Thema: literatur
Die junge deutsche Literatur der Gegenwart wirft gerne den Blick zurück. Wie war das "damals"? Wie war das "dort"? Und wie lässt sich über einen solchen Blick zurück Identität schaffen, im Verein mit dem Leser natürlich, der die ganze Zeit "Genau!" denken soll, wenn ihm ein anderer seine vermeintliche Vergangenheit vor die Füße rotzt. Sei es der unerträgliche Snobismus, mit dem Florian Illies eine Marken- und Geistesgeschichte des wohl ödesten Jahrzehnts - die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts - zur Revue geraten lässt, oder die allenfalls lähmende Larmoyanz, mit der Jana Hensel in "Zonenkinder" ein ähnliches Projekt für die Ostsozialisierten in Angriff nimmt: Die so genannte "Generation Berlin", wie man die aufstrebenden jungen Leute der 90er Jahre noch für alle klar erkennbar als "jung und dynamisch" apostrophieren wollte, ist schon kurz nach ihrer Maienblüte schon älter und satter als manch anderer Generationenentwurf vor ihr und trägt einen Rattenschwanz melancholischer Vergangenheitsapropos mit sich herum, dass die Forderung nach "tabula rasa" schon aus bloßen Gründen der Nächstenliebe notwendig erscheint. Allein Rocko Schamonis jüngstes Werk, "Dorfpunks", gelingt es, in die Vergangenheit zu blicken, Entwicklungslinien zu ziehen und dabei in der Tat einen kurzen Moment historischer Mentalitätsverfasstheit literarisch festhalten zu können. Es mag daran liegen, dass es bei ihm gerade nicht um ödes Quiz geht, in dem derjenige gewinnt, der die meisten mit "Ach, weißt Du noch..." beginnenden Fragen richtig zu beantworten weiß. Im Gegenteil, bei ihm geht es um eine an sich zur Geschichtslosigkeit neigenden Haltung - wer hätte unter Punkern schon Historiker mitschreiben sehen? -, die als kaum mehr bewusste Gegenbewegung in der Peripherie der Öffentlichkeit sich einen Freiraum von eben jenem Marken- und Nutellaterror verschaffte, dem Illies und Co in späteren Jahren nachweinen würden: Das Aushänge-Spießerbübchen, das von sich gerne behauptet, einer bewegungslosen Zwischengeneration anzugehören, war eben schon damals zu blöde, um stattfindende Bewegungen auf den Schirm zu kriegen.
Entsprechend distanziert nähert man sich zunächst Kolja Mensings Versuch, dem System Provinz nachzuspüren. Der Generalverdacht lautet zunächst: Eine weitere Retrosauce, voller Sentiment, Verklärung und debiler Verbrüderung mit dem Leser: "Damals, als Tante Erna noch die Spüli-Aufkleber auf den Kühlschrank pappte..." Und in der Tat gibt sich Mensing, Kulturredakteur bei der taz, zunächst alle Mühe, diese Erwartung zu bestätigen: Sein Buch beginnt mit einem Gespräch zweier Provinzflüchtlinge, die sich über ihre Heimat unterhalten; implizit läuft ein Wettbewerb ab: Wer sich als von der Provinz am meisten emanzipiert erweist, gewinnt. Es folgt die Rückfahrt in die Provinz, obligatorisch zu Weihnachten natürlich, Blick aus dem Zug-, Auto- und schließlich Schlafzimmerfenster: Willkommen zuhause, ein paar Tage lang wenigstens. Die letzten Seiten sind für die rückführende Bewegung reserviert.
Doch der erste Eindruck trügt. Hat man die etwas unglückliche fiktionalisierte Rahmung überstanden, gelingt Mensing manch kluger, kleiner Beitrag zu einer Kulturgeschichte der Provinz der letzten 25 Jahre. Seine Form ist dabei nicht die der nostalgisch ausgeschmückten Anekdote, auch geht es ihm nicht um literarisierende Überhöhung. Das Wort "Roman" findet sich auf dem Umschlag nicht. Mit gutem Grund, eher schreibt der journalistisch versierte Mensing Reportagen, Artikel, Magazinbeiträge, Versuche eben, das Spezifische des Systems Provinz - und wie es sich im Laufe der letzten 20 Jahre wandelte, anpasste und, mit den Landflüchtlingen der "Generation Berlin", die Großstädte imperialisierte -, zu packen. Die Beobachtungen, Verdichtungen und Zusammenhang konstruierende Entwürfe sind dabei klar und besonnen geschrieben, natürlich um den Leser und dessen Erfahrungsschatz buhlend, gleichzeitig aber auch immer auf eine gewisse Distanz aus, die das Detail - sagen wir: das Mülltonnenhäuschen, das der Nachbar um seine Mülltonne herum bauen ließ - noch berücksichtigt, aber auch vor größeren Zusammenhängen - eine Mediengeschichte der Provinz etwa, wie sie über Satellitenschüsseln, Autobahnzubringern und nicht zuletzt das Internet die Welt zu sich holte und einverleibte - die Augen nicht verschließt.
Die behandelten Themen und Nischen sind vielfältig. Was sagen uns die Gothics der 80er Jahre? Was die Bushäuschen als zentraler Ort jugendlichen Kulturlebens? Komasaufen im Wald, sektiererischer Buchhandel in der Stadt, ominöse Hippieläden nebenan. Ein neues Kino bringt das Kino nahe, Erlebnisparks sorgen für Ausgleich, im Unterricht wird die katastrophale Bedeutung der Umweltverschmutzung für die Lebensqualität in der Region untersucht. Glanzmomente sind sicherlich die Gedanken über Boris Becker und die Hannoverander Indieband Fury in the Slaughterhouse - beide Phänomene der Medienwelt werden als bezeichnende des Verhältnisses zwischen Provinz und Kosmopolitismus nachgezeichnet und ergeben so, neben all der Profanität, die man einem Becker-Lebenslauf ansonsten vielleicht zumessen würde, eine zweite, kulturgeschichtliche Ebene: Der Junge aus Leimen, der nach den Sternen greift, in Monaco lebt und liebt, wehmütig in die Provinz zurückblickt und ihr eigentlich so recht doch nie entkommt - der späte Becker landet bei AOL, ist "drin" im Internet; der Horizont der Provinz wurde um ein wenig Welt erweitert. Mit den Hannoveranern - wie die anderen großen Musiker aus selber Stadt: natürlich fürchterlich - verhält sich das ganz ähnlich. Beide Texte leben dabei ganz entschieden von der soliden journalistischen Kenntnis des Autors: Der begnügt sich nicht, wie manche Popliteraten, den ewig jovialen Fanziner zu spielen, sondern reichert seine Texte mit sauber recherchierten (Arte-)Fakten an; Zusammenhänge werden nicht allein subjektiv konstruiert, sondern immer wieder anhand guter Quellen - im Falle Beckers etwa zahlreiche Interviews und Artikel aus der Frühzeit seiner Karriere - untermauert.
Auch wenn nicht jeder Text die Zunge schnalzen lässt, gelingt insgesamt doch Erkenntnis statt, wie bei Illies, Verklärung. Was die Provinz ausmacht - jenseits bloßer Stadtbilddifferenz -, was sie, sozusagen, "im Innersten zusammen hält", wird in den besten Momenten sichtbar (in den nicht ganz so guten entsteht immerhin Ahnung). Die Provinz, so das etwas melancholische Fazit, ist letzten Endes in der Großstadt angekommen: Auf der Love Parade in Berlin entdeckt Mensing die Wiederkehr der funshirt-bewehrten Komaköpfe einstiger Waldhüttenparties. So abwegig ist das nicht. Eine Verbrüderung findet, trotz aller aufgeschlossener, oft beinahe schon etwas standpunktlos erscheinender Beobachtung, nicht statt: Der Titel immerhin ist eine Frage, die Flucht geht weiter.
Kolja Mensing: Wie komme ich hier raus? Aufwachsen in der Provinz. Kiepenheuer & Witsch, 2002.
Entsprechend distanziert nähert man sich zunächst Kolja Mensings Versuch, dem System Provinz nachzuspüren. Der Generalverdacht lautet zunächst: Eine weitere Retrosauce, voller Sentiment, Verklärung und debiler Verbrüderung mit dem Leser: "Damals, als Tante Erna noch die Spüli-Aufkleber auf den Kühlschrank pappte..." Und in der Tat gibt sich Mensing, Kulturredakteur bei der taz, zunächst alle Mühe, diese Erwartung zu bestätigen: Sein Buch beginnt mit einem Gespräch zweier Provinzflüchtlinge, die sich über ihre Heimat unterhalten; implizit läuft ein Wettbewerb ab: Wer sich als von der Provinz am meisten emanzipiert erweist, gewinnt. Es folgt die Rückfahrt in die Provinz, obligatorisch zu Weihnachten natürlich, Blick aus dem Zug-, Auto- und schließlich Schlafzimmerfenster: Willkommen zuhause, ein paar Tage lang wenigstens. Die letzten Seiten sind für die rückführende Bewegung reserviert.
Doch der erste Eindruck trügt. Hat man die etwas unglückliche fiktionalisierte Rahmung überstanden, gelingt Mensing manch kluger, kleiner Beitrag zu einer Kulturgeschichte der Provinz der letzten 25 Jahre. Seine Form ist dabei nicht die der nostalgisch ausgeschmückten Anekdote, auch geht es ihm nicht um literarisierende Überhöhung. Das Wort "Roman" findet sich auf dem Umschlag nicht. Mit gutem Grund, eher schreibt der journalistisch versierte Mensing Reportagen, Artikel, Magazinbeiträge, Versuche eben, das Spezifische des Systems Provinz - und wie es sich im Laufe der letzten 20 Jahre wandelte, anpasste und, mit den Landflüchtlingen der "Generation Berlin", die Großstädte imperialisierte -, zu packen. Die Beobachtungen, Verdichtungen und Zusammenhang konstruierende Entwürfe sind dabei klar und besonnen geschrieben, natürlich um den Leser und dessen Erfahrungsschatz buhlend, gleichzeitig aber auch immer auf eine gewisse Distanz aus, die das Detail - sagen wir: das Mülltonnenhäuschen, das der Nachbar um seine Mülltonne herum bauen ließ - noch berücksichtigt, aber auch vor größeren Zusammenhängen - eine Mediengeschichte der Provinz etwa, wie sie über Satellitenschüsseln, Autobahnzubringern und nicht zuletzt das Internet die Welt zu sich holte und einverleibte - die Augen nicht verschließt.
Die behandelten Themen und Nischen sind vielfältig. Was sagen uns die Gothics der 80er Jahre? Was die Bushäuschen als zentraler Ort jugendlichen Kulturlebens? Komasaufen im Wald, sektiererischer Buchhandel in der Stadt, ominöse Hippieläden nebenan. Ein neues Kino bringt das Kino nahe, Erlebnisparks sorgen für Ausgleich, im Unterricht wird die katastrophale Bedeutung der Umweltverschmutzung für die Lebensqualität in der Region untersucht. Glanzmomente sind sicherlich die Gedanken über Boris Becker und die Hannoverander Indieband Fury in the Slaughterhouse - beide Phänomene der Medienwelt werden als bezeichnende des Verhältnisses zwischen Provinz und Kosmopolitismus nachgezeichnet und ergeben so, neben all der Profanität, die man einem Becker-Lebenslauf ansonsten vielleicht zumessen würde, eine zweite, kulturgeschichtliche Ebene: Der Junge aus Leimen, der nach den Sternen greift, in Monaco lebt und liebt, wehmütig in die Provinz zurückblickt und ihr eigentlich so recht doch nie entkommt - der späte Becker landet bei AOL, ist "drin" im Internet; der Horizont der Provinz wurde um ein wenig Welt erweitert. Mit den Hannoveranern - wie die anderen großen Musiker aus selber Stadt: natürlich fürchterlich - verhält sich das ganz ähnlich. Beide Texte leben dabei ganz entschieden von der soliden journalistischen Kenntnis des Autors: Der begnügt sich nicht, wie manche Popliteraten, den ewig jovialen Fanziner zu spielen, sondern reichert seine Texte mit sauber recherchierten (Arte-)Fakten an; Zusammenhänge werden nicht allein subjektiv konstruiert, sondern immer wieder anhand guter Quellen - im Falle Beckers etwa zahlreiche Interviews und Artikel aus der Frühzeit seiner Karriere - untermauert.
Auch wenn nicht jeder Text die Zunge schnalzen lässt, gelingt insgesamt doch Erkenntnis statt, wie bei Illies, Verklärung. Was die Provinz ausmacht - jenseits bloßer Stadtbilddifferenz -, was sie, sozusagen, "im Innersten zusammen hält", wird in den besten Momenten sichtbar (in den nicht ganz so guten entsteht immerhin Ahnung). Die Provinz, so das etwas melancholische Fazit, ist letzten Endes in der Großstadt angekommen: Auf der Love Parade in Berlin entdeckt Mensing die Wiederkehr der funshirt-bewehrten Komaköpfe einstiger Waldhüttenparties. So abwegig ist das nicht. Eine Verbrüderung findet, trotz aller aufgeschlossener, oft beinahe schon etwas standpunktlos erscheinender Beobachtung, nicht statt: Der Titel immerhin ist eine Frage, die Flucht geht weiter.
Kolja Mensing: Wie komme ich hier raus? Aufwachsen in der Provinz. Kiepenheuer & Witsch, 2002.
° ° °
kommentare dazu:
ae,
Dienstag, 29. März 2005, 21:00
Provinz
Der "Blick zurück", den du beobachtest, ist natürlich nicht per se ein verwerflicher. Nur, wenn es sich darauf beschränkt, Eierschaukelei des Gesterns zu sein, keine "Links" in das Heute setzt oder schlicht (wie in Illies' Fall) Kollektivgeschichte anhand von Marken von Nutella bis Spüli schreiben will, wirds ärgelich.
Mensings Buch kenne ich nicht, möchte dir aber - gerade was Jugend und Provinz angeht - diese beiden empfehlen:
http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3832179186/qid%3D1111313696/028-4924624-0283723
und
http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3250600814/qid%3D1111313472/sr%3D8-1/ref%3Dsr_8_xs_ap_i1_xgl/028-4924624-0283723
Größter und wichtigster Unterschied zur Illies-et-al-Bagage: Mit Liebe und Emphatie geschrieben, jenseits von Generationen-Glorifizierung.
Mensings Buch kenne ich nicht, möchte dir aber - gerade was Jugend und Provinz angeht - diese beiden empfehlen:
http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3832179186/qid%3D1111313696/028-4924624-0283723
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Größter und wichtigster Unterschied zur Illies-et-al-Bagage: Mit Liebe und Emphatie geschrieben, jenseits von Generationen-Glorifizierung.
thgroh,
Dienstag, 29. März 2005, 21:20
Ja, grundsätzlich schlecht kann das ja nicht sein. Sonst würde mir Dorfpunks ja nicht so gut gefallen - und Mensings Buch gefällt mir ja eben auch über weite Strecken sehr gut.
Danke für die beiden Empfehlungen - werde da mal meine Bibliothek aufsuchen.
Danke für die beiden Empfehlungen - werde da mal meine Bibliothek aufsuchen.
ae,
Dienstag, 29. März 2005, 21:43
>werde da mal meine Bibliothek aufsuchen.
da wirst du kaum fündig werden. das buch von lewejohann erscheint erst noch, das von leiber ist gerade erst erchienen. jedenfalls meine bibliothek führt bücher nicht so schnell. aber ich bin ja auch aus der aachener provinz ;) hauptstädtische bibs sind da vielleicht schneller.
da wirst du kaum fündig werden. das buch von lewejohann erscheint erst noch, das von leiber ist gerade erst erchienen. jedenfalls meine bibliothek führt bücher nicht so schnell. aber ich bin ja auch aus der aachener provinz ;) hauptstädtische bibs sind da vielleicht schneller.
thgroh,
Dienstag, 29. März 2005, 22:20
Ach, ich bin da recht zuversichtlich. Der Berliner Bibliothekenverbund ist teilweise wirklich sehr gut sortiert und nimmt auch Neuerscheinung meist einigermaßen flugs ins Programm. :)
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