bild unstimmig: Schon das Gesicht ist zu sanft gezeichnet, um zumindest das Filmklischee vom deutschen Bullen zu erfüllen. Sein Blick ist melancholisch, seine Antworten zögerlich.

Ein „echter“, ein „ganzer“ Kerl ist er also gerade nicht. Zwar kommt er von hier, doch das hat nichts zu bedeuten: Als Autorität ist er faktisch nicht anerkannt, eher schon wird er skeptisch beäugt, unter spitzen Bemerkungen höchstens geduldet. Das mag damit zusammenhängen, dass dörfliche Gemeinschaften den öffentlichen Strukturen ohnehin meist nur zum Schein folgen, während man triftige Angelegenheiten für gewöhnlich unter sich ausmacht. Vielleicht aber auch damit, dass Jakob offenbar noch nie zu den Alpha-Männchen dieses Dorfrudels gezählt hat: „Jakob hat seine Pistole noch niemals abgefeuert“, wird einmal geunkt.

Stattdessen kümmert er sich fürsorglich um einen nachts in den Wäldern heulenden Wolf, den die Bevölkerung gerne aus der Welt geschafft sähe: Bonding unter Missverstandenen. Nicht zuletzt ein erster Hinweis darauf, dass es in „Der Samurai“ auch um eine verdrängte Form des Begehrens geht, und einen Brückenschlag zur Bilderwelt des Märchens, in dessen tieferen Schichten der Wolf meist ambivalent, mit deutlicher Angstlust besetzt, figuriert.

So wie der Wolf jüngst nach Brandenburg zurückgekehrt ist, so kehrt mit Till Kleinerts an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) entstandener Abschlussarbeit „Der Samurai“ auch der fantastisch-exzessive Film ins hiesige Kino zurück: vorsichtig zwar, ein wenig zögerlich, doch schließlich umso selbstbewusster. Die repressive Atmosphäre entlegener Dörfer zeichnet Kleinert binnen weniger Minuten mit kräftigen, prägnanten Strichen, Martin Hansl­mayrs Kamera fängt die Tristesse gut ein. Das im deutschen Kino so präsente Sozialdrama schneidet „Der Samurai“ zwar kurz an, um sich dann aber rasch für Motivik und Mittel des drastischeren Genre­kinos zu entscheiden. Und das zum Glück sehr selbstverständlich, sehr selbstbewusst, ganz ohne das auftrumpfende, elend nervende Pathos, mit dem andere Werbetrommelrührer in eigener Sache verkrampft den „Neuen Deutschen Genrefilm“ ausrufen.

Spätestens wenn sich die Nacht mit ihren Gefahren und Verlockungen, ihren poetischen Uneindeutigkeiten und Verzauberungen über dieses Nest legt, entrückt sich dieser im Schein der spärlichen Straßenbeleuchtung eigentümlich zu glühen beginnende Film in Richtung Märchen- und Horrorwelt, aus der auch der mysteriöse Samurai entsprungen scheint, der Jakob erst in ein verfallendes Hexenhaus lockt, um ihn dann in ein so brutales wie lüsternes Katz- und Maus-Spiel zu verstricken.



Eine durch und durch queere Gestalt: Hühnenhaft, viril, körperlich agil, mit blutrot geschminktem Mund, gekleidet in ein weißes Kleid – eine verlockende, tödliche Braut aus nichts als nervös überbordender Männlichkeit. Ein Symbol für den Rausch eines entfesselten Begehrens jenseits heteronormativer Strukturen: Phallisch und weiblich, anziehend und bedrohlich zugleich, insbesondere, wenn er seine scharfe Klinge schwingt und Köpfe von Rümpfen schlägt, um das in den Leibern gefangene Begehren wie ekstatisches Feuerwerk im Blutregen freizusetzen: Als ob man Champagnerflaschen köpfen würde, ein ejakulatorisches Spektakel inmitten der dunklen Provinznacht, wo solche Befreiungsschläge dringend not tun, auch wenn fürs Erste nur die aufgeräumten Vorgärten dran glauben müssen. Hinter den geschlossenen Jalousien zittert das Kleinbürgertum bald ängstlich, während allein Jakob sich auf den blutigen Tanz mit dem Samurai einlässt – nur um schließlich sein eigenes, hinter der Fassade des Ordnung wahrenden Polizisten verdrängtes Begehren zu entdecken und freizusetzen. Dass nun ausgerechnet Jakob zu Beginn der Hatz noch ein „Hör mit dem Versteckspiel auf und zeig Dich“ in den Wald, diesen Sehnsuchtsort unbefriedigten Begehrens, hineinruft, ist bewusst gesetzte Ironie, ein verdeckter Aufruf vielleicht auch an alle, die selber in der Provinz sitzen, allein gelassen mit ihrer sexuellen Lust abseits dessen, was heterosexuelle Männer als sanktionsfrei gekennzeichnet haben.

Eine Allegorie auf abweichendes sexuelles Begehren also, oder auch auf die Furcht, die man davor empfinden mag, wenn es sich regt und einen verwirrt. Ohne weiteres hätte man aus dem Stoff einen sehr verständnisvollen, pädagogisch wertvollen, nach allen Richtungen ausgewogenen und – jaja, gewiss – natürlich auch gesellschaftskritischen Fernsehfilm fürs Abendprogramm drehen können, sozialdemokratische Sorgenfalte inklusive. Und hätte mit einem solch braven Vorgehen nach Regelbuch ästhetisch und motivisch jenen betulichen Behaglichkeitswünschen des gesellschaftlichen Konsens zugearbeitet, die es ganz besonders zu unterwandern und zu brüskieren gilt. Zum Glück hat Till Kleinert die relative Freiheit, die ein Abschlussfilm noch bietet, zu nutzen gewusst und – eine kühne, tapfere, eines queeren Kino-Samurais sehr würdige Entscheidung – gerade kein Empfehlungsschreiben in Richtung Fernsehspiel gedreht, sondern einen schön ekstatischen, die Lust am Exzess immer wieder zelebrierenden Genrefilm, der dadurch, dass er sich nicht verzweifelt den US-Vorgaben andient, sondern seinen Stoff hier, in der sozialen Wirklichkeit Brandenburgs, ansiedelt, zu punkten versteht.

Wenn die Köpfe erst mal rollen, wird das saubere, aufgeräumte, theaterdeutsche Kino hier schön mit Kunstblut eingeschmiert, wie man das sonst nur von den bizarren Sudeleien eines Takashi Miike her kennt. Wie sich der Film dabei nach und nach enthemmt, also ganz buchstäblich ein Coming-Out zelebriert, das ist – trotz kleinerer Unebenheiten, die aber leicht verzeihlich sind – schon ziemlich toll. Im Grunde ist das schon gar kein Freiheitsdrang mehr, der hier aus den Bildern spricht, sondern ein selbstbewusst insistierendes Pochen darauf, dass solche Stoffe, solche Bilder, eine solche Ästhetik auch hierzulande möglich sein müssen – bis hin zu einem tapferen, jedes FSK-Gremium in Wallung bringenden Bild, in dem ein halberigierter Schwanz in Großaufnahme von der Leinwand auf sein Publikum herab blickt; Das offensichtlichste Indiz für männliches Begehren – gleich in welche Richtung auch immer – gilt in den bürgerlichen Prüfstuben immer noch als Maßstab, um zwischen sauberem Kino und akuter Jugendgefährdung zu unterscheiden, auch wenn nahezu jeder 16-jährige in seinem Leben einen steifen Schwanz schon in Händen gehalten haben dürfte, und wenn es nur der eigene war.



In all diesen Strategien der Veruneindeutigung nähert sich Kleinert dem allegorischen Potenzial eines queer gelesenen Horrorkinos, wie es etwa Louis Peitzman in einem Essay für Buzzfeed im vergangenen Jahr perspektiviert hat. Ein nicht geringer Teil der Angstlust am pubertären Slasherfilm – oft als Parabel auf einen neuen Puritanismus gelesen – bestehe demnach nicht zuletzt auch in der darin codierten Angst vor dem eigenen zwar queeren, sich gegenüber sich selbst aber noch nicht eingestandenen Begehren: in der spekulativen Lust an der buchstäblichen Über-Mannung durch eine stark phallisch codierte, monströse – also in seinen Komponenten eben nicht vereindeutigte – Präsenz. Wer sich solcher Allegorien bedient, dreht zwar keine pädagogisch wertvollen Plädoyer-Filme für ein schöneres Miteinander – aber er kriegt dadurch ein Partikel der Realität vieler junger Leute zu fassen, die der Betriebsblindheit eines braven Kinos grundsätzlich unzugänglich bleibt.


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