Dienstag, 15. Februar 2005
Der Film läuft in der Sektion Panorama

“Deep Throat“ ist ein Mythos, tatsächlich in seiner filmhistorischen Bedeutung vergleichbar mit dem ebenfalls auf dem Festival gezeigten „Heavens Gate“. Wenn man „Inside Deep Throat“ mit der Heavens Gate-Doku „Final Cut“ vergleicht, begreift man, was dem letztgenannten fehlt. Der Film schafft es die ganz persönlichen Tragödien der Beteiligten in Bezug zu setzen, zur soziokulturellen Dimension des Films.

Es würde jetzt zu weit führen jede Spur aufzugreifen, die der Film legt. Die beängstigende Entwicklung der radikalen religiösen Rechten in den Staaten jedoch hat absurderweise spätestens zur Zeit der Aufführung von „Deep Throat“ (1972) ihren Anfang genommen. Es ist spannend zu sehen, wie sich komplexe gesellschaftliche Entwicklungen auf einzelne Ereignisse zurückführen lassen. „Inside Deep Throat“ ist dehalb ein politischer Film, durch und durch, im positiven Sinne. Für mich entscheidend ist dabei der Freiraum für sich selbst vervollständigende Gedanken und Schlussfolgerungen, den mir die Filmemacher zugestehen. Und ich hoffe immer, genau diese Frage steht bei jeder Arbeit auch für die Autoren im Mittelpunkt.

Es gibt Momente, in denen für meinen Geschmack der Rahmen zu eng gesteckt ist, wenn der manipulative Charakter zu deutlich durchschlägt. Wenn man einen Gesprächspartner auch außerhalb der verabredeten Einfassung zeigt, wenn man also konkret beispielsweise das Bild stehen lässt nachdem alles gesagt ist, dann provoziert man die Entgleisung. Unterhaltsam ist das allemal, fair jedoch wohl nicht, man braucht sich nur in den Pamphleten Michael Moores umzuschauen.

Der Kontext ist es wohl, der die Regeln vorgibt. „Inside Deep Throat“ ist für HBO produziert worden, ein Sender, der in den USA mittlerweile praktisch überall ins Premium Cable eingespeist wird, also ein verhältnismäßig großes Publikum erreicht. Unter dem Strich mochte ich „Inside Deep Throat“ aber vor allem wegen der liebevollen Weise, mit der er den Beteiligten begegnet, einer handvoll naiv-skurrilen bis merkwürdigen Protagonisten die vom Lauf der Zeit überrollt wurden. Dabei wollten sie doch nur ein bißchen Spaß haben.


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Der Film läuft in der Sektion Panorama

Zur Abwechslung mal ein Film der etwas zu sagen hat. Zunächst größte Vorbehalte meinerseits. Es geht um Utopien, um Aussteigertum, Hippiekram und begrabene Träume. Der Film wählt die Form des klassischen Erzählkinos und muss dabei jede Menge Balast mit sich herumschleppen. Zu Beginn verspricht das Ganze furchtbar zu werden. Daniel Day Lewis und seine Filmtochter leben praktisch allein auf einer vorgelagerten Insel auf dem Gelände einer ehemaligen Kommune im Osten der USA. Zwei Dylan Songs etablieren mit dem Holzhammer die gewünschte Atmosphäre. Lewis, seine Figur natürlich, lebt nicht im Hier und Jetzt. Er belügt sich selbst und hat, nach einer überstandenen Herzattacke, nicht gerade das was man eine gute Zeit nennt.

Die Kamera ist ganz nah dran an ihren Figuren und spätestens nachdem Lewis´ neue Flamme und deren zwei Söhne mit dem U-Haul Anhänger auftauchen beginnt es spannend zu werden. Rebecca Miller, im übrigen Tochter von Arthur Miller und Ehefrau von Daniel Day Lewis, hat einen Schauspielerfilm gedreht und es ist kein Wunder warum sie auf einen hervorragenden Cast zurückgreifen kann. Es gibt wunderbar geskriptete Dialogszenen im Dutzend, eine erstaunlich intelligent austarierte Betrachtung des Themas und ein sensationelles Debüt von Camille Belle in der Rolle der Tochter zu bestaunen. Das Buch begeht nicht den Fehler die soziologische Dimension des Stoffs in den Mittelpunkt zu rücken, sondern erzählt über die latent inzestuös angelegte Beziehung zwischen Vater und Tochter.

Das geschieht immer mit der gebotenen Widersprüchlichkeit, bezieht immer auch die Nebenfiguren organisch in das Geschehen mit ein. Am Ende, wenn Lewis röchelnd auf dem Totenbett liegt, rückt die Kamera beiläufig Melvilles Moby Dick auf dem Nachttisch ins Bild. Der Größenwahn, die Lebenslüge, das Erbärmliche, schlicht alles was Menschlichkeit ausmacht spricht aus jeder Pore dieses Films, der dennoch zwiespältig bleibt. Seine Schwäche ist die deutlich spürbare Haltung der Regisseurin zu ihrem Sujet. Aus ihrer Sicht ist die letzte Szene vermutlich nur konsequent, wenn Rose, die Tochter, in einem Flash Forward das Vermächtnis ihres Vaters zumindest ideell weiterführt und dabei wie die junge Joan Baez aussieht.


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Das Tempo hat sich noch einmal verschärft. Jetzt gilt es ausschließlich zu sehen, zu schreiben und zu schlafen. Erste Auflösungserscheinungen, deshalb von meiner Seite zwei kurze Texte.

German Cinema: Kebab Connection (Anno Saul; Hamburg 2004)

Ein frühes Drehbuch von Fatih Akin, verfilmt von Anno Saul (Grüne Wüste) unter der Flagge von Wüste Film. Ich wollte sehen wie sich Nora Tschirner schlägt, der ich sehr gerne bei der Arbeit zusehe. Krude Komödie, mit viel Drive und etlichen Lachern. Nervig die Verdichtungen, wenns emotional werden soll. Das passiert mit der Regelmäßigkeit eines Schweizer Uhrwerks und bremst den Film gewaltig ein. Am besten wenn die humorige Seite des Culture-Clash Aspekts ausgespielt wird, Griechen und Türken und Deutsche, ihr wisst Bescheid. Alles in allem Junk Food für zwischendurch, souverän inszeniert, den man sich durchaus reinziehen kann. Von Nora Tschirner hätte ich gerne mehr gesehen, wirkt in dieser Geschichte unterfordert. Raus nach 45 Minuten.


Forum: Jiang Hu (Wong Ching Po; Hong Kong 2004)

Werde vermutlich auf das Unverständnis der Hongkong-Kenner stoßen. Für mich ein unerträglicher Pseudocooler Gangsterstreifen. Man braucht viel Zeit um ungelenk die Prämisse zu erzählen. Triadenboss Hung (Andy Lau) will sich aus dem Geschäft zurückziehen. Alle bekannten Zutaten sind da. Die Männerfreundschaft, die Rachegeschichte, eine Prostituierte. Permantes nervtötendes Cantopop-Gedudel auf der Tonspur, in Posen erstarrte Schauspieler. Raus nach 20 Minuten.


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Herrlich! Ausgeschlafen und voller Vorfreude, durch heftiges Schneetreiben stapfend, Schritt für Schritt die Füße in die knirschende, rutschige, weiße Unterlage treibend, das Gesicht vereist, die Augen zugekniffen, die Zunge hechelnd wie ein zu kurzer Schal aus dem Munde hängend, geriet mir der täglich wiederkehrende 15-minütige Spaziergang zur S-Bahn heute zum Genuß.

Im Kino angekommen kann ich froh sein noch einen Platz zu ergattern. Links und rechts von mir angenehme Menschen, keine Selbstverständlichkeit dieser Tage. Echte Cineasten – genau wie ich. Da gibt es keinen Mucks, kein Geraschel und Geräusper. Später, bei der nächsten Vorführung, werd ich einen Trampler hinter mir zu sitzen haben. Das sind jene Zeitgenossen, die unentwegt mit den Füßen gegen die Lehne des Vordersitzes trampeln und dann ganz verwundert gucken, wenn man sie zurechtweist.

Zurechtweisen ist übrigens in den letzten Tagen zu meiner Lieblingsbeschäftigung geworden. Ich warte regelrecht auf eine Verfehlung, die ich dann umgehend ahnde. Das bleibt nicht unbemerkt. Selbst die Klofrau sieht sich nervös um wenn ich zwischen zwei Vorführungen dahergeprescht komme. Am Abend torkle ich dann ausgehungert in die Potsdamer Arkaden um kurz darauf in der Bahn gen Heimat zu dösen. Da fällt mir eine zerlesene Morgenpost ins Auge. Die Überschrift: „Vorsicht, Cineasten! Beobachtungen am Potsdamer Platz“. Dann: „Sein Kontakt zur Realität ist knapp bemessen. Man muss um ihn Angst haben“. Zustandsbeschreibung, die zweite ist hiermit beendet.


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Der Film läuft in der Sektion Panorama

Eine Frau und ein junger Mann lieben sich. Sie haben Sex, immer wieder. Der Mann ist minderjährig, stellt sich heraus, nicht nur in Korea ein Fall für den Richter. Die Medien stürzen sich auf die Geschichte, ein besonders aufdringlicher Journalist hängt sich an ihre Versen und schießt Fotos. Die Frau wird zu 100 Tagen Sozialdienst verdonnert, den sie in der Psychiatrie ableistet. Dennoch können die zwei nicht voneinander lassen. Man taucht in der Folge bei der Schwester der Frau unter, sucht Bumshotels auf, bei denen die Kennzeichen der geparkten Autos dezent verdeckt werden und hat vor allen Dingen ausgedehnten Sex – warum auch nicht.

Der Film beruht auf einer wahren Begebenheit. In Korea, muss man dazu wissen und weiss ich von einem koreanischen Freund, hat das noch erheblich mehr Zündstoff als im „Liberté toujours“-Europa. Die Rollenverteilung wird nach wie vor strikter gehandhabt auch wenns da natürlich große Unterschiede gibt, je nach Herkunft, kulturellem Background usw. Dennoch gibt die Geschichte nicht allzuviel her. Park Chul-soo konzentriert sich auf den privaten Bereich, interessiert sich für die Anziehungskraft zwischen den Liebenden und tut dabei ganz locker. Soll heißen, es gibt jede Menge Bettszenen, oftmals erfasst die Kamera in der Totalen das Geschehen, bewegungslos, einmal sogar mehrere Minuten lang.

Der grippegeschwächte Park Chul-soo beschwört das Publikum vor der Aufführung, den Film so zu sehen als hätte man Sex mit seiner Freundin, ganz normal, zu Hause. Vielleicht meinte er damit, es sei ihm beim Drehen um eine Form von Authentizität gegangen, ich weiß es nicht. Der Übersetzer war bei den völlig unverfänglichen, für koreanische Ohren jedoch möglicherweise schlüpfrigen Bemerkungen des Erkrankten irritiert und fiel eher durch nervöses Gekicher als verständliche Übersetzung auf.

Mal abgesehen davon wie spannend es sein kann zwei engagierten Schauspielern beim schweißtreibenden Liebesspiel zuzusehen, es wäre ja nun durchaus denkbar, dass der Film auf dem eingeschlagenen Weg poetische Bilder erfindet, zu überraschenden Erkenntnissen kommt oder sonstwas von Belang passiert. Das Gegenteil ist der Fall. Höhepunkt eine „Party“, bei der alle bislang aufgetretenen Figuren noch einmal zusammenfinden und dann wie im Boulevardtheater die unterschiedlichen Aspekte der Thematik durchkauen, mit vorhersehbarem Ausgang. Hab ich eigentlich schon erwähnt, dass die beiden Hauptdarsteller perfekt modellierte Körper zur Schau tragen?


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Der Film läuft im Internationalen Forum des jungen Films.

Im Mittelpunkt dieses Dokumentarfilms steht die Bilderrolle "Yamanaka Tokiwa", die dem japanischen Künstler Iwasa Matabei (1578-1650) zugeschrieben wird. Sie erzählt die zu Beginn des 17. Jahrhunderts berühmte Marionettentheater-Geschichte von Ushiwaka-maru und seiner Mutter, Lady Tokiwa. Beide sind Mitglieder einer Samurai-Familie. Ushiwaka-maru ist der Kindername von Minomoto Yoshitsune, einer der beliebtesten historischen Persönlichkeiten Japans im 12. Jahrhundert. Lady Tokiwa macht sich auf den Weg, um ihren Sohn zu besuchen, der im Norden Japans lebt, weit weg von ihrer Heimstadt Kyoto. Auf der Reise wird sie in Yamanaka von Banditen überfallen und umgebracht. Lady Tokiwas Geist erscheint dem Sohn, der so von dem tragischen Schicksal seiner Mutter erfährt. Um sie zu rächen, bringt er alle Mitglieder der Bande um. (Quelle: Forum)



Die Damen, die sich um die Pressearbeit des Films kümmern, sind vor dem Press Screening sichtlich aufgeregt zu Werke: Sie beeilen sich, jedem Journalisten, an seinem umhängenden Badge zu erkennen, ob er nun will oder nicht, ein zweiblättriges Info Sheet zu den historischen und kulturellen Hintergründen des Films in die Hand zu drücken, behalten dabei aber maximale Freundlichkeit. Natürlich will man, dass der Film verstanden wird und Aufklärung tut da Not, denn er wirft einen tiefen Blick in die traditionelle japanische Kultur.

Vor allem an der musikalischen Untermalung, den vom klassischen shamisen unterlegten joruri, macht sich das bemerkbar. Westlichen und ungeübten Ohren muss das wie arhytmisches Geklimper anmuten, wie Katzengejaule. Und in der Tat ist die Musik dann auch das erste Hemmnis des Films, auch für den an sich aufgeschlossenen Zuschauer, der festivalbedingt ohnedies zum Kopfschmerz neigt. Bald erste Gedanken, den Saal zu verlassen. Doch dann eben doch Sich-Fügen, Sich-Entspannen. Die Rezeptoren öffnen sich, der Film, samt seiner Musik, kann eintreten. Ist dieser Punkt überwunden, beginnt auch die Musik ihre eigene Rhythmus, ihre eigenen Jamben, eigene Poesie zu entwickeln. Sie passt. Sie passt gut.

Der Film zeigt, nach kurzer Einführung in die Geschichte dieser Rollen und des historischen Hintergrunds, alle 12 Rollen der Geschichte. Die filmt er jedoch nicht nur stur ab, das wäre stupide. Vielmehr simuliert er den Blick des leidenschaftlichen, lustvollen Lesers, wie er sich vor der Rolle einfindet. Oft erst der simulierte Blick auf das Ausrollen eines Panoramabildes. Dann eine Betrachtung im Gesamten. Schließlich die Suche nach Details im Bild, bis hin manchmal zu eine Ebene, wo das Strichhafte fast ein abstraktes Kinobild ergibt. Manchmal, wenn es um Ortsangaben geht, schneidet der Film um auf aktuell gefilmte Bilder des Landes. Dann und wann gibt es auch eine kleine Nachstellung einer Szene. Dabei wird der Film nie sonderlich deutlich. Wenn die zwei Frauen der Spielhandlung durch den Wald gehen, zeigt er zwei Frauen in historischer Tracht, die durch den Wald gehen. Manchmal stört das ein wenig, da man sich lieber die Rolle ansehen möchte. Aber man merkt bald: Das sind noch anfängliche Zugeständnisse an die Sehgewohnheiten des Zuschauers, der behutsam in diese andere Erzählwelt eingeführt werden soll. Im Verlauf werden solche Real-Inserts spürbar weniger, die Handlung wird dramatischer, bleibt nun ganz im Gezeichneten verhaftet.

Es ist erstaunlich, diese Rollen, gewiss wertvollste Artefakte im japanischen Kulturbesitz, im kinematografischen Studium vermittelt zu bekommen. Die Kamera erlaubt eine Nähe, die dem Zuschauer, etwa im Museum, notwendig verwehrt bleiben muss. Das Interessante ist dabei, natürlich, wieder die Ebene der abstrahierenden Reduktion, die im Detail geleistet wird. Ein kleiner Strich, minimal, entscheidet über den emotionalen Ausdruck einer Figur. Muskelstränge sind sanfte Tuschestriche. Wenige Tupfer ergeben einen schönen Strauch. Natürlich, im Comiczeitalter ist das nichts Unbekanntes. Und wir alle haben Comics verstehen gelesen. Wie aber hier, vor 400 Jahren, bereits ein derartiges intuitives Wissen um die psychische Wahrnehmung von Strichen eingearbeitet wurde, wie überhaupt eine Zeichenkultur schon derart weit war, dass sie den Comic, die vielleicht noch immer unterbewertetste komplexe Ausdrucksforum, bereits komplett antizipierte, das also nachzufühlen, in diesem gewiss zunächst schwierigen, dann aber lohnenswerten Film, das ist schon großartig.

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Der Film läuft im Internationalen Forum des jungen Films.

Die Regisseurin berichtet von den Traumatisierungen Nicaraguas, wie sie nicht erst mit dem Bürgerkrieg begannen und wie sie auch nicht mit dessen Beschluss ein Ende fanden. Als Beispiel dient ihr eine Familie, die das Schicksal besonders gebeutelt hatte: Die Kinder kämpften auf verschiedenen Seiten. Durch die Szenerie fährt immer wieder ein bisweilen mystisch anmutender LKW, dessen Ladung und Ziel unbekannt bleiben. Auf der Heckscheibe steht zu lesen: "El Inmortal". Wie der Sensenmann scheint er durch's Land zu fahren. Unergründlich, schwerfällig, als wäre er kein Teil seiner Umgebung. Er zieht die Neugier auf sich, doch will man eigentlich nicht wissen, was es mit ihm auf sich hat.

Mercedes Moncada Rodriguez versucht nicht, ein sinnbildendes, narrativähnliches Gefüge mit historischer Aussagekraft zu etablieren. Im Gegenteil korrespondiert ihre Inszenierungsart mit den biografischen Zerrissenheiten (und den eigenen, wie sie im Presseinfo anmerkt: Wie sie selbst keinen Sinn in der ganzen Tragödie Nicaraguas sieht). Immer wieder verfremdet sie das Geschehen mit der Kamera, die Soundkulisse wirkt bedrohlich, wie aus einem düsteren Horrorfilm. Und in der Tat irrealisiert sich der ganze Film durch solche Einschübe ungemein. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ein spannender Dokumentarfilm, der sich zudem eindeutigen politischen Lagern auf diese Weise auch versperrt.

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Der Film läuft in der Reihe 14Plus des Kinderfilmfestes.

Zwei Schulmädchen, Hana und Alice, vor morgentrister Kulisse eines japanischen Vorortes. Sie springen umher, bald hierhin, bald dorthin. Es geht zum Zug, erfahren wir. Wohin der fährt? Weiß die eine nicht. Sie fragt nach, hinein, nicht hinein? Erst hinein, drin rumpesen, dann wieder raus. Bei einer Haltestelle aussteigen, zum nächsten Zug hin. Ziellos in den Tag hinein. Am Ende geht’s dann doch zur Schule, aber erst nach vielen Umwegen. Und im Zug sehen sie einen jungen Mann, den beide neckisch finden. Vor ihm steht ein anderer, ein echter Bücherwurm, nicht unattraktiv, sicherlich, aber zunächst nicht im Fokus. Um ihn wird es später dann gehen, in diesem Film von Shunji Iwai, auf den man drei Jahre lang hat warten müssen. Endlich ist er da.

Wie die beiden Mädchen zu Beginn, so ist auch der Film. Stets sprunghaft, ohne rechtes Ziel, mal geht es hierhin, mal dorthin. Wo es was zu entdecken gibt, wird länger hingeschaut, verweilt. Bald rückt anderes ins Blickfeld und dann ist das zuvor Geschehene schon wieder vergessen. Die narrative Linie, der sporadisch, oft nur am Rande, gefolgt wird, ist folgende: Die etwas plumpere Hana verliebt sich insgeheim in den Bücherwurm, Miyamoto. In einem seltsam verschrobenen „Drama Club“ – eine Lokalität, ein Sammelbecken für seltsame Figuren, wie es bei Iwai so häufig anzutreffen ist – versucht sie ihm nahe zu kommen. Als er sich beim büchervergrabenen Nachhauseweg den Kopf stößt und zu Boden geht, sieht sie ihre Chance gekommen: Sie redet ihm eine Amnesie ein und macht ihm zum leisen Vorwurf, dass er sich nicht mehr an seine Liebesschwüre erinnern könne. Aber sie ist natürlich dazu bereit, gemeinsam mit ihm Erinnerungsarbeit zu leisten. Als er bei ihr auf Monate alte Handyfotos seiner Selbst stößt und die Geschichte aufzufliegen droht, lässt sie sich zu einem abenteuerlichen Schwindel hinreißen: Die habe Alice geschossen, damals, als diese noch mit ihm zusammen war. Alice habe sie ihr geschickt, aber dann kam es zum Krach zwischen Alice und Miyamoto und dann war Schluss und jetzt aber ist sie mit ihm zusammen. Alice erhält Anweisungen, sich entsprechend zu verhalten. Sie lässt sich darauf ein, denn auch sie findet insgeheim den schüchternen Jungen ganz süß. Keine gute Basis für weitere Ereignisse ...

Doch dies, wie gesagt, nur ein Faden, der immer mal wieder aufgegriffen wird und eigentlich kaum recht ins Zentrum des Filmes rückt. Wichtiger sind die Einschübe, die den Alltag der beiden Mädchen - mal gemeinsam, mal jede für sich – zeigen. Die Ballettschule, in die beide gehen, wird beleuchtet. Wir lernen Figuren daraus kennen, jede für sich ein Unikat (wie bei Iwai ja immer alle Menschen alles andere als gewöhnlich sind, selbst noch in ihrer Gewöhnlichkeit). Beider Elternhäuser werden vorgestellt, oft nur durch bildhafte Eindrücke, kleine Gesten zwischen Eltern und Tochter. Alles wird angeschnitten, nichts voll ausformuliert, aber, und darin liegt die Kunst, jeder Detail bleibt als Reminiszenz doch detailreich und erdet den mäanderförmigen Verlauf des roten Fadens in ein großes Gefüge, in dem, und das ist das Schöne, alles für sich betrachtet und in seiner leisen Poesie genossen oder alles als Teil eines großen Ganzen betrachtet werden kann. Dem ähnlich sympathischen Forumsbeitrag Sekai no Owari nicht wesensfremd, liegt die Stärke von Hana & Alice im großen Angebot, sich in einem Film zu verlieren, ohne dass jedes Detail einen gleich mit Sinn und Bedeutung für das Ganze erschlage. Der Verlauf, das Beiläufige ist das Schöne, an diesem wie jenem Film. Und wenn man sich daran gewöhnt hat, wenn man beide Mädchen, so unterschiedlich sie auch sind, irgendwann als gute Bekannte, an deren Leben man auszugsweise teilhat, angenommen hat, dann entwickelt Hana & Alice eine ganz eigene Faszinationskraft eines gemächlichen Zuschauens, wie sich Menschen da in emotional fordernden Situationen verhalten, ohne dass gleich die Gesetze der Dramaturgie oder der Parabel in den Raum gestellt würden.



Maßgeblich trägt dazu natürlich Shunji Iwais Gespür fürs Bild bei. Und das Beiläufige, das sich ins Detail verlierende der Handlung, findet hier Wiederklang. Gewiss ist da eine eigene, kleine Poesie im Kader versteckt. Aber nichts schwingt sich zu einer überwältigenden Poetik auf. Jede Verschrobenheit – in einer emotional besonders packenden Szene in einem Klassenzimmer etwa, am Rande eines Schulkulturfestes situiert, schaut, wie zur Konterkarierung des Gesprächs, ein aufgeblasener Astroboy durchs Fenster rein; von ganz eigenem Reiz, ohne bloß Schrulligkeit beizupfeffern, ist ein seltsames Zwillingspärchen mit blonden Haaren am Rande eines Castings, an dem die bezaubernde Alice teilnimmt -, jedes kleinste Element der Gestaltung – ein Aufblitzen eines Lichtstrahls etwa, bedingt durch einen kurz zur Seite geneigten Kopf – könnte zufällig hier platziert oder Teil eines ästhetischen Konzepts sein. Man darf sich entscheiden und ganz nach Lust und Laune Gefallen daran finden. Ästhetisch unverkennbar Shunji Iwai sind dabei die Bilder und ihr Licht selbst: Immer kommt da ein Schimmer von oben, der die ansonsten eher natürlich gehaltenen Bilder nur eine Nuance irrealisiert, sie ein wenig traumhaft erscheinen lässt, dabei aber nie in sämige Traumsoße kippt. Eine Sachtheit, die sich in jedem Aspekt des Films widerspiegelt.



Das Ende ist natürlich ganz anders als Beginn und Verlauf des Films in Erwartung stellten. Aber es ist auch anders, als man es von einem „anderen Ende“ erwarten würde. Eine Nebensächlichkeit rückt ins Zentrum, Jubel, der Film ist aus. Den roten Faden von der Liebesgeschichte hat man schon lange verloren, wenn man ihn denn überhaupt an irgendeiner Stelle motiviert aufgegriffen hätte. Darum ging es schlicht nicht, sondern allenfalls unter anderem. Wichtig ist Shunji Iwai das Gefühl für einen schönen Kippmoment in der Adoleszenz: Schon sehr erwachsen, aber noch immer jugendlich genug, um sich für eine kleine Weile noch zurückziehen zu können. Das Gespür, mit der Shunji Iwai dies ins Bild setzt, ist, wie stets, fast unbeschreiblich. Am Ende ist alles so, als wäre das nur einer von vielen, scheinbar endlos verfügbaren Sommern gewesen, in denen viel passiert ist, manche Träne auch geflossen, aber am Ende war alles nur Episode reinster Gegenwärtigkeit und gewiss nicht Teil einer biografischen Historizität. Die kommt erst später und ist Shunji Iwais Sache nicht. Zum Glück.

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Schöne Screenshots in den Kommentaren.


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- EMS haben sich die Rechte des für morgen angesetzten Wettbewerbsbeitrags The Hidden Blade gesichert. Damit ist eine Kinoauswertung durch den firmeneigenen Verleih 3L (u.a. Oldboy) wohl so gut wie sicher.

- Ein wahres Knallbonbon haben Kinowelt sich geleistet: Noch in letzter Sekunde hat man den bereits seit langem angekündigten Oscarkandidaten The Million Dollar Baby von und mit Clint Eastwood unter den Nagel gerissen. Wie sich herausstellte, hatte Warner, der "bisherige" Verleih, die deutschen Rechte eigentlich gar nicht sicher. Irgendwas mit Vertragsklausel und nicht unterschrieben. Warner reagiert heute prompt mit einer lakonischen Pressemail: "Die angesetzten Pressevorführungen finden nicht statt." Der Starttermin, Anfang März, soll aber gewahrt bleiben. Ironie des Schicksals: Als Kinowelt seinerzeit Pleite ging und sein Herr-der-Ringe-Paket nicht zahlen konnte, schnappte Warner für den deutschen Markt zu.


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