Thema: Filmtagebuch
21.01.2007, Heimkino; zum Inhalt.
Über Angela Schanelecs Marseille bin ich mir noch im Unklaren. Teilt man den Film in drei Teile, dann haben wir Marselle, dann Berlin, und schließlich nochmals, wenn auch viel kürzer, Marseille. Teil zwei und drei beginnen mit einer fast schockartigen Montage, die gerade nicht verbindet, sondern Lücken aufklaffen lässt, die schlagartig ins Bewusstein gerückt werden. Überhaupt, es fehlt in Marseille weit mehr, als da ist (in dieser Geste, würde ich jetzt schnell sagen, ist wohl auch sein filmpolitisches Projekt zu verstehen; wenn in klassischeren Konzeptionen von Film eine Welt überhaupt erst durch das Kameraauge etabliert und strukturier wird, geht hier gerade Welt durch Kamerazuschnitt verloren, weil die Kamera /inmitten/ des Vorgefundenen, und nicht durch sie Etablierten steht). Wenn Sophie, die Figur, um die es in der Hauptsache geht, im ersten Drittel durch Marseille schlendert, eine ihr fremde Stadt, in die sie aus Berlin gefahren ist, aus Gründen, die nie /ganz/ ersichtlich werden, und sie dabei die Umgebung ja fast schon ertastet (mit den Augen, mit dem Fotoapparat), dann sehen wir zwar /sie/, aber nicht, /was/ sie sieht. Auffällig häufig, fast immer eigentlich, blickt sie, deutlich zwar beobachtend, aber auch merkwürdig indifferent, in das Off des Bildes, das für uns im Unklaren bleibt. Sie macht Fotos, an einer Stelle wird es ihr untersagt (warum, bleibt ein Geheimnis). Dass wir das nicht sehen, was sie sieht, wird in einem Moment zugespitzt, wenn das Filmbild eine belebte Kreuzung zeigt. Mitten auf dieser Kreuzung: Eine Art Verkehrsinsel, auf der Sophie steht. Gerade so lässt sich auf diese Distanz noch erkennen, dass sie den Fotoapparat hebt - und in unsere Richtung fotografiert. Was ist da, hinter unserem Rücken? Eine Straße vermutlich. Später sagt sie das auch, danach gefragt, was sie fotografiere: Straßen. Straßen, deren Präsenz vor allem durch die Tonspur vermittelt wird, deren Relevanz für den ästhetischen Eindruck in diesem Falle der des Bildes mindestens ebenbürtig ist. Die Tonspur nimmt alles auf, was im Off nicht zu sehen ist, der Ton ist immer und völlig präsent, seinem Gegenstand gegenüber, scheinbar, indifferent. Er bildet einen Mantel, einen Kokon, der die äußere Welt fast schon taktil abtastbar erscheinen lässt. Zugleich ein Rauschen, das einbettet und Distanzen aufbaut: Schockartig fällt dann die deutsche Sprache in den Film, nach etwa einer Dreiviertelstunde. Plötzlich ist alles anders. Auch Sophie klingt, als träte sie in diesem Film überhaupt erst hier zum ersten Male auf.
Aber ich bin mir noch, wie gesagt, im Unklaren. Das erste Drittel ist famos, nichts weniger. Das letzte Drittel - seine Dauer fällt knapp aus - steht dem in nichts nach. Die Sequenz in Berlin aber, der Mittelteil, fällt zäh aus. Dies ist gewollt, ganz sicher. Sophies persönliches Eingebettet-Sein - die Quasi-Syntax ihres sozialen Gefüges -, der Filz an Menschen und Problemen, aus dem sie stammt, der in Marseille abwesend in Permanenz war, wo sie durch eine Welt ging, in deren Mitte sie zwar stand (daher auch die radikale Auflösung der Einstellungen und der Ton: Mitten drin, doch nicht dabei), zu sehr sie aber doch nicht zählt, diese Ummantelung also aus Beziehungen und Alltag zieht den Drang zur Flucht ganz automatisch nach sich (gut: Keine Romantik, kein Pathos, alles bleibt in der Schwebe, zwischen zwei Bildern liegt hier die Welt). Trotzdem gerinnt der Film an diesen Stellen für meine Begriffe über das rein Funktionale solcher Spröde hinaus; Bürgersöhne und -töchter sprechen Bürgersätze ins Leere hinein. Die eine sagt, man bräuchte einen Landarzt, der immer um einen herum ist, der einen kennt; zu überdeutlich wird hier auf die Zerschlagenheit der Beziehungen angespielt, eine Nuance zu stark tritt hier die Tradition des deutschen Kunstfilms auf.
Hingegen, was mit der Kamera geschieht - oder was hier nicht geschieht - ist bei aller Strenge großartig: Ihre Statik ist nicht kalkuliertes Aushängeschild, jeder Einsatz der Formmittel und -technik Ergebnis einer konzentrierten Reflexion. Man sieht das selten so, selten waren unbewegte Einstellungen über Minuten hinweg spannender, weil man immer mit dem Umschnitt rechnet, der dann doch nicht kommt, und jeder Umschnitt, der dann doch kommt, schlagartig Bedeutung generiert.
Doch wie gesagt, der Ton ist es, der diesen Film für mich am spannendsten macht. Man könnte die Augen schließen - und hätte ein fieldrecording, mit aller Sinnlichkeit, die diese akustische Strategie auszeichnet. Was ich mir gewünscht hätte: Kein Berlin dazwischen, ein Mehr der fremden Frau in einer fremden Stadt, nicht unbedingt die Katastrophe am Ende des Films (die aber, natürlich, an diese Stelle passt), zwei Stunden erleben, wie eine neue Umgebung ertastet wird, die Spannung jeder Geste, jedes Moments, im Widerstreit zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen-Wollen. Dieser andere Film, der als Potenzial in Marseille liegt, wird hoffentlich noch zu sehen sein.
weiterführende links:
» imdb ~ filmz.de
» movie blog search engine ~ movie magazine search engine
» marseille-notizen der regisseurin
zur erhältlichkeit:
Der Film ist im Rahmen der Revolver Edition der Filmzeitschrift Revolver beim Label Filmgalerie 451 als schlicht konzipierte DVD erschienen. In Berlin ist sie bei den üblichen Anlaufstellen - Videodrom, Filmkunst und in einigen weiteren Videotheken - für einen geringen Preis zu entleihen. In Ausgabe 13 der Zeitschrift findet sich ein ausführliches Interview mit der Regisseurin, das als Quasi-Bonus zur Veröffentlichung zu verstehen ist.

Aber ich bin mir noch, wie gesagt, im Unklaren. Das erste Drittel ist famos, nichts weniger. Das letzte Drittel - seine Dauer fällt knapp aus - steht dem in nichts nach. Die Sequenz in Berlin aber, der Mittelteil, fällt zäh aus. Dies ist gewollt, ganz sicher. Sophies persönliches Eingebettet-Sein - die Quasi-Syntax ihres sozialen Gefüges -, der Filz an Menschen und Problemen, aus dem sie stammt, der in Marseille abwesend in Permanenz war, wo sie durch eine Welt ging, in deren Mitte sie zwar stand (daher auch die radikale Auflösung der Einstellungen und der Ton: Mitten drin, doch nicht dabei), zu sehr sie aber doch nicht zählt, diese Ummantelung also aus Beziehungen und Alltag zieht den Drang zur Flucht ganz automatisch nach sich (gut: Keine Romantik, kein Pathos, alles bleibt in der Schwebe, zwischen zwei Bildern liegt hier die Welt). Trotzdem gerinnt der Film an diesen Stellen für meine Begriffe über das rein Funktionale solcher Spröde hinaus; Bürgersöhne und -töchter sprechen Bürgersätze ins Leere hinein. Die eine sagt, man bräuchte einen Landarzt, der immer um einen herum ist, der einen kennt; zu überdeutlich wird hier auf die Zerschlagenheit der Beziehungen angespielt, eine Nuance zu stark tritt hier die Tradition des deutschen Kunstfilms auf.
Hingegen, was mit der Kamera geschieht - oder was hier nicht geschieht - ist bei aller Strenge großartig: Ihre Statik ist nicht kalkuliertes Aushängeschild, jeder Einsatz der Formmittel und -technik Ergebnis einer konzentrierten Reflexion. Man sieht das selten so, selten waren unbewegte Einstellungen über Minuten hinweg spannender, weil man immer mit dem Umschnitt rechnet, der dann doch nicht kommt, und jeder Umschnitt, der dann doch kommt, schlagartig Bedeutung generiert.
Doch wie gesagt, der Ton ist es, der diesen Film für mich am spannendsten macht. Man könnte die Augen schließen - und hätte ein fieldrecording, mit aller Sinnlichkeit, die diese akustische Strategie auszeichnet. Was ich mir gewünscht hätte: Kein Berlin dazwischen, ein Mehr der fremden Frau in einer fremden Stadt, nicht unbedingt die Katastrophe am Ende des Films (die aber, natürlich, an diese Stelle passt), zwei Stunden erleben, wie eine neue Umgebung ertastet wird, die Spannung jeder Geste, jedes Moments, im Widerstreit zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen-Wollen. Dieser andere Film, der als Potenzial in Marseille liegt, wird hoffentlich noch zu sehen sein.
weiterführende links:
» imdb ~ filmz.de
» movie blog search engine ~ movie magazine search engine
» marseille-notizen der regisseurin
zur erhältlichkeit:
Der Film ist im Rahmen der Revolver Edition der Filmzeitschrift Revolver beim Label Filmgalerie 451 als schlicht konzipierte DVD erschienen. In Berlin ist sie bei den üblichen Anlaufstellen - Videodrom, Filmkunst und in einigen weiteren Videotheken - für einen geringen Preis zu entleihen. In Ausgabe 13 der Zeitschrift findet sich ein ausführliches Interview mit der Regisseurin, das als Quasi-Bonus zur Veröffentlichung zu verstehen ist.
° ° °
kommentare dazu:
psychopaul,
Dienstag, 23. Januar 2007, 21:43
schön interessant, dein Text.
ich habe den vor einigen Monaten auch gesehen und diese Drittelung ziemlich genau so (zwiespältig) wahrgenommen.
Bei der "Fotoshooting"-Sequenz wurde ich jedenfalls von sehr ambivalenten Gefühlen ergriffen, hin- und hergerissen zwischen Langeweile und faszinerter Begeisterung. ;)
ist dir denn schon irgendwas über den folgenden Schanelec-Film "Nachmittag" bekannt bzw. hast du auch frühere Werke von ihr gesehen?
auf jeden Fall bin ich schon sehr gespannt , was sie uns als nächstes kredenzt, spannend dürfte es allemal werden...
ich habe den vor einigen Monaten auch gesehen und diese Drittelung ziemlich genau so (zwiespältig) wahrgenommen.
Bei der "Fotoshooting"-Sequenz wurde ich jedenfalls von sehr ambivalenten Gefühlen ergriffen, hin- und hergerissen zwischen Langeweile und faszinerter Begeisterung. ;)
ist dir denn schon irgendwas über den folgenden Schanelec-Film "Nachmittag" bekannt bzw. hast du auch frühere Werke von ihr gesehen?
auf jeden Fall bin ich schon sehr gespannt , was sie uns als nächstes kredenzt, spannend dürfte es allemal werden...
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