Wie ich gerade über Tim Lucas erfahren habe, ist Jess Franco heute in den frühen Morgenstunden in einem spanischen Krankenhaus den Folgen eines Schlaganfalls erlegen. Hier Lucas' Nachruf, außerdem hier der von Christian Keßler.

Wäre er dem Kino nicht schon längst abhanden gekommen und in der Zwischenwelt von digital video angekommen, könnte man sagen: Das Kino hat einen seiner eigensinnigsten Lichtpoeten verloren. Traurige Bilanz: Eine der sonderbarsten, in alle Richtungen davonstrebenden und nicht zuletzt umfangreichsten Filmografien der Filmgeschichte ist damit - leider - abgeschlossen. Es war ein Kino der Obsessionen, der ungebremsten Experimentierfreudigkeit und sicher auch des Scheiterns an den Begrenzungen der Möglichkeiten, ein Kino, das sich vorderhand mit den Insignien des Genrefilms schmückte, um darunter an einer ganz eigenen, zuweilen verschrobenen, zuweilen beglückend befreiten Poesie zu arbeiten: Free Jazz - free Jess.



Zuletzt waren seine Filme an einem Punkt angekommen, an dem sie schon wegen der eigenen marginalisierten Position auf narrative Korsette nichts mehr geben mussten oder sie als solche überhaupt kenntlich machten: Paula/Paula, gedreht nahezu ausschließlich in Francos Wohnung, erzählt (wenn dies überhaupt ein passender Begriff dafür ist) von einer Nachtclubtänzerin, die wegen eines Mordes von der Polizei verhört wird (die ermittelnde Polizistin ist Jess Francos 2011 verstorbene Muse Lina Romay, die Polizeiwache entspricht Francos Wohnzimmer). Soweit der Rahmen, dann bricht der Film auf und zu ungeheuer smoother Jazzmusik folgt eine fast einstündige, durch Aluminiumfolien und vertikale Achsenspiegelung ins monströs-abstrakte verzerrte Tanzsession zweier Frauenkörper. Jekyll und Hyde? Krimi? Kunst? Experimentalfilm? Intimistisch-erotische Session? Kein Begriff passt zum fertigen Resultat. Ein Videosplitter - anreizend, entspannt, freidrehend.



Seinen "klassischeren" Filmen tut man Unrecht, beschränkt man sie auf faden Eurosleaze. Eine Einschätzung, die von schrecklichen Videotransfers in falschen Bildformaten herrühren dürfte, anhand derer Franco - vom Vatikan einst als gefährlichster Filmregisseur neben Buñuel eingeschätzt - seit den 80ern wiederentdeckt wurde. Erst im Kino, so meine Erfahrung, entfalten seine Filme ihren eigentlichen/sehr eigenen Reiz. Es mag auch damit zu tun haben, dass man im Kino einem Film weit eher ausgeliefert ist als zuhause in den eigenen vier Wänden. Wohl nicht umsonst finden sich zahlreiche masochistische Séancen in Francos Filmen: Nicht selten ist er selbst als sein eigener Hauptdarsteller geknebelt und gefesselt anzutreffen.



Die vergangenen Jahre sahen eine erfreuliche Entdeckung und Würdigung dieses tatsächlich einzigartigen Regisseurs. Allen voran die große Retrospektive in der Cinématheque Francaise, die Würdigung für das Lebenswerk mit einem spanischen Goya und schließlich auch eine, wenngleich nicht ideale, Werkschau im Berliner Kino Babylon. Zu letzterer hatte ich einen Text in der taz, zu zwei weiteren Kinovorführungen seiner Filme in Berlin habe ich einführende Vorträge gehalten, die hier und hier dokumentiert sind.

Danke, Jess, für

Sie tötete in Ekstase
Venus in Furs
Miss Muerte
Lorna, l'exorciste
Eugenie - Philosophy in the Boudoir
Der Todesrächer von Soho
Necronomicon - Geträumte Sünden
Blue Rita

... und wahrhafte unzählige, weitere rohe Diamanten einer Filmkunst abseits des cinéma de qualité. Und grüß' Lina von uns.



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