Die ersten Bilder: Ansichten des Parlamentgebäudes in Idaho - Repräsentation von Politik und Demokratie. Die Fotografie einer Fabrik aber, sagte Brecht, bietet noch kein Verständnis dessen, was eine Fabrik, zumal im Kapitalismus, ist. Was ist Demokratie? Was Politik? State Legislature wagt den Schritt über die Schwelle an der Tür.
Eine Schulklasse besucht das Regierungsgebäude, ein Abgeordneter heißt sie willkommen. Er erklärt, dass die Volksvertreter hier nur wenige Monate im Jahr regieren, also Gesetzesentwürfe diskutieren und verabschieden. Jeder von ihnen ist "ein ganz normaler Bürger von Idaho", es ergebe sich ein Querschnitt der Bevölkerung. Die 105 Politiker könnten unmöglich "von allem" Ahnung haben, es entwickeln sich Experten und Expertisen, das Fundament bildet das politische Vertrauen untereinander.
Schrittweise nähert sich State Legislature den politischen Diskussions- und Entscheidungsprozessen an. Lobbyisten melden sich zu Wort, Bürger aus der Bevölkerung. Allenthalben wägt man ab. Man merkt schnell, wie wichtig die Rhetorik ist und wie stark auf die Geschichte der USA geachtet wird, als welcher historisch erkämpfte Wert die constitution betrachtet wird: Kaum eine Ansicht, die nicht mit ihr argumentiert wird - ob nun pro oder contra ein bestimmtes Anliegen. Zwar kann man kann sich wohl sicher sein, dass Wiseman den Akzent auch gerade auf inhaltlich spannende Debatten gelegt hat - es geht um das Einspruchsrecht der Anwohner wider neue Molkereien, um Rauchverbot in öffentlichen Plätzen und Video-Voyeurismus mithilfe neuester Medien- und Distributionstechnologien -, doch ist schnell offenkundig, dass diese Debattenkultur, so kleinteilig sie zuweilen scheint, nicht das geringste mit denen zu tun hat, die in heimischen Gefilden von Phoenix aus dem Bundestag übertragen werden.
Allzu europäisch dünkelnde Kollegen lachen deshalb während der Pressevorführung an einigen Stellen mit aller Arroganz der Opfer hiesiger autokratischer Politkultur auf. Zum Beispiel an jener Stelle, als ein besorgter Bürger - offenbar ausgebildeter Historiker -, sich in einer öffentlichen Anhörung in der Sache um ein Denkmal für das us-amerikanische Kulturerbe zu Wort meldet: Das Denkmal beinhaltet offenbar auch eine Textsammlung, und der Historiker mahnt nicht berücksichtigte, aber grundlegende Texte an: Dazu gehören nicht nur zahlreiche Stichwortgeber der founding fathers, sondern auch, führt er weiterhin aus, Texte aus der griechischen und römischen Antike. Wie vollkommen richtig dieser Mann liegt, offenbart sich gerade im Nachvollzug der politischen Einzeldiskussionen - jede Abwägung wird historisch und rhetorisch artikuliert -, der Journalistendünkel kennt hier indes nur den Spott; der Rabbi, der sich zuvor zu Wort gemeldet und in den Diskurs eingebracht hat, dass die Zehn Gebote nicht mit aller Selbstverständlichkeit in christlicher Reihenfolge aufgeführt werden sollten, wurde im Kinosaal von denselben ähnlich belächelt. Vielleicht offenbart sich gerade an dieser Schnittstelle der entscheidende Unterschied zwischen amerikanischen und europäischen Politikverständnis.
Dieselben europäischen Kritiker werden wohl auch darauf insistieren, dass Wiseman hier eine "Kritik" des us-amerikanischen Poltikverständnisses gefilmt habe; dem ist keineswegs so. Vielmehr zeigt Wiseman mit ruhigem, unaufgeregten Blick die Welt der demokratischen Entscheidungsprozesse mit allen Stärken und Schwächen, ohne sich aber irgendeine Seite zueigen zu machen. Der Pauken- und Trompetenstil jüngster Polit-Dokumentarfilme, denen Meinung und Propaganda schon von vorneherein wichtiger ist als Erhebung und Analyse eines Sachverhaltes, könnte von der Wiseman'schen Innenbetrachtung einer gesellschaftlichen Institution nicht weiter entfernt sein. Die fast dreieinhalb Stunden Spielzeit, die State Legislature seinem Zuschauer abverlangt, vergehen dabei wie im Fluge und lassen das ganze apparative Setting des Kinobesuchs vergessen, so konzentriert und präzise arbeitet sein Regisseur: Nichts ist spannender als die Wirklichkeit. Ihrem seit mittlerweile fast 40 Jahren tätigen und vielleicht wichtigsten Chronisten kann man für solche Dokumente nur unendlich dankbar sein.
Doch was wird durch Anschauung einer Institution erkannt, wenn deren Strukturen auch im vorliegenden Film in erster Linie durch Personen und deren politisch-rhetorisches Handeln repräsentiert werden? Wiseman scheint diese Frage nicht direkt zu stellen, aber er lässt sie einfließen: Immer wieder rückt das eigentliche Rückgrat einer solchen Institution für einige konzentrierte Einstellungen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: Eine Angstellte sortiert vor einem ganz physischen Nachrichtenverteiler Communiqués und Bulletins ein, eine andere bedient einen Kopierer. Immer wieder kommen Nachrichtenboten in die Sitzungen und verteilen - mal gelbe, mal weiße - Papierblätter. Sekretärinnen sitzen vor Windows-betriebenen Rechnern. Ein derart umfassender, oft im kleinlichen und kleinlichsten sogar notwendig sich artikulierender Apparat, der auf abstrahierte Wirklichkeit Zugriff benötigt und sich auf diese, in seinen Entscheidungen, bezieht, muss notwendigerweise auf ein ausgeklügeltes Nachrichten- und Kommunikationssystem basieren. Dies, vielleicht, ist die eigentliche Wirklichkeit und Basis der Entscheidungsprozesse, die hier in Ausschüssen, Nebenräumen und offiziellen Büros vonstatten gehen. Nicht zuletzt ist auch auffallend, dass sich hier die eklatanteste Grenze zwischen den Geschlechtern ziehen lässt. Wiseman ist sich zumindest der Existenz dieser beiden Sphären im hinreichenden Maße bewusst, um sie als stumme Hinweise einzuschieben: Den Nachrichtenverteilern bleibt man zwar fern in diesem Film, aber ein zweiter Film schimmert in diesen Momenten durch.
State Legislature schließt mit einem doppelten Höhepunkt: Der eine ist eine Auseinandersetzung um die gleichgeschlechtliche Ehe, welche die Institution der Volksvertretung selbst an ihre eigenen prinzipiellen Schranken treibt - man spürt die Ernsthaftigkeit, das institutionelle Bewusstsein jedem Moment, jedem Beitrag ab: Ein Demokratie-Krimi, der gefangen nimmt. Der zweite schließlich ist ein Nachruf auf eine Abgeordnete, die an Krebs verstorben ist. Ein Dudelsackspieler tritt auf und spielt ein Trauerstück. Seine Füße setzen sich in Bewegung, er läuft durch den Plenarsaal, aus der Türe hinaus, diese wird geschlossen, Schwarzblende: Directed, Edited and Produced By Frederick Wiseman, Arte France, erfahren wir noch vor der Pressevorführung im Statement, das auf deren Drängern verlesen werden muss, hat den Film zwar ko-produziert, in dieser Fassung aber nicht angenommen.
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