Das "seltsame Erlebnis" gehört zum alljährlichen Ritual der Berlinale. Nur hier, scheint es mir, dickt sich Menschheit im entscheidenden Maße ein, um unbewusst zur bizarren Performance zu geraten. Es muss diese Melange sein, die sich da am Potsdamer Platz bildet: Drei, vier oder gar fünf Filme am Tag, dementsprechend Verlust von Realitätsverhaftung, dann diese Rundherum-Sorglos-Glücklich-Verpflegung durch die Marktstätten in den Arkaden, die Menschenmassen, die herumlaufen/-irren/-delirieren, all dies also führt in der Regel etwa ab Tag 3 oder Tag 4 zu merkwürdigen Vorkomnissen, die einer Anthropologie der Zukunft besser nicht dokumentförmig in die Hände fallen.

Sei's drum, diesmal fand das erste "seltsame Ereignis" bereits am 05. Februar statt. Drei Tage vor Startschuss. Es trug sich zu in den oberen Etagen des Filmhauses, wo die dffb ihre Bibliothek hat. Dorthin wollte ich (natürlich überfällige) Bücher zurücktragen, doch wie ich so vor verschlossener Türe stand und innen drin mir zwei Huscherln, wie sie nur in Bibliotheken wohnen arbeiten können, energisch winken (wohl nicht grüßend, eher verneinend), gewahre ich eben, dass die Bibliothek montags geschlossen hat. Ebenso gewahre ich eine Gruppe von drei Menschen unweit meiner selbst und im Hinblick auf sie bemerke ich, dass der eine von ihnen Herr Terhechte ist, seines Zeichens Chef vom im selben Hause beheimateten "Forum". Neben ihm zwei alte japanische Damen, etwa halb so groß wie er.

"Sie können sich hier umschauen" sagt der gute Mann sichtlich unbeholfen, was beide Damen zu einer Wiedergabe schönster japanischer Silben bewegt, die weder ich, noch sichtlich Terhechte verstand. "You can go around here" versucht's er dann und die eine Dame bespricht dann wieder sehr, sehr lange was mit der anderen. Offenbar fungiert sie als eine Art Dolmetscherin, was ja keinen Sinn macht. Jedenfalls spricht sie mit Terhechte, dann mit ihrer Begleitung, immer abwechselnd.

Das Ganze dauert so seine Zeit und ich lasse derweil per Knopfdruck nach dem Aufzug rufen, auf dass er mich wieder in niedere, ausgangsnahe Geschosse bringen möge. Irgendwas verstehe ich dann, "Domo arigato" sagt die eine, und unter vielen Verbeugungen lassen diese beiden einen erleichterten, aber auch leicht verwirrt wirkenden Forumsleiter zurück. Ich betrete den derweil angekommenen Aufzug, als die beiden mich ansprechen und "down? down? down?" sagen. Ich so: "Down, down" und alles ist gut. Die Damen betreten den Aufzug, Terhechte winkt, die beiden verbeugen sich, mehrmals. Sein Angebot, sich umzuschauen, schienen sie offenbar nicht nutzen zu wollen.

Kaum sind wir aus seinem Blickfeld entschwunden, fangen beide hektisch das Reden an. Sie beachten mich gar nicht weiter, finde ich okay so.

Ich weiß ja auch nicht. Aber es war schon hübsch entrückend. Bibliothek geschlossen, kein Mensch weit und breit, nur wir vier eben, über dem Potsdamer Platz. Einen Moment lang gefällt mir der Gedanker, dass diese beiden, die da vor mir im Aufzug unentwegt in dieser wundervollen Sprache schnattern, große alte Damen des klassischen japanischen Kinos sind, die hier jetzt eben nur keiner kennt. Inkognito aufs Festival.


° ° °




kommentare dazu:



p77a, Mittwoch, 7. Februar 2007, 22:48
tolle Geschichte! hm, welche Grand Dames des japanischen Kinos hätten es wohl sein können? Isuzu Yamada muss ja schon über 90 sein, Setsuko Hara ist auch nicht viel jünger. Kyoko Kagawa vielleicht? Die ist so Mitte 70... :-)
Wünsche schonmal viel Spaß mit den Filmen und der ganzen Melange! Und hoffe auf weitere Augenzeugenberichte.

tschill, Freitag, 9. Februar 2007, 11:55
Bin letztes Jahr von Deinen Nakagawa-Empfehlungen sehr erfreut worden. Schade, daß Du Dich dieses Jahr im Vorfeld so bedeckt hälst.

bogeyscigarette, Freitag, 9. Februar 2007, 20:01
Sehr schöne Begebenheit! :)



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