Thema: Filmtagebuch: e.f.
15. Januar 05 | Autor: e.f. | 2 Kommentare | Kommentieren
gesehen auf DVD
"Welche Wahrheit hätten’s denn gern?"
Von Brian de Palma reden, heißt von Alfred Hitchcock reden. Unter Anhängern des ersteren eine beinahe unumstößliche Selbstverständlichkeit. Umgekehrt sieht der Sachverhalt etwas anders aus, aber das soll an dieser Stelle nicht weiter von Belang sein. In Hitchcocks Stage Fright jedenfalls befindet sich eine falsche Rückblende, die sich im Verlauf des Films dann auch tatsächlich als unwahr herausstellt. Dem Zuschauer offensiv ins Gesicht gelogen. Ein absoluter Tabubruch, ein Skandalon. Selbst heute, gut fünfzig Jahre später, erwarten wir, ob bewusst oder unbewusst, dass Filme, von ihrem narrativem Konstrukt einmal abgesehen (da sind wir eher geneigt zu verzeihen), zumindest "formal wahr" sind. Wie Hitchcock hat sich de Palma mit diesem Diktum nie zufrieden geben können...
Ein paradoxer Zustand: Der Zuschauer, das schließt den Verfasser ein, tendiert dazu Filmbilder für "wahr", und damit für real zu erachten. Allein von seinen ikonographischen und technischen Voraussetzungen her, scheint das Kino also eher der Realität als der Lüge nahe zustehen. Das ist zumindest der fromme Wunsch dahinter. Diese menschliche Neigung hatte Hitchcock in seinem Film aufgenommen, um die Grenzen dieser Denkart exemplarisch vorzuführen. Allerdings wurden die in den Köpfen präsenten, binären Oppositionen "wahr" und "falsch" nicht bis zur letzen Konsequenz dekonstruiert. Das konsequente Aufzeigen der filmischen Ununterscheidbarkeit von Wahrheit und Lüge musste in letzter Instanz hinter dem "Willen zur Wahrheit" zurückstecken. Anders de Palma: Er bedient sich einer perspektivischen Juxtaposition der Geschehnisse, um die Illusion eines unmittelbaren Gegenwärtigkeitscharakters des Blicks ins Groteske zu verdichten.
Eine Juxtaposition freilich, die nicht alleine beim Visuellen bleibt, das kann sie auch gar nicht. Vielmehr entfaltet de Palma einen komplexen Subtext von parallel existierenden, respektive parallel agierenden Systemen. So finden sich dann auch diverse gesellschaftliche Subsysteme im Film, die alle ihren spezifischen Codes gemäß miteinander in Kommunikation treten. Ein Rechtssystem (Rick Santoro), ein Politiksystem (der anwesende Minister und seine Entourage), sowie ein Militärsystem (Commander Kevin Dunne). Sie alle verhalten sich je nach Situation hermetisch oder offen. Ihr gemeinsames Axiom ist der Widerstreit.
Alle Versuche des Zu-Schauers die ersehnte Omnipotenz des Blicks affirmativ heraufzubeschwören – anders ist das obligatorische Mitfiebern, Mitraten, Mitsuchen nicht zu erklären – werfen uns ratlos auf die eigene beschränkte Wahrnehmung zurück. Es ist ironisch: Durch eine Vielzahl von Technologien konnte die menschliche Wahrnehmung in relativ kurzer Zeit in bisher ungekanntem Maße modifiziert werden. Evolution im Zeitraffer. Trotzdem erfahren wir dadurch keine Kompensation, im Gegenteil, wir bekommen Einblick in noch komplexere Zusammenhänge, die unsere "alten" Rezeptionsstrategien antiquiert, ja geradezu kontraproduktiv erscheinen lassen. Für die mediale Codierung der "Wirklichkeit" (und der damit immer verbunden Hoffnung die Wahrheit in irgendeiner Form fassen zu können) muss der teure Preis des Wirklichkeitsverlustes gezahlt werden. Die Rede von der Wahrheit, sie ist obszön geworden. Ein, wenn nicht sogar das wesentliche Konstituens der Postmoderne. Und so ist es beinahe rührend zu sehen, wie sich Nicolas Cages Detective die gesamte Technik des Casinos untertan macht, um seinen Wahrnehmungsinsuffizienzen ein Schnippchen zu schlagen. Auf der Suche nach dem real thing sieht der Mensch ganz schnell, ganz alt aus.
Eindringlichstes Bild des Films: Ein mit Kameras ausgestatteter Zeppelin in Augenform durchmisst den Raum. Um mit Godard zu sprechen: Nicht wir haben gesehen, sondern die Kamera. Unsere Augen? Eine Leinwand. Süße Lügen. Lehrstunden in Kino...
imdb | brian de palma im weblog
"Welche Wahrheit hätten’s denn gern?"
Von Brian de Palma reden, heißt von Alfred Hitchcock reden. Unter Anhängern des ersteren eine beinahe unumstößliche Selbstverständlichkeit. Umgekehrt sieht der Sachverhalt etwas anders aus, aber das soll an dieser Stelle nicht weiter von Belang sein. In Hitchcocks Stage Fright jedenfalls befindet sich eine falsche Rückblende, die sich im Verlauf des Films dann auch tatsächlich als unwahr herausstellt. Dem Zuschauer offensiv ins Gesicht gelogen. Ein absoluter Tabubruch, ein Skandalon. Selbst heute, gut fünfzig Jahre später, erwarten wir, ob bewusst oder unbewusst, dass Filme, von ihrem narrativem Konstrukt einmal abgesehen (da sind wir eher geneigt zu verzeihen), zumindest "formal wahr" sind. Wie Hitchcock hat sich de Palma mit diesem Diktum nie zufrieden geben können...
Ein paradoxer Zustand: Der Zuschauer, das schließt den Verfasser ein, tendiert dazu Filmbilder für "wahr", und damit für real zu erachten. Allein von seinen ikonographischen und technischen Voraussetzungen her, scheint das Kino also eher der Realität als der Lüge nahe zustehen. Das ist zumindest der fromme Wunsch dahinter. Diese menschliche Neigung hatte Hitchcock in seinem Film aufgenommen, um die Grenzen dieser Denkart exemplarisch vorzuführen. Allerdings wurden die in den Köpfen präsenten, binären Oppositionen "wahr" und "falsch" nicht bis zur letzen Konsequenz dekonstruiert. Das konsequente Aufzeigen der filmischen Ununterscheidbarkeit von Wahrheit und Lüge musste in letzter Instanz hinter dem "Willen zur Wahrheit" zurückstecken. Anders de Palma: Er bedient sich einer perspektivischen Juxtaposition der Geschehnisse, um die Illusion eines unmittelbaren Gegenwärtigkeitscharakters des Blicks ins Groteske zu verdichten.
Eine Juxtaposition freilich, die nicht alleine beim Visuellen bleibt, das kann sie auch gar nicht. Vielmehr entfaltet de Palma einen komplexen Subtext von parallel existierenden, respektive parallel agierenden Systemen. So finden sich dann auch diverse gesellschaftliche Subsysteme im Film, die alle ihren spezifischen Codes gemäß miteinander in Kommunikation treten. Ein Rechtssystem (Rick Santoro), ein Politiksystem (der anwesende Minister und seine Entourage), sowie ein Militärsystem (Commander Kevin Dunne). Sie alle verhalten sich je nach Situation hermetisch oder offen. Ihr gemeinsames Axiom ist der Widerstreit.
Alle Versuche des Zu-Schauers die ersehnte Omnipotenz des Blicks affirmativ heraufzubeschwören – anders ist das obligatorische Mitfiebern, Mitraten, Mitsuchen nicht zu erklären – werfen uns ratlos auf die eigene beschränkte Wahrnehmung zurück. Es ist ironisch: Durch eine Vielzahl von Technologien konnte die menschliche Wahrnehmung in relativ kurzer Zeit in bisher ungekanntem Maße modifiziert werden. Evolution im Zeitraffer. Trotzdem erfahren wir dadurch keine Kompensation, im Gegenteil, wir bekommen Einblick in noch komplexere Zusammenhänge, die unsere "alten" Rezeptionsstrategien antiquiert, ja geradezu kontraproduktiv erscheinen lassen. Für die mediale Codierung der "Wirklichkeit" (und der damit immer verbunden Hoffnung die Wahrheit in irgendeiner Form fassen zu können) muss der teure Preis des Wirklichkeitsverlustes gezahlt werden. Die Rede von der Wahrheit, sie ist obszön geworden. Ein, wenn nicht sogar das wesentliche Konstituens der Postmoderne. Und so ist es beinahe rührend zu sehen, wie sich Nicolas Cages Detective die gesamte Technik des Casinos untertan macht, um seinen Wahrnehmungsinsuffizienzen ein Schnippchen zu schlagen. Auf der Suche nach dem real thing sieht der Mensch ganz schnell, ganz alt aus.
Eindringlichstes Bild des Films: Ein mit Kameras ausgestatteter Zeppelin in Augenform durchmisst den Raum. Um mit Godard zu sprechen: Nicht wir haben gesehen, sondern die Kamera. Unsere Augen? Eine Leinwand. Süße Lügen. Lehrstunden in Kino...
imdb | brian de palma im weblog
° ° °
kommentare dazu:
thgroh,
Samstag, 15. Januar 2005, 13:18
Schön mal wieder was von Dir in diesen Hallen zu lesen, bin gerade beim Aufrufen des Weblogs regelrecht erschrocken, weil das plötzlich so anders aussah. :)
mabo,
Dienstag, 18. Januar 2005, 11:00
the more you know,the less you understand - meistens...
wie wahr,wie wahr !
auch wenn de palma eigentlich nur noch schwächere filme drehte,SPIEL AUF ZEIT bietet genügend ebenen zum genießen - nach FEMME FATALE traue ich ihm wieder alles zu.dort geht es ja auch ums sehen,wiedersehen und besonders begreifen.die links sind alle da,nicht so kompliziert verstreut wie in SPIEL AUF ZEIT,ein paar schritte runterreguliert...
godard soll während der kommenden WM ein spiel in echtzeit verfremden,zeigen - wird dann wohl auf arte oder den dritten zeitgleich laufen . wie wunderbar es wäre wenn er auch über alle augen im stadion verfügen könnte ( und bis dahin haben die sich bestimmt wieder ein paar neue unnütze kamerastandorte einfallen lassen ) !!!
auch wenn man ihm zutrauen könnte rein gar nichts vom spiel zu zeigen,eher die reflexion,es bleibt aber spannend,ob das experiment stattfindet und gelingt !?!
auch wenn de palma eigentlich nur noch schwächere filme drehte,SPIEL AUF ZEIT bietet genügend ebenen zum genießen - nach FEMME FATALE traue ich ihm wieder alles zu.dort geht es ja auch ums sehen,wiedersehen und besonders begreifen.die links sind alle da,nicht so kompliziert verstreut wie in SPIEL AUF ZEIT,ein paar schritte runterreguliert...
godard soll während der kommenden WM ein spiel in echtzeit verfremden,zeigen - wird dann wohl auf arte oder den dritten zeitgleich laufen . wie wunderbar es wäre wenn er auch über alle augen im stadion verfügen könnte ( und bis dahin haben die sich bestimmt wieder ein paar neue unnütze kamerastandorte einfallen lassen ) !!!
auch wenn man ihm zutrauen könnte rein gar nichts vom spiel zu zeigen,eher die reflexion,es bleibt aber spannend,ob das experiment stattfindet und gelingt !?!
...bereits 3489 x gelesen