Eines gleich vorneweg: Ich liebe Filme mit amerikanischen Landschaften aus dem Landesinnern, also jenseits der üblichen hyper-urbanen Schauplätze, die das US-Kino so häufig zu bieten hat. Wenn dann noch ein Quentchen jener spezifisch amerikanischen "Ästhetik der Armut" hinzukommt und im Soundtrack viel americana, dann kann ich diesen Film eigentlich nur großartig finden.

Ich muss dies vorausschicken, weil Shotgon Stories, wie in anderen Festivalbesprechungen hie und da bemerkt wurde, nicht wirklich viel Neues bietet, mir aber dennoch, aus nun bekannten Gründen, sehr gefallen hat. Es handelt sich um einen Rachefilm in der Nähe des klassischen Motivs von Kain und Abel. Gedreht wurde er von Jeff Nichols, der in Austin lebt, einer traditionell sehr film- und popkulturaffinen Stadt, und mit dem ich obendrein den Jahrgang teile. In gedämpften Erzähltempo und sehr schön ausgeleuchteten Einstellungen erzäht er von einer Familie an der Peripherie - nicht ganz white trash aber eben schon fast -, in der es vor Jahren zur Trennung zwischen den Eheleuten kam. Auf der einen Seite stehen die Söhne der Mutter, auf der anderen die Söhne des Vaters mit einer anderen Frau. Der Vater stirbt, die Söhne der Mutter tauchen am Grab auf und zeigen sich wenig versöhnlich, ganz im Gegenteil. Der eine (mit unglaublicher Reduktion und Präsenz gespielt von Michael Shannon, dem einzigen Lichtblick in Oliver Stondes müde geratenen World Trade Center und darüber hinaus ein Schauspieler, der, meines Erachtens, gute Aussichten hat, "der neue Willem Dafoe" zu werden) spuckt noch auf den Sarg. Dies tritt eine Gewaltspirale los: Auf beiden Seiten der Halbbrüder sind alsbald Tote zu verzeichnen...

Wie gesagt, Jeff Nichols erfindet nichts neu. Sein Film trägt das Signum "kleines Independent-Movie" deutlich mit sich herum. Man kann dies alles bemäkeln und ist filmkritisch unbestreitbar auf der richtigen Seite: Man kann sich aber - auch dies muss auf einem Festival gestattet sein - zurücklehnen und das gute Handwerk - Jeff Nichols ist Debütant! - genießen, zumal wenn dem Film die Fläche einer großen Leinwand beschieden ist.

Mit einigem Gespür für die richtigen Bilder und das angemessene Erzähltempo schraubt Nichols die Spirale der Gewalt nach oben, ohne dabei auf den grellen Effekt zu zielen: Nichols zeigt weniger, als dass er bewusst schneidet und abblendet. Dem Schmerz auf Zuschauerseite tut dies keinen Abbruch; der Pathosfalle des Stoffes schlägt er indes ein Schnippchen: Statt existenzialistisch verbrämter Maskulinität steht hier immer wieder der Zweifel im Vordergrund, das Abwägen und die Furcht vor den Konsequenzen der eigenen Entscheidung.

Und Shotgun Stories ist ein ur-amerikanischer Film im eingangs umrissenen Sinne: Man sieht das Hinterland von Arkansas (wo der Film gedreht wurde), der Film spielt in einer verarmten Gegend, verfallene Industrieanlagen säumen den Rand dieser Geschichte, man sitzt abends auf einer Veranda in ausgeleierten Klappstühlen, trinkt Dosenbier und übt sich in amerikanischer Lakonie. Der Staub der Verweildauer in diesem Niemandsland liegt tief in den Falten der Gesichter und auf dem Fett der Haare der Slacker, um die es in der Hauptsache geht. Dazu immer wieder: Melancholische Gitarrenstücke, durchsogen von altem Blues und Country.

Filmkritik muss auch mal fünfe gerade sein lassen können. Shotgun Stories ist kein innovativer, eher ein schöner, zumindest aber von Grund auf sympathischer Film. Aufmerksam macht dennoch das hohe filmische Gespür seines Regisseurs; den Namen des vorstellig werdenen Debütanten, Jeff Nichols, sollte man sich merken. Ich bin mir fast sicher, dass man von ihm noch einiges hören wird. Für meinen Teil bin ich jedenfalls gespannt und freue mich auf eine Wiederbegegnung.

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kommentare dazu:



schweiz0, Donnerstag, 22. Februar 2007, 05:32
Darf Filmkritik auch berühren?
Sympathie zeigen, oder doch nur alles wieder erklären und zersetzen? Sich sogar dafür rechtfertigen müssen? Das wäre doch eine Chance gewesen, etwas aus sich näherzubringen.
"Fünfe gerade sein lassen" als (treuherzige) angreifbare (ja!) Einfühlung. Noch einmal eine andere Art der Wahrnehmung.
Der Theoretiker hatte nicht den Mut? Hah.


thgroh, Donnerstag, 22. Februar 2007, 19:26
Spätestens seit der Talkshow-Madness der 90er Jahre ist doch "etwas aus sich näherbringen" nur eine Chiffre für Personality-Pornografie.

Oder hat "etwas aus sich näherbringen" vielleicht irgendwas zu tun mit Säuischem aus dem Fäkalbereich?

Man weiß es nicht, man weiß es nicht...



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