Thema: Berlinale 2004
16. Januar 04 | Autor: thgroh | 0 Kommentare | Kommentieren
Zwei tragende Themen gibt es in diesem Film: Die Erinnerung (oder sagen wir: die Vergangenheit) und das "Dahinter". Und natürlich besteht ein Zusammenhang: Was, wenn sich etwas hinter der Erinnerung an die Vergangenheit verbirgt? Eine Vergangenheit etwa, an die sich nicht erinnert werden will. Verdrängung also, Sigmund Freud, all diese Dinge.
Die Gegenwart des Films erstickt geradezu am Vergangenem: Der Schauplatz des kammerspielartigen Geschehens, ein altes Anwesen irgendwo im koreanischen Nirgendwo, könnte glatt aus dem viktorianischen England stammen. Alles bestickt und geradezu aufdringlich pittoresk. Dann die Figuren darin (grotesk deplaziert vor diesem Hintergrund eigentlich): Vater, zwei Töchter und die böse, böse Stiefmutter (Ja! Genau!). Dass da früher was war, was das Heute nicht so recht funktionabel gestaltet, wird umgehend klar. Alles neurotisch, hysterisch, paranoid. Wer wem wann was angetan hat: Kaum ersichtlich. Andeutungen zwar überall, nie aber Aussagen, Auseinandersetzungen. Ausflüchte und Gemeinheiten am Rande. Stieftöchter in Schränke sperren beispielsweise, ganz wie das Vorbild aus dem Märchen. Und dann in alten Kisten Fotos von ganz früher. Als die leibliche Mutter noch lebte: Schock, Trauma, Gesichter werden durchgestrichen, rausgerissen, weg damit, weg mit dieser Vergangenheit. Verdrängungsarbeit, man kommt ja kaum mehr zu was anderem. Es entstehen auf engstem Raum Dynamiken, die ihren Ursprung in der Vergangenheit haben: "Was zum Teufel hat uns hierher gebracht?", irgendwann als Frage im Raum, kurz bevor man dem anderen die schwere Statue über den Schädel zieht. Lieber keine Antworten abwarten, könnte äußerst unangenehm werden. Draufhauen, aus dem Weg räumen, statt sich erinnern. Bis es soweit kommt, ist man längst schon im Kinosessel versunken, ganz tief drinnen in dieser angespannten Welt, auch wenn man selbst mehr Fragen als Antworten hat. Das ist in dem Moment egal.
Wo die Vergangenheit, das Erinnerungsvermögen derart trügerisch ist, darf auch der Raum gut und gerne Gegenstand der Sabotage sein. Dann wird der Psychothriller zum Horrorfilm. Und der hat dem 19. Jahrhundert wieder sehr viel zu verdanken. Da ist er ja schon wieder, dieser Sigmund Freud. Das Unheimliche des "Dahinter", das Unheimliche des seiner Integrität verlustig gegangenen Raumes. Türe knarzen? Was ist dahinter? Vorhänge wabern? Und dahinter? Was verbirgt sich unter der Spüle? Und wer stampft da oben, einen Stock drüber, so laut über den Boden? Ist doch keiner hier! Dafür aber quillt Blut unter den Dielen hervor, wenn man mal genau hinkuckt (das macht natürlich nur die Kamera, also wir): Hier hat's offenbar Leichen im Keller. Keller, Erinnerung, Vergangenheit, Verdrängung - wir kennen das Spiel bereits. Und jeder hat seinen eigenen Raum: Selten sieht man mal zwei in einer Einstellung, mit Ausnahme der beiden Geschwister natürlich, denn um die geht's ja, der Rest: isoliert. Über lange Strecken wie's scheint sogar komplett verschwunden, wenn der Film sich gerade mal auf wen besonders konzentriert.
Das Bemerkenswerte: Man fasst den Horrorfilm ästhetisch wie inhaltlich zusammen. Das hat man mit Kubricks Shining gemein. Etwas Haunted House, dann Geisterfilm, verdrängte Schuld, also somit dann auch Poe, doch dann wieder die Kehrtwende und weg von all dem Hokuspokus: Also moderner Horrorfilm. Wo der Nachbar der Böse ist. Wie wenig metaphysisch es eigentlich zugeht, sieht man schon etwa, wenn die expressionistischen Traditionen verpflichtete Ausleuchtung zwar vorhanden, doch nie aber, wie beispielsweise bei Bava, eine dem Effekt untergeordnete und gekünstelte ist, sondern ihren Ursprung direkt in der Diegese findet: Ein Lampenschirm wird umgeworfen, bevor er von unten Gesichter in ein seltsames Licht kleiden darf. Und wenn am Ende das Projekt der Auflösung des Raumes weit genug fortgeschritten ist, wenn Verlässlichkeit als Zustand inhaltslos geworden ist, dann ist die Begegnung mit sich Selbst so naheliegend wie, in Folge, gruselig. Und jetzt bitte Geigen! Ganz laut, immer der selbe, gellende Ton. Sie wissen schon.
Der Film läuft auf den 54. Internationalen Filmfestspielen Berlin im Rahmen des Internationalen Forums des jungen Films.
>> A Tale of Two Sisters (Janghwa, Hongryeon; Südkorea 2003)
>> Regie/Drehbuch: Kim Jee-Won
>> Darsteller: Lim Su-Yeong, Mun Geun-Yeong, Yum Jung-Ah u.a.
imdb | mrqe
alle berlinale-kritiken | kritik von th.reuthebuch | kritik von e.knörer
Die Gegenwart des Films erstickt geradezu am Vergangenem: Der Schauplatz des kammerspielartigen Geschehens, ein altes Anwesen irgendwo im koreanischen Nirgendwo, könnte glatt aus dem viktorianischen England stammen. Alles bestickt und geradezu aufdringlich pittoresk. Dann die Figuren darin (grotesk deplaziert vor diesem Hintergrund eigentlich): Vater, zwei Töchter und die böse, böse Stiefmutter (Ja! Genau!). Dass da früher was war, was das Heute nicht so recht funktionabel gestaltet, wird umgehend klar. Alles neurotisch, hysterisch, paranoid. Wer wem wann was angetan hat: Kaum ersichtlich. Andeutungen zwar überall, nie aber Aussagen, Auseinandersetzungen. Ausflüchte und Gemeinheiten am Rande. Stieftöchter in Schränke sperren beispielsweise, ganz wie das Vorbild aus dem Märchen. Und dann in alten Kisten Fotos von ganz früher. Als die leibliche Mutter noch lebte: Schock, Trauma, Gesichter werden durchgestrichen, rausgerissen, weg damit, weg mit dieser Vergangenheit. Verdrängungsarbeit, man kommt ja kaum mehr zu was anderem. Es entstehen auf engstem Raum Dynamiken, die ihren Ursprung in der Vergangenheit haben: "Was zum Teufel hat uns hierher gebracht?", irgendwann als Frage im Raum, kurz bevor man dem anderen die schwere Statue über den Schädel zieht. Lieber keine Antworten abwarten, könnte äußerst unangenehm werden. Draufhauen, aus dem Weg räumen, statt sich erinnern. Bis es soweit kommt, ist man längst schon im Kinosessel versunken, ganz tief drinnen in dieser angespannten Welt, auch wenn man selbst mehr Fragen als Antworten hat. Das ist in dem Moment egal.
Wo die Vergangenheit, das Erinnerungsvermögen derart trügerisch ist, darf auch der Raum gut und gerne Gegenstand der Sabotage sein. Dann wird der Psychothriller zum Horrorfilm. Und der hat dem 19. Jahrhundert wieder sehr viel zu verdanken. Da ist er ja schon wieder, dieser Sigmund Freud. Das Unheimliche des "Dahinter", das Unheimliche des seiner Integrität verlustig gegangenen Raumes. Türe knarzen? Was ist dahinter? Vorhänge wabern? Und dahinter? Was verbirgt sich unter der Spüle? Und wer stampft da oben, einen Stock drüber, so laut über den Boden? Ist doch keiner hier! Dafür aber quillt Blut unter den Dielen hervor, wenn man mal genau hinkuckt (das macht natürlich nur die Kamera, also wir): Hier hat's offenbar Leichen im Keller. Keller, Erinnerung, Vergangenheit, Verdrängung - wir kennen das Spiel bereits. Und jeder hat seinen eigenen Raum: Selten sieht man mal zwei in einer Einstellung, mit Ausnahme der beiden Geschwister natürlich, denn um die geht's ja, der Rest: isoliert. Über lange Strecken wie's scheint sogar komplett verschwunden, wenn der Film sich gerade mal auf wen besonders konzentriert.
Das Bemerkenswerte: Man fasst den Horrorfilm ästhetisch wie inhaltlich zusammen. Das hat man mit Kubricks Shining gemein. Etwas Haunted House, dann Geisterfilm, verdrängte Schuld, also somit dann auch Poe, doch dann wieder die Kehrtwende und weg von all dem Hokuspokus: Also moderner Horrorfilm. Wo der Nachbar der Böse ist. Wie wenig metaphysisch es eigentlich zugeht, sieht man schon etwa, wenn die expressionistischen Traditionen verpflichtete Ausleuchtung zwar vorhanden, doch nie aber, wie beispielsweise bei Bava, eine dem Effekt untergeordnete und gekünstelte ist, sondern ihren Ursprung direkt in der Diegese findet: Ein Lampenschirm wird umgeworfen, bevor er von unten Gesichter in ein seltsames Licht kleiden darf. Und wenn am Ende das Projekt der Auflösung des Raumes weit genug fortgeschritten ist, wenn Verlässlichkeit als Zustand inhaltslos geworden ist, dann ist die Begegnung mit sich Selbst so naheliegend wie, in Folge, gruselig. Und jetzt bitte Geigen! Ganz laut, immer der selbe, gellende Ton. Sie wissen schon.
Der Film läuft auf den 54. Internationalen Filmfestspielen Berlin im Rahmen des Internationalen Forums des jungen Films.
>> A Tale of Two Sisters (Janghwa, Hongryeon; Südkorea 2003)
>> Regie/Drehbuch: Kim Jee-Won
>> Darsteller: Lim Su-Yeong, Mun Geun-Yeong, Yum Jung-Ah u.a.
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