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Ich sitze in der Bibliothek in der Grünberger Straße. Ich komme her, um zu lernen. Ich mag das hier. Die Bibliothek in der Grünberger Straße scheint mir eine kleine Oase, eine Art Bibliothek-Ideal, wenn man Bibliothek als öffentlich-sozialen Raum betrachtet, in dem Unterhaltung, Fachliches, hohe wie triviale Literatur und Allgemeinwissen gleichermaßen bereit gehalten wird. Man kann beim Lernen aufstehen und durch die Bücher ringsum surfen. Manchmal kommen einem dabei frische Gedanken. Wenn mir gar nichts mehr einfällt, greife ich wahllos zu einem Buch und lese ebenso wahllos drei, vier Absätze.

Ich sitze da also und lese Christian Metz' Essay Foto, Fetisch, weil ich über ihn geprüft werden soll. Metz schreibt vom Augenblick, der einem im Moment der Fotografie gestohlen wird, ein Augenblick, der gestorben ist, weil das Leben ein Sterben auf Raten ist und die Fotografie dem Tode nahe steht. Er veranschaulicht dies anhand einer drastischen Formulierung aus Dubois' Überlegungen zur Fotografie, indem er diesen zitiert, dass die Person des Augenblicks gestorben sei, weil sie gesehen wurde.

Ich habe für solchen Pathos, der in der Kulturtheorie oft anzutreffen ist, nicht sonderlich viel übrig. Er verdeckt oft mehr als er erhellt. Auch die Psychoanalyse - Metzens Text ist voll davon - neigt oft zu solch archaischer Dramatik. Weil mich die Textstelle stört, weil ich darüber nachdenke und ins Grübeln gerate, lasse ich meinen Blick durch die Bibliothek schweifen.

Ein junger Mann fällt mir auf. Er greift geschwind, merkwürdig gezielt, zu einem Buch im Regal, und das, obwohl er noch nicht lange davor steht. Er stellt es im Regal auf, im Freiraum neben den aneinander geschmiegten Büchern. Die Lücke, die sich deshalb unter ihnen bildet, wird ratzfatz geschlossen, als der Mann die Bücher zusammenschiebt. Nächste Reihe, selbes Spiel. Seine Handfertigkeit dabei ist enorm; es hat beinahe etwas von Tom Cruise, der sich in Minority Report traumwandlerisch durch das optisch-holografische Interface eines Computers manövriert. Immer wieder streicht er über die Buchreihen, sorgt dafür, dass die Bücherkanten direkt auf der Regalkante stehen, dass es keine Einschübe gibt.

Kein Hauch von zwanghafter Manie in seinem Tun. Eine seltsame Zärtlichkeit liegt in allen Gesten. Manchmal scheint er nach ästhetischen Parametern abzuwägen, ob ein Buch wirklich offen aufgestellt wird oder in der Reihe bleibt. Er wiegt es dann kurz in der Hand, einige wandern zurück in die Lücke. Langsam, nicht behäbig, arbeitet er sich durch die Regale und Reihen. Seine Zärtlichkeit bleibt unergründlich: Er wirkt seltsam gelangweilt, uninteressiert. Aber auch nicht gezwungen. Und er sieht nicht aus wie ein Bibliothekar. Ich habe ihn hier noch nie gesehen (und ich bin oft hier). Vielleicht ist er ein Besucher, dem das Freude macht?

Ich versuche, nicht allzu auffällig hinzublicken. Ich denke an die Worte von Dubois: Würde ich ihn sehen, würde die Person sterben. Natürlich nicht der Mensch als solcher, aber die Person selbst würde, entdeckte sie, dass ich sie beobachte, aus sich selbst fallen und ganz anders zu Werke gehen. Vor allem, wenn sie das aus freien Stücken macht, dieses seltsam monotone "Bücherpflegen". Ich will nicht, dass er mich sieht, ich will ihm weiter zuschauen können, wie seine Hände die Regale und die Bücher pflegen.

Es gibt da etwas an Händen, die ihrem Werk nachgehen, das mich fasziniert. Hände, die wissen, was sie tun, die wissen, warum sie etwas tun, haben eine beruhigende Zärtlichkeit für sich. Ich erinnere mich an ein Portrait von Harun Farocki, das er über einen alten Silberschmied gedreht hat, der außerdem Bücher schreibt. Seine alten Hände klöppeln das Material, wir sehen das in Großaufnahme. Es liegt behagliche Weisheit in den Händen, und Liebe zum Material. Auch auf Tasten schreibende Hände können eine solche sinnliche Qualität erreichen. Wenn sie wie Spinnen über die Buchstaben gleiten. Ich könnte stundenlang zuschauen, wenn ein Maskenbildner einen Menschen schminkt. Man müsste Filme drehen, einen Film wenigstens, darin nur Hände, die ihr Werk verrichten.

Irgendwann ist der Mann aus meinem Blickfeld verschwunden, aber ich höre, wie er Bücher herauszieht, Buchreihen zusammenschiebt, Ordnung in die bibliothekarische Entropie bringt. Irgendwann ein Dialog, dass er hier zu Aushilfe arbeite. Schade, meine Geschichte, dass er einer ist, der die Bücher und die Regale mag und dass er nur ihretwegen hierherkommt, die hatte mir besser gefallen. Ich bin übrigens der, der die Comicregale pflegt.


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