Thema: Berlinale 2006
10. Februar 06 | Autor: thgroh | 0 Kommentare | Kommentieren
Keith Fullton und Louis Pepe sind eigentlich Dokumentarfilmer, und auf diesem Gebiet haben sie ein Händchen für Ausgefallenes: Lost in La Mancha etwa, mit dem sie sich bereits einen guten Namen machten, ist eine eigenwillige Doku über einen gescheiterten, da nicht vollendeten Film von Terry Gilliam, ansonsten machten sie anhand recht eigentümlicher Making-Ofs von sich reden. Bei diesem Hintergrund wundert es nicht, dass das fiktionale Spielfilmdebüt der beiden nun ausgerechnet in Form einer Mockumentary daherkommt, jenes diffusen Genres also, das narrative und ästhetische Charakteristika der klassischen Dokumentation deckungsgleich bei allerdings voll geskriptetem und inszeniertem Gegenstand imitiert und dabei die kulturelle Konstruktion von vermeintlich für Wahrhaftigkeit bürgenden Merkmale der Doku in den Vordergrund rückt.
Wobei, letzteres gerade ist eigentlich nun nicht das Ziel von Brothers of Head, es wäre auch zu banal, da längst von anderen Beiträgen des Genres erledigt und als allgemeine Erkenntnis etabliert; in der Tat will der Film erzählen, dies nur eben anhand anderer Erzählformen als den üblichen. Es geht um die Herausbildung einer spannenden, durchaus dramatischen, zum Ende hin tragische Geschichte eines siamesischen Zwillingspaars, zwei am Rumpf miteinander verwachsene Brüder in den 70er Jahren in Großbritannien, die musikalisch zwar nicht sonderlich talentiert sind, an jener historischen Bruchstelle aber, wo Beat und Rock zum Punk umschlugen, ihre freakishness auf die Bühne holten und für wenige Monate Ruhm und stardom einfuhren, dabei vielleicht sogar Punk Rock den initialen Kickstart mit auf den Weg gaben. Natürlich kommen Drogen und Frauen ins Spiel, Konflikte überschatten den Ruhm, Rausch, Schweiß und Stromgitarren allenthalben.
Brothers of Head beginnt wie ein Spielfilm; karges, britisches Hinterland, knapp knadrierte, stilisierte Einstellungen, ein Rechtsanwalt tritt auf, nähert sich einem kleinen Farmhaus, man meint das spröde Klima förmlich auf der Haut zu spüren. Doch bald ist da ein Bruch, das Filmteam rückt ins Bild, man bekommt zu sehen, was man im Spielfilm allenthalben sehen könnte, würde es in der abschließenden Montage nicht auf dem Boden des Schneideraums landen. Es gab zu sehen, so stellt man schließlich fest, einen Ausschnitt aus einem seinerseits unvollendeten Film von keinem geringeren als Ken Russell über die beiden Zwillinge, er selbst tritt auf, in klassischer talking head-Fernsehinterview-Ästhetik, und berichtet von der Faszinationskraft des Stoffes der beiden Punkrock-Freaks, er spricht von "loss and exploitation of innocence" und gibt zu bedenken, dass der Stoff "overall pretty gothic" sei. Anderes footage taucht auf, in den 70ern soll auch eine Doku über die beiden gedreht worden sein, ebenfalls unvollendet. Zeitzeugen halten ihr Gesicht vor die Kamera, Materialästhetikwechsel allenthalben. Gerade hierin zeigt Brothers of Head sein ungemeines Geschick: Es gelingt ihm, Flair wie Wehmut alter Materialästhetik noch bis in den einzelnen Farbklecks hinein zu simulieren, im Verbund mit gerade eben nicht auf postmoderne Nostalgie abzielender Ausstattungsästhetik ergibt sich ein seltsam flirrendes Gesamtbild, das mithin auch Bündnisse eingeht mit der Avantgardekonzeption eines Stan Brakhage und dem 70er queer cinema.
Das Ergebnis ist nichts weniger als mitreißend. Die Betonung des frühen Punk Rock des Abnormen und des Hässlichen, ja geradewegs dessen Affirmation, wie die der Selbstzerstörung und des Rauschs einer rigorosen Körperlichkeit jenseits von Hippie-Befindlichkeit und -Sanftmut, daraus folgernd nicht zuletzt die Affinität der zumindest frühen Punk-Bewegung zur künstlerischen Avantgarde in den Metropolen erfährt hier eine kongeniale Emblematisierung im Bild der beiden miteinander verwachsenen Zwillinge, die auf der Bühne ihr Ausgegrenztsein final durch Zurschaustellung überwinden. Ein verheißungsvoller Ruch von Utopie liegt über diesem Film, repräsentiert nicht zuletzt durch den wahrhaft mitreißenden, eigens geschriebenen Score von Clive Langer , der den frühen Punk in all seiner Rohheit und Unbändigkeit zu fassen kriegt, gemischt vielleicht mit der etwas melodramatischen Wehmut, das es für diese Utopie, aus heutiger Perspektive, immer schon zu spät war.
Ein Film über die Schönheit ungeschliffenen Materials (etwa auch alter Tape-Aufnahmen, wie sie rauschen und klingen), der Ausbruchsverheißung, die einmal ein paar Bretter Holz und Stromgitarren bedeuteten, und die Lust an der Zelebrierung des eigenen Körpers und seines Verfalls. Schon alleine wegen des von manchen vielleicht als heikel empfundenen Themas kein Film für jedermann, umso besser. "Cult potential" schreibt Variety - durchaus, durchaus. (ich jedenfalls liebte ihn beim Sehen)
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Thema: Berlinale 2006
09. Februar 06 | Autor: thgroh | 0 Kommentare | Kommentieren
Vater, Mutter, Tochter im Hessischen: Ein Eigenheim wird bezogen, es ist Winter, am Montag kommen die neuen Fenster, auch wenn man das eigentlich im Sommer macht. Es scheint harmonisch zuzugehen, etwas zu beschaulich vielleicht, ein wenig fad auch alles, ein Fassbinder'scher Eheknast aber ist das nicht und wird es nie. Dann will die Mutter abends das zuckersüße Töchterchen bei den Schwiegereltern abholen; sie steht vor deren Hause, schaut durchs Fenster, sieht ihr Kind, dreht wortlos um, zum Auto hin, fährt ab. Autobahn, nachts, rote Autolichter, außerhalb des Schärfebereichs, keine Flucht im eigentlichen Sinne, ein Abtauchen ins Unscharfe eher. "Ich komme nicht mehr zurück", sagt sie schließlich später in ihr Handy als sie Rast macht. Sie fährt zum Wochenendhäuschen ihrer Eltern, wo ihr Bruder gerade, was sie jedoch nicht weiß, als sie dort hinfährt, ein bisschen Liebespaar mit seiner neuen Flamme spielt; er ist ein rechter Weiberheld, wie wir erfahren, immer Geschichten am Start. Bald kommt ihr Gatte hinterher (der Bruder hatte ihn eingeladen, nach einer kleinen, wechselseitigen Gemeinheit unter Geschwistern), sie entgeht der Begegnung gerade noch rechtzeitig in ein nahes Hotel, dort Möglichkeit zum Seitensprung. Dann stirbt der Nachbarssohn zuhause, und die Fenster sind noch immer nicht da und es wird zur Beerdigung geladen. Sie kommt zurück, nähert sich wieder an, während ihr Mann eine alte Liebschaft ausgebuddelt hat; wie man in der Krise eben tickt.
Montag kommen die Fenster zeigt einiges, spielt mit den Möglichkeiten des Stoffes und auch dem Wissen des Zuschauers, erklärt aber nichts und verfällt in keine Konvention. Es mag kein Zufall sein, dass der Film in jener Sequenz, in der die Frau orientierungslos durch das Hotel geistert, für einen kurzen Moment lang Gus van Sants Elephant zu zitieren scheint; hier wie dort geht es um eine Situation, die förmlich darauf zu drängen scheint, erklärt, durchleuchtet und einsortiert zu werden, wohingegen beide Filme es vorziehen, eine naheliegende Erklärung gerade eben nicht zu konstruieren. Im Hotelzimmer schaut sie schließlich einen französischen Film, als läge die Ahnung eines französischen Ehedramas in der Luft; auch diese Ausfahrt nimmt Köhler nicht. Der erste näher ins Bild geratende Gegenstand im Waldhäuschen ist eine eindrucksvolle Kettensäge; man fürchtet, sie wird noch wichtig, als Instrument zur, wie Metapher für Zerfleischung - weit gefehlt, die Kettensäge bleibt ihrem ursprünglichen Zweck vorbehalten. Der Seitensprung im Hotel mit einem dicklich-älteren Lebemann, dessen Charme Behauptung bleibt, bleibt selbst wiederum Episode, nichts weiter. Es geht nicht um das große Drama, es geht nicht um die conditio humanae, für die man den Stoff als Sinnbild vielleicht in Frankreich verwendet hätte, es geht auch nicht um eine neue Moral, auf die ein Haneke vielleicht abgezielt hätte; es geht zunächst nur um diese drei Figuren, nur um diese drei, um nichts weiter, und die nimmt Köhlers Film ohne Vorbehalte ernst, kein tiefschwingender Pathos, keine Überwältigung suchende Tristesse.
Mithin mag es dann doch, dies aber nur vielleicht (zumindest die letzte Sequenz legt es nahe), um den Verlust der Erotik im Alltag gehen, das Einschlafen der fleischlichen Reize, wenn man sich einzubuddeln droht im Ehe- und Heimglück. Nicht umsonst spielt der Film in Kassel, einer Art Nicht-Ort in der Mitte von Deutschland, wo das ländlich-bequeme, aber nicht rustikale des alten West-Deutschlands vielleicht noch in Spuren erahnbar ist; eine (Um-)Welt, die zur Formulierung einer Utopie nicht imstande ist, weshalb die Flucht der Frau, wie ihre Rückkehr, vielleicht so sinnlos wirken mag, wie sie schließlich auch im Norweger-Pullil und Schlabberjeans durch die Wälder streift. Kein Ausbruch möglich, da kein Ventil in diese Richtung, und wenn ist es längst absorbiert: Ihr Bruder baut einen Joint, hört Ton, Steine, Scherben oder Rio Reiser, ein bisschen Kiffen ohne auflehnende Geste, seine Freundin, die nicht minder kifft, macht ein Praktikum im Bundestag; über 200 Gesetze hätten "die" (gemeint ist Rot-Grün) verabschiedet, natürlich hat sich was verändert, meint sie, mit den anderen stünden "wir" jetzt im Irak. Kein Gegenkonzept, das nicht immer schon regierungsfähig wäre. Das simple Bonmot des kurzfristigen Liebhabers: Ein Land, das nicht recht zu essen, nicht recht zu trinken, nicht recht zu ficken weiß, und obendrein Tennis zu wichtig nimmt.
Die Umwelt ist deshalb wichtig für den Film: Immer ist da mehr als bloßer Bildraum; ein Film, in dem man, wie vielleicht vorher noch nie, immer wieder Stimmen aus Nebenräumen hört, sei es durch offenstehende Türen oder durch Wände hindurch. Im Hotel ein monotones Rauschen im Hintergrund; über dem Abspann die Laute der nahen Autobahn. Ein akustisch erschlossener Raum, der gerade in seiner Weite so trostlos wirkt, hier wie dort sein bleibt sich da gleich; ein intensiver Film ganz ohne den Pathos der Intensität, in seiner Klar- und Einfachheit nichts weniger als tief beeindruckend.
imdb ~ weitere Informationen ~ Interview mit U. Köhler

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Thema: Berlinale 2006
Das Verhältnis von Trauma und Film, diesen dabei zunächst verstanden als Medium und Form der Äußerlichkeit, ist prekär: Zwar mag es dem Filmbild obliegen, einen traumatisierenden Prozess als solchen optisch einzufangen; doch widerstrebt es dem zur Objektivierung neigenden Bild, das Trauma selbst, eine theoretische Figur der Verletzung, die sich Versprachlichung wie Aufdeckung immer wieder entzieht, zu fassen zu bekommen. Das Trauma lässt, zumindest in der psychoanalytischen Theorie, nur referenziell auf sich schließen, verbirgt sich hinter Schichtungen aus Verschiebungen und Verdrängungen, verweist immer wieder auf die Krypta im Seelenapparat, ohne aber einen Schlüssel mitzuliefern. Für das Trauma im Film heißt dies, eine Methode zu finden, die über bloße Repräsentation hinausgeht, die die Konstruktion einer verlässlichen Diegese womöglich in Permanenz unterwandert und den Prozess des storybuildings selbst - verstanden als das Verhältnis zwischen fabula (das Erzählszenario als solches, wie es sich objektiv-linear nachvollziehen ließe, ein dem Film zumindest tendenziell unäußerliches Konstrukt, das der Zuschauer selbst im Abgleich mit den filmischen Informationseinheiten herausbildet) und syuzhet (dessen dramaturgische Staffelung in der ästhetischen Einheit des Filmes selbst) - reflektiert. Strange Circus, der dritte Langfilm von Shion Sono, der bereits mit dem kontroversen Suicide Club für einiges Aufsehen sorgte, operiert genau in diesem Bereich. Der Film schildert... ... ja, was? Zumindest, und von Anbeginn kann da kaum Zweifel bestehen, keine verlässlich-äußerliche Abfolge von Erzähleinheiten. Die erste Sequenz zeigt einen bizarren Zirkus, zwischen Grand Guignol, klassischem Vaudeville, queer gathering im Sinne einer Rocky Horror Picture Show und Revue - ein Ort jenseits der eigentlichen Diegese; der Film findet weiters objektiv erscheinende Bilder, dann wieder mentale Bilder, die auf rein optischer Ebene innere Verfassungen wiederspiegeln, bald illustrativ-objektive, die ebenso innere Ansichten zu bieten scheinen, dabei aber nicht die Bildoptik selbst, sondern eine bizarr-surreale Setgestaltung - vor Blut triefende Wände beispielsweise - nutzen. Im Kern stehen drei Figuren: Die Mutter, der Vater, die Tochter. Es ist Mißbrauch von Vaters Seite im Spiel, in diesem Familienroman; in reichlich pervers arrangierter Form obendrein, die schon bald Zweifel an der Wahrhaftigkeit aufkommen lässt, zumal der Kommentar der mißbrauchten Tochter aus dem Off darüber schon bald die eigene sexuelle Entzückung und Frauwerdung kommuniziert. Es wirkt, bei aller Eindringlichkeit und Drastik, ein wenig zu erotisch verspielt, was da zu sehen ist, um wirklich wahr zu sein; ein wenig wie bei Sacher-Masoch liegt die Verzückung an der erotisch-entwürdigenden Anordnung in der Luft, das leicht schwülstige Element mit Transgression liebäugelnder erotischer Literatur. Lässt sich dem Erfahrungsbericht trauen? Was ging wirklich vonstatten? Welchen Status hatten die stilistisch so kunstvoll ausarrangierten Bilder wirklich? Es kam, so legt der Film nahe, schließlich zum Muttermord durch die Tochter, bei dieser nun zur schuldkomplex-beladenen Herausbildung einer zweiten Persona: Die Tochter ward zur Mutter und fand im Bild als solche Repräsentation noch im Schulalltag.
Der zweite Teil schlägt in der Tat, nach etwas setgestalterischer Verwirrung, eine andere Sichtweise vor: Es mag sich um die Visualisierung eines erotischen Romans einer einigermaßen bekannten wie spleenigen Autorin handeln. Die aber wiederum sieht der MutterTochter zum Verwechseln ähnlich. Ein zweifelhafter Fan sucht die Nähe zur Autorin, er will wissen, ob es sich um Autobiografisches handelt. Natürlich nicht, so die Autorin; doch der Film bleibt unklar und findet erneut shiftings und Verschiebungen, von einer Identität zu anderen, von einer Erzählperspektive zur nächsten. Bis das Szenario an sich, zumindest dem Anschein nach, in blutiger Anordnung, die den Bogen zur bizarren Manege des Beginn zu schlagen sucht, aufgelöst, die Erzähl- und Bildebenen aufgedröselt werden.
Bis dahin ist es ein langer Weg und ein gewisser Hang zur Ausstellung des eigenen Kunstkönnens und -wollens ist dem Film kaum abzusprechen; lange war zumindest ich gewillt, das ganze als prätentiös, arg überkonstruiert und selbstgefällig abzutun. Doch entwickelt der Film ohne Frage einen Reiz nicht so sehr durch einige, in der Tat überstark vorhandene, Brutalität und der generellen Lust am manschend Transgressiven, sondern vielmehr durch seine dann doch stets fokussiert vorgehenden Erzählmanöver, die es ihm gerade gestatten, eingangs geschildertes Problem unaufgeregt und mit einiger gewitzter Nasführung des Zuschauers zu bewältigen, die eben nicht auf Übertölpelung, sondern auf dessen gezielte Steuerung lenkt.
Die offensichtliche (und ich möchte sagen: sehr kundige) Einführung psychoanalytischer Theoreme in den japanischen Film ist dabei zum einen recht bemerkenswert (und in diesem Maße scheint mir das für das japanische Kino bislang auch einigermaßen einzigartig, entwickelt es seine Geschichten doch üblicherweise erfreulich "un-freudianisch"), zum anderen aber auch von Gewinn selbst: Anders als etwas ungelenk agierende westliche Filme wird hier nicht versucht, das ohnehin problematische Theoriegebäude mittels Narration als gültige Konstante quasi zu anthropologisieren; im Gegenteil wird über die Thematisierung von Narrativität und Erzähltaktiken, die sich sozusagen im Vorbeigehen ergibt, das narratologische Gerüst der Psychoanalyse selbst in den Vordergrund gestellt.
Strange Circus ist vielleicht kein mitreißender Film, zumal wenn man ihn vom Genre her begreift (und die Programmierung des Films an jener Stelle im Internationalen Forum, wo üblicherweise jährlich ein neuer, wenn auch gehobener Genreknaller aus Fernost zu sehen ist - sei es PTU oder die Infernal Affairs-Trilogie - legt dies zunächst nahe), in seiner künstlerischen Konzeption und Herangehensweise, die ihn irgendwo zwischen Kunst-Splatter und Filmessay verortet, zollt er, bei näherer Betrachtung, dann doch einigen Respekt ab.
imdb ~ weitere Informationen ~ Jump Cut-Kritik

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Thema: Alltag, medial gedoppelt
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Es wurde schon wieder, wie eins weiter unten gehofft und gewünscht.
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