Thema: videodrome


Zumindest der westliche Comic - Manga gehen anders vor - weist ein paradoxales Verhältnis zur erzählten Zeit auf. Er neigt grafisch zur epischen, bzw. ikonischen Dichte des einzelnen Panels: Ein eingefrorener Moment - a thin slice of time -, der offensichtlich Augenblicklichkeit suggeriert, wird durch ausführliche, oft mehrmals wechselnde Dialoge in den Sprechblasen bis zum Zerreißen gedehnt. Das ist bezeichnend für die auf vielen Ebenen strukturelle Hybridität des Comics: Die dialogisch-sequenzielle Ausdehnung in die Tiefe der erzählten Zeit reibt sich an der jeglicher Zeitlichkeit enthobenen, an die Fotografie angelehnten 'Jetzthaftigkeit' des Bildes. Vor allem die klassischen Comics aus den Zeitungen und aus dem Golden Age der frühen Heftcomics sind hierfür ein Musterbeispiel; zugleich ermöglicht diese Asynchronität die besondere Lesehaltung beim Comic, die sich des minutiösen Nachvollzugs immer wieder in Zeitinseln entzieht, das zeitlich angeordnete Lesevergnügen also selbst organisiert: das Verweilen beim einzelnen Moment, das Erkunden des einzelnen Panels nach versteckten Indizien oder Details: Die narrative Informationen wurde aufgenommen und verarbeitet, doch ist der Schritt zum nächsten Panel noch nicht zwingend geboten; wie kaum ein zweites Erzählmedium ist der Comic auch eines des Zurückblätterns.

Lange Rede, kurzer Sinn: Auf ZeroTV findet sich ein ganz wundervolles Kurzfilmprojekt, das sich gerade dieses charakteristische Verhältnis der Comicform zu seiner Erzählzeit - und wie diese organisiert ist - für die eigene Gestalt unter filmischen Bedingungen zu Nutze macht. Nachgestellt werden klassische Comicpanels aus Zeitungsstrips, vornehmlich aus der Zeit, als sich der Zeitungscomic als familienkompatibles Unterhaltungsangebot für die Mittelschicht etablierte. Dabei geht es allerdings nicht um das vielleicht handwerklich ausgefeilte, gerne auch stylishe, künstlerisch aber unsäglich plumpe Nachspielen lediglich ikonografischer Reizangebote, wie das bei Sin City zu beobachten war. Vielmehr richtet sich hier die Länge einer Einstellung strikt nach der dialogischen Informationsbreite eines Panels, alldieweil die handelnden Figuren zur ikonisch verdichteten Nahezu-Regunglosigkeit verdammt sind.

Das Ergebnis ist, gelinde gesagt, bizarr. Die ins Unheimliche entrückte Tonspur tut ihr übriges. Imagine Bergman meets Lynch. Große Kunst. [via]


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kommentare dazu:



frenzy, Freitag, 8. September 2006, 16:54
Hihi, sehr putzig. Dieser extreme Unterschied zwischen Comic und Manga, den du schon angesprochen hast, wird hier mal so richtig deutlich. Freeze Frame galore.

Ist mir erst kürzlich bei Akira aufgefallen, dass Manga die Handlung in den Panels ganz anders vorantrieben. Durch das erste "Telefonbuch" von Otomos Klassiker rast man förmlich durch.


thgroh, Freitag, 8. September 2006, 17:09
Ja, Akira ist geradezu Daumenkino. Einen ausgewachsenen Wortwechsel pro Panel, wie er in westlichen Comics oft anzutreffen ist, wird man in einem Manga nur selten, wenn überhaupt antreffen. Handlungen und Erzählelemente sind da wesentlich zerfaserter als im westlichen Comic. Das lässt sich mittels Sequenzprotokollen auch empirisch nachweisen, wenn es sich nicht schon beim bloßen Augenschein ergibt.



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