Thema: comics
20th Century Boys, ein Manga von Naoki Urasawa - eine spannende Lektüre. Es geht, über mehrere Zeitebenen hinweg, um einen Haufen von Freunden aus Kindertagen. In den späten 60ern hat man sich im geheim errichteten Lager ein Weltuntergangsszenario ersonnen, das im Spiel schließlich abgewendet wurde. Man feierte sich als Retter der Welt, vergrub Relikte in der Erde und schwor sich darüber, auf ewig der Rettung der Welt verpflichtet zu sein.

Später, im Erwachsenendasein, ist davon nicht mehr viel übrig: Man hat sich verstreut, den Kontakt teilweise verloren, geht üblichen Jobs nach, hat übliche Familien, übliche Probleme. Die Kindheitsversprechen wurden irgendwann vergessen, zahlreiche Erinnerungen sind längst verblasst. Da taucht eine Sekte auf, deren Anführer sich "Freund" nennt und binnen kurzer Zeit sozialen und politischen Einfluss gewinnt. Gleichzeitig häufen sich Anschläge mit biologischen Waffen auf dem ganzen Globus. Kenji, der sich in frühen Tagen besonders engagiert in der Erschaffung spielerischer Szenarien zeigte, dämmert es langsam, dass hier die Abenteuergeschichte seiner Kindheit sich mit mörderischer Konsequenz entfaltet. Als er dem "Freund" auf die Schliche kommt, inszeniert dieser ihn als Propheten. Merkwürdige Obdachlose, einer davon offenbar mit dem zweiten Gesicht gesegnet, bestätigt ihm prophetische Gabe. Wer ist der "Freund"? Ein Gefährte von früher, der im Dunkel des Gedächtnisses vergessen wurde? Folgt er Kenjis Masterplan zur Vernichtung der Welt? Und kann er seine früheren Gefährten davon überzeugen, dass sie noch einmal, wie in ihrer Kindheit, die Welt vor dem Übel retten müssen?

Urasawa ist ein Meister im Geschichtenerzählen. Mit viel Gespür für dramaturgische Wirkung entfaltet er auf zahlreichen Zeitebenen gleichzeitig ein Vexierspiel aus Gegenwärtigkeit, Erinnerung und der Erahnung zukünftiger Ereignisse. Stück für Stück und mit großer Behutsamkeit führt er einzelne Fäden der Geschichte zusammen und kontextualisiert Erinnerungen mit den Ereignissen der Erzählgegenwart. Im Kreise erinnert man sich neuer Details und fügt dem Mosaik neue Aspekte hinzu, die wiederum den Lauf der Dinge präfigurieren.

Dem Leser ist es dabei große Freude, sich in diese epische Erzählung hineinsaugen zu lassen. Denn das Thema ist universell: Wer hat nicht in seiner Kindheit Szenarien voller Roboter und Kataklysmen entworfen, die man im Verein mit den Freunden zum Wohlergehen der Menschheit abgwendet hätte! Und wer erinnerte sich denn noch konkret an den Ablauf dieser Abenteuer und an alle Namen zu den Gesichtern vor dem geistigen Auge? Das kindliche Staunen über solch selbstentworfene Megalomanie - an dem man selbst bei der Lektüre gerne Anteil nimmt - wandelt sich hingegen zu echtem Schrecken, wenn sich der minutiöse Plan des "Freundes" in der Geschichte zusehends - für den Zusammenhang an Freunden wie für den Leser gleichermaßen - entfaltet. Diese Spannbreite an Emotionen - von nostalgischer Kindheitserinnerung hin zum mangatypischen apokalyptischen Szenario - handhabt Urasawa dabei mit leichter Hand: Ein schönes Wechselbad der Gefühle, das in der erzählenden Strategie kindlichen Sensationalismus mit dem eher erwachsenen Stoff eines Science Ficion Plots kreuzt und sich gegenseitig bereichern lässt. Dabei kann, natürlich, auch der Kommentar zur Geschichte der Mangas selbst nicht fehlen: Natürlich lesen die kleinen Jungs im Flora-Verhau vor den Häusern der Stadt die florierenden Jungsmangas der 60er Jahre (die natürlich auch zur Inspiration des apokalyptischen Szenarios dienten).

Gleichzeitig weiß Urasawa sein primäres Handwerkszeug mit sicherer Hand zu führen: Die Zeichnungen sind detailliert, oft panoramahaft, wo es Not tut, dann wieder gestrafft und dynamisiert, wenn der Ablauf es gebietet. Die im Manga (im Gegensatz zu westlichen Comics) traditionell kleineren Infobits per Panel dynamisieren das Geschehen auf beinahe schon filmische Weise. Wo im Manga die Figuren analog zur Zeichenweise oft dazu neigen, abstrakt und "leer" zu wirken, besetzt Urasawa sie mit Biografie und emotionaler Tiefe. Jede einzelne wirkt - mit allen Marotten und liebenswerten Seiten - menschlich adäquat. Liebenswerte Figuren jedenfalls allenthalben. Und selbst noch die zahlreichen Nebenfiguren, die oft nur für wenige Seiten auftauchen, sind rein zeichnerisch echte Typen, richtige Figuren mit Differenzqualität und dem Anschein biografischer und emotionaler Tiefe. Ähnliches gilt für die detaillierten Milieuschilderungen, die vom schrulligen Kleinhandel der Gegenwart über noir-esque Seitenstraßen in Großstädten bis hin zu sonnendurchfluteten Erinnerungsbildern aus Kindheitstagen reichen.

Eine epische, detaillert und konzentriert konzipierte Geschichte, die allen Charme der japanischen Populärkultur aufweist - vom Nostalgiefilm, über die groteske Komödie bis hin zu Action und Gigantomanie - und den Leser im besten Sinne mit sich zu verbrüdern sucht. Dazu lässt dieser sich gerne ein und kann nicht anders, als immer wieder händeringend nach dem nächsten Band zu lechzen.

Naoki Urasawa: 20th Century Boys. Deutsch bei Planet Manga, Panini Comics. Bislang 10 Bände à ca. 210 Seiten.


° ° °




kommentare dazu:



frenzy, Dienstag, 29. März 2005, 20:54
Hassu recht


Bei welchem Band bist du denn mittlerweile angelangt? Ich habe den fünften Band beendet und lege jetzt eine kleine Pause ein. (ist auch ein guter Zeitpunkt, wirst du schon sehen)


thgroh, Dienstag, 29. März 2005, 21:24
Gerade mit dem fünften angefangen. :)

Bin gespannt, wie's weiter geht (auch nach Deiner "Pausenempfehlung" jetzt). Üblicherweise bin ich ja leider kein Mensch, der viel Fähigkeit zur Geduld mitbringt bei solchen Serien - ich bin der ideale Tradepaperback-Typ: Lieber alles auf einmal an der Hand haben und bei Lust jederzeit bis zum Ende lesen können. Von daher sehe ich schon mit Grausen der Zukunft entgegen: Die Berliner Bibliotheken geben bis inklusive Band 8 die Reihe her, Band 9 und 10 könnte man zur Not noch käuflich erwerben. Aber wenn ich sehe, dass die japanische Ausgabe wohl insgesamt 16 Bände umfasst, dass die deutsche Ausgabe nicht gerade sonderlich zügig nachliegt, dass die Serie derzeit vielmehr droht, zu einer Print-On-Demand-Geschichte mit ungewisser Fertigstellung zu geraten, wird mir schon ganz anders. :(


frenzy, Dienstag, 29. März 2005, 22:46
Ist es denn sicher, dass die japanischen Bände 1:1 umgesetzt wurden? Vielleicht sind die deutschen Bände ja länger und daher müßten weniger Bände erscheinen.....aber alles Theorie.

Das mit dem Print-on-Demand dürfte aber kein Problem darstellen, die Bände 8-10 (oder waren es 9-10?) sind auch so erschienen und bei so einem Spannungswerk wie "20th Century Boys" kann man nicht einfach so aufhören.


psycko, Mittwoch, 30. März 2005, 12:47
Ist es denn sicher, dass die japanischen Bände 1:1 umgesetzt wurden?

Die deutschen Mangas sind eigentlich immer 1:1-Umsetzungen der japanischen Tradepaperbacks. Nur die Amis machen da Ausnahmen und bringen stattdessen ab und zu 30-seitige (oft eingefärbte) Hefte einer Serie raus.

und bei so einem Spannungswerk wie "20th Century Boys" kann man nicht einfach so aufhören.

Na ja - wenn die Verkaufszahlen weiterhin hinter den Erwartungen zurückbleiben kann`s gut sein dass Planet Manga die Serie trotzdem kippt. Egal ob der Manga gut ist oder nicht..



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