Den 01. Mai habe ich ganz traditionell begangen: Kasperlezirkus außer Acht gelassen, gelesen. Derzeit gerade Thomas Haurys Dissertation 'Antisemitismus von Links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antiozionismus in der frühen DDR.' Zumal in Zeiten wie diesen, wo mal wieder jeder Hannes meint, biergeschwängerte Kapitalismuskritik leisten zu müssen, kann ein solches exaktes Nachfragen, wie weit es mit linker Kapitalismuskritik ist, nicht schaden...

However, was ich eigentlich schreiben wollte: Dass am 01. Mai in Berlin nix wirklich Bemerkenswertes geschehen ist, lässt sich am Zeitungskiosk diesmal gut nachfühlen. Die B.Z. etwa (nicht zu verwechseln mit der Berliner Zeitung), ansonsten immer für Martialisches zum 02. Mai zu haben, bringt diesmal das Konterfei einer rüstigen Seniorin auf dem Titel. "Ich war Hitlers Krankenschwester" steht dann drunter zu lesen, man denkt sich entsprechend: "So fucking what?" und weiß: Hier wurde in letzter Minute ein klassischer Lückenfüller hingekleistert. Würde mich nicht wundern, wenn die dazugehörige Story schon eine ganze Weile im Schreibtisch liegt. "Hitlers Krankenschwester - interessiert kein Aas, Hitler macht sich aber - siehe Spiegel - immer gut auf dem Titel, das behalten wir mal für die Saure-Gurken-Zeit im Auge...", hört man es förmlich in den Redaktionskatakomben des Schmierenblatts raunen. Der Berliner Kurier, für gewöhnlich in direkter geistiger Nähe zur B.Z. anzutreffen, will den 02. Mai indes traditionell begehen und verzichtet nicht auf lodernde Flammen auf Seite 1: Anlass dazu bot ein Brand in einer Fabrik, nach bisherigem Kenntnisstand weder von Autonomen noch von Krawalltouristen oder gar "türkischen Jugendlichen" begangen. Aber immerhin: Von der Ferne betrachtet, könnte man meinen, dass es in Kreuzberg am Vorabend allzu Übliches zu bestaunen gab.

Was war also wirklich geschehen, bei den Wilden Kerlen? Erschreckend wenig offenbar: Gestrige Radiomeldungen am Abend kündeten von einem weitgehend friedlichen Verlauf. Allein eine Spontan-Demo mit ca. 350 Teilnehmern hätte am Abend noch Polizeibeamte mit Feuerwerkskörpern beschossen und sich wohl vereinzelt mit selbigen rumgeprügelt. Ein Auto wurde ebenfalls umgekippt, offenbar aber noch nicht einmal angezündet. Traurige Traditionsversessenheit, und auf halbem Wege auch noch schlapp gemacht. Verletzte Beamte wurden im einstelligen Bereich notiert, auch Verhaftungen sind über ungewöhnlich niedrige zwei Stellen nicht hinaus gekommen. Angesichts der Massen, die da gestern in Kreuzberg feierten und demonstrierten doch ein eigentlich guter Schnitt? Sollte man meinen, zumal auch andere Veranstaltungen mit Massen- oder gar Politcharakter in seltensten Fällen ohne Sach- oder gar Personenschaden am Rande über die Bühne gehen (man vergleiche etwa die für gewöhnlich als "friedlich" apostrophierte Love Parade - von Berliner Behörden als Standortfaktor bejubelt - mit ihren jährlichen Vergewaltigungen zwischen den Büschen des Tiergartens, bzw. jedes übliche Bierzeltfest mit seinen Schlägereien).

Der Berliner Morgenpost - der seriöse Seitenarm des Springer'schen Bild-Zeitungs-Wesens - ist das hingegen freilich schnurz. Zwar sieht sich keine seriöse und zumal überregional erscheinende Tageszeitung Deutschlands dazu gezwungen, ein von Jugendlichen stumpfsinnig umgekipptes Auto zum Tagesthema Nummer 1 zu machen. Doch immerhin hatte man tatsächlich einen Fotografen dicht genug am Geschehen positionieren können, der dann in der Tat die Kiddies beim Umkippen des Fahrzeugs zeigt und solch Exklusivität will ausgenutzt werden: Also titelt man "1. Mai: Randale in Berlin", zeigt das - zumal im Vergleich zu ansonsten üblichen Bildern der Kreuzberger Mai-Ereignisse reichlich unspektakuläre - Foto dick auf Seite 1 als Aufmacher und übt sich somit ganz in Blockwart-Manier (immerhin: Zur Relativierung insofern hat es gereicht, dass diese Pressemitteilung der Berliner Polzeit, die diesen 01.Mai als den friedlichsten seit 20 Jahren bezeichnet, mit einem vereinzelten Satz kurz zitiert wird - diese Erfreulichkeit aber zum eigentlichen Aufhänger zu machen wollte man offensichtlich nicht wagen).

Glückwunsch jedenfalls zu solch Delirantentum - das hat nicht mal die vornehmlich illustrierend kommunizierende Schandmaul-Presse hingekriegt. Im Konzert der heutigen Zeitungsauslage steht diese Ausgabe der Berliner Morgenpost nun als Beispiel für dummdämlichen Schwachfug-Journalismus auf dem Platz, der in Klassenzimmern vormals für gewöhnlich dem dummen Esel vorbehalten war.


° ° °




kommentare dazu:



christian123, Montag, 2. Mai 2005, 19:36
Tja, kaum bleib ich mal am 1. Mai zuhause, schon gibt's keine ordentlichen Randale mehr ... ;-)

Das Abebben war schon letztes Jahr gut zu merken und meinem Empfinden nach zurückzuführen auf die drei Faktoren:
Verlagerung der, öhm, nennen's wir mal so, "Action" auf das Aufhalten der damaligen Nazi-Demo in Lichtenberg/Friedrichshain;
weitaus effektiverer, gezielterer und mutigerer Einsatz der Anti-Konflikt-Teams als normalerweise (die ja sonst eher den Eindruck erwecken, primär für die Pressekameras da zu sein, und stets dann abzuziehen, wenn tatsächlich in den nächsten Minuten irgendwelche Konflikte aufkeimen könnten; scheinen auch ansonsten eher ein bisschen von der Rest-Polizei an den Rand gedrängt und ihnen eigentlich im Wege stehend);
sowie das natürlich irgendwie die Revolutionäre-1.-Mai-Demo blockierende Myfest.

Diesjahr war ich ja nicht vor Ort, aber wenn man Lichtenberg/Friedrichshain vom Nazi-Demo-Faktor durch Leipzig austauscht, lief's wahrscheinlich ähnlich (in dieser Hinsicht erwarte ich noch den Bericht meiner beiden Agenten, die in Leipzig zugegen waren ;-) ). Man gewinnt ja geradezu den Eindruck, dass in der Walpurgisnacht bereits mehr (und dabei gar nicht mal so viel) geschehe, als am eigentlichen 1. Mai, und sich auch sonst das Geschehen von den traditionellen Kreuzberger Schauplätzen gedämpft nach woandershin zerlaufe.

Wenn das so bleibt, kann man wohl den Kreuzberger 1. Mai mit einer Dauer von anderthalb Jahrzehnten von 1987 bis 2003 historisieren und abhaken.



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