Die "Jungle World" wird 10. Der linken Wochenzeitung aus Berlin ist dies einen so amüsanten, wie informativen Rückblick wert, der sich über eine ganze Ausgabe erstreckt; ich meinerseits entbiete beste Glückwünsche und freue mich auf mindestens weitere zehn Jahre des Zentralorgans der Rocklinken.

Dass ich mich über dieses Jubiläum freue, hat natürlich viele Gründe. Der vorderste ist publizistikwissenschaftlich freilich schnell erklärt: Einigen Studien zufolge greifen Medienkonsumenten vor allen Dingen auf Medien mit jenen Inhalten zurück, die eigene Ansichten und Meinungen bestätigen und verstärken. Für mich bedeutet dies, dass im hiesigen Blätterwald keine Tages- oder Wochenzeitung meiner eigenen Ansicht so nahe kommt wie eben besagtes Kreuzberger Blatt. Wo sonst findet man schließlich ein dezidiert linkes Organ, dass Juden und Israelis nicht totzuschlagen und Israel den Fluten des Mittelmeers zu überantworten gedenkt? Wo sonst wird den linken Unarten eklen Moralisten- und Körnerfressereitums auf so unverschämt sympathische Weise das einzig sinnvolle Körperteil, richtig: der Mittelfinger, gezeigt? Wo sonst gibt's statt linker Gartenzwergkolonien nochmal eine Ahnung davon, was das schöne Leben sein könnte? Eben!

Ja, manchmal liegt die Zeitung nicht ganz richtig. So fuckin' what. Nur die übelsten Menschenfeinde haben beim Patentamt ein Anrecht auf Unfehlbarkeit(TM) hinterlegt. Mag nicht jedes Cover den Gepflogenheiten politischer Korrektitüde entsprechen, so ist's doch jedes Mal erfrischend, weil ein paar Koordinaten verschoben oder zumindest in Frage gestellt werden. In Frage stellen finde ich nämlich ganz grundsätzlich gut, schlimmer als jede Angemessenheit ist schließlich Gesinnungskruste und ästhetischer Biedermeier. Lieber zweimal gut provoziert, als einmal es allen recht gemacht.

Aber es gibt ja noch andere Gründe, warum ich mich dieser Zeitung mit dem goldenen Herzen romantischer Krimineller so verbunden fühle (Abo gekündigt: Februar 2001). Zum einen, weil ich just zu dem Zeitpunkt, als das Blatt unter schwersten, ja skandalösen Bedingungen die Welt betrat, mit einigen Provinzgenossen zur gemeinsamen Wohnungssuche in Berlin weilte. Mann, was hatte das Eindruck auf mich gemacht: Friedrichshain lag damals, Mai '97, ja noch halb in Trümmern, an den heutigen Amüsierbetrieb daselbst war noch lange nicht zu denken und jede zweite Fassade verkündete es per Anschlag, was in den Redaktionsräumen der "Jungen Welt" vor sich ging und dass eine Zeitung namens "Jungle World" in Aktion getreten sei. Es gab damals noch besetze Häuser und auf einen wie mich, der damals noch eine lustige Frisur, Militärhosen im camouflage-Stil und schwarze T-shirts mit düsteren Bildern das Elend dieser Welt betreffend trug, machte das schon höllisch Eindruck, was hier, in dieser Stadt, vor sich ging. Ich war mir sicher: Hierher kam ich und würde die Revolution noch sehen. Die nächsten 13 Monate sah ich dann in braver Ausübung meiner Bürgerpflicht zunächst einmal nackte Seniorengenitalien. Das (und die) war(en) meist beschissen. Festzuhalten bleibt aber: Jedes Jubiläum der "Jungle" ist damit für mich auch "Berlin-Jubiläum".

Dann immerhin veröffentlichte ich in der "Jungle" auch meinen ersten Feuilleton-Artikel. Hurra, auch wenn sonderlich stolz auf ihn ich eigentlich nicht bin. Ist bislang auch mein einziger geblieben, was späteren Werkphilologen die Arbeit immerhin erleichtern wird.

Schlussendlich gibt es in der "Jungle" immer wieder Dinge, die's woanders ganz einfach mal nicht gibt. Die Filmkritiken sind zwar oft mäßig erfreulich; entweder es herrscht Ahnungslosigkeit oder Pornografie mit liebgewonnenen Seminarhandapparaten. Dann und wann gibt's aber echte Leckerbissen; wenn Kuhlbrodt (Dietrich) dort die Feder schwingt zum Beispiel (grad aktuell wieder mit einem ganz tollen Text), oder wenn Seeßlen sich mal so gehen lassen kann, wie's die Bürgerhefterln ihm wohl kaum gestatten. Nettelbeck schrieb dort sehr schöne Sachen, mal gibt's tolle Dossiers oder Artikelreihen, die feuilletonistisch betrachtet streng genommen gar keinen Sinn ergeben, weil sie von Aktualitätsbezug nicht sind. Ich finde das toll. Das macht die Zeitung zur Wundertüte, zum Experimentallabor. Das stiftet Freude und Frohsinn und alle sind sich's zufrieden.

Oder damals, Kuhlbrodts (Detlef ist jetzt gemeint, nicht Dietrich) Tagebuch aus dem, ich glaub, November. Ein Glanzstück von Zeitungsprosa, so ein bisschen wie Alltagsbloggen in einer Wochenzeitung. Als Stern, Tagesspiegel, Spiegel, Focus und wie die ganzen Spelunken nicht alle heißen, noch nicht einmal den Arsch zur Hand hatten, mit dem man Weblogs schließlich nicht anschaut, gab's in der "Jungle World" schon erste, neugierige, kundige Berichte drüber. Der Praschl hat da mal was getextet, wenn ich mich nicht irre.

Dann noch der Begriff der "Rocklinken", für den man unendlich dankbar sein muss. "Poplinke", was für ein totaler Scheiß, ma echt jetz, wie völlig Wurscht. Aber "Rocklinke", yeah, das isses!

Die "Jungle World" ist ein Freibeuter im Ozean der waldvernichtenden Industrie. Manchmal gibt's nur mitgebrachtes Strandgut, aber häufig kehrt man von verwegenen Expeditionen mit vollen Händen zurück und kann dann exquisite Beute bestaunen.

Als Vagabund solcher Art kann man's nicht jedem recht machen. Die "Jungle" macht's genau den richtigen nicht recht und tut gut daran - auf die nächsten Jahre, mögen's unzählige sein!


° ° °




kommentare dazu:



franz fuchs, Sonntag, 1. Juli 2007, 21:00
Ja, die "Jungle World" ist wichtig und für mich immer auch ein Exerzitium insofern, als ich austesten kann, wieviel einer anderen Meinung ich ertragen kann, ohne psychosomatische Beschwerden zu bekommen. Oft schwindle ich aber auch und weiche den potentiell blutdruckschädigenden Beiträgen prophylaktisch aus. (Am regelmäßigsten lese ich die Wirtschafts-Berichterstattung.)

Da sehe ich übrigens über die bisher einmalige Verbindung vom Filmtagebuch zu Jungle World noch eine weitere Connection: Beide Medien können einen (dh mich) ärgern - das Filmtagebuch tut dies, wenn wieder mal "Vom-Leder-Ziehen" gegen irgendeine "Saubande" angesagt ist - aber es wäre doch sehr schade, wenn es sie nicht mehr geben würde :-)


ollicchello, Dienstag, 3. Juli 2007, 22:52
Soviel Lobhudelei für ein Blatt, das von einer kleinen Minderheit für eine kleine Minderheit innerhalb der Linken gemacht wird ?
Aber immerhin wird den richtigen "Antideutschen" ein Hauch Exklusivität suggeriert, wenn sie dieses Druckerzeugnis konsumieren. Und das kann ja dann auch das Selbstbewußtsein steigern und neue Kräfte verleihen für den Kampf gegen die bösen Anti-Amerikaner.

Gehörst Du auch zu der Fraktion, die Israel-Kritik mit Antisemitismus verwechselt ?


thgroh, Dienstag, 3. Juli 2007, 23:19
Ich kann Dich beruhigen. Ich erkenne Antisemitismus, wenn ich ihn sehe, und verwechsle also nix damit. Reinsten Herzens kann ich deshalb bestätigen, keiner wie auch immer gearteten "Verwechslungsfraktion" anzugehören.

Dass "richtige Antideutsche" die "Jungle World" lesen. ist mir indessen neu. Da habe ich wohl einige Verlautbarungen der Bahamas falsch verstanden.


ollicchello, Dienstag, 3. Juli 2007, 23:28
Da bin ich nun wiederum beruhigt, daß Du noch differenzieren kannst .Die Fähigkeit ist ja zum Teil bei einigen Linken nicht besonders stark ausgeprägt !
Jetzt hab ich's aber ganz vorsichtig formulietrt ;-)

Lies lieber die "jW" , denn dort bekommt man täglich nonkonforme, anti-kaptilastische Kost serviert ;-)



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