Immer wieder beeindruckend finde ich den Output der deutschen Filmindustrie der 20er Jahre. Heutzutage subsumiert man das ja gerne anhand einiger Schlagworte; Expressionismus, Metropolis, Mabuse, ein bisschen Lang und Murnau, ein bisschen UFA, Schatten gäbe es in diesen Filmen oft zu sehen und Hitlerfiguren wurden da überall schon vorausgewähnt. Aus den Zahlen, die ich gerade vor mir habe, da ich für eine Klausur (allerdings an der Publizistik) lerne, geht indes hervor, dass alleine im Zeitraum von 1923 bis 1929 in Deutschland sage und schreibe 1519 Langfilme produziert wurden. Alleine diese Dimensionen - und die Tatsache des immensen finanziellen Erfolgs der seinerzeitigen deutschen Industrie - verdeutlichen, dass der Verweis auf Filmexpressionismus und Schattengestalten nur höchst unbefriedigend sein kann; Filmwissenschaftler wie Thomas Elsaesser betonen schon lange die motivische und ästhetische Differenziertheit des Weimarer Kinos und heben zahlreiche Beispiele für elaboriertes Filmemachen in dieser Spätphase des Stummfilms hervor.

1519 Spielfilme in 7 Jahren, man muss sich das mal vorstellen. Ich bin mir sicher, dass dort neben viel Unerheblichem auch eine Großzahl filmischer Juwelen vergraben liegt, die einen anderen Blick auf Filmgeschichte gestatten. Umso schmerzlicher ist es, dass schon gerade mal nur die allerüberkanonisierten Filme es überhaupt auf DVD schaffen. Der Rest, darf man wohl sagen, ist zumindest einer über Filmhistoriker und andere Experten mit Zugang zu Archiven hinausgehenden Öffentlichkeit auf ewig verloren.


° ° °




kommentare dazu:



kianee, Dienstag, 18. Juli 2006, 00:00
1519 Filme und keine Zensur ;)
Man bedenke auch, dass sich in diesen sieben Jahren auch die Jahre 1918-1921 befinden - die legendaere 'zensurfreie' Zeit des deutschen Films. Der erste Weltkrieg war zu Ende, das wilhelminische Kaiserreich abgesaegt, eine junge Demokratie am Bluehen. Es gab keine vergleichbaren staatlichen Zensurorgane wie noch zu Kaiserzeiten, also wurde produziert, dass die Schwarte krachte. Vor allem auch viele Filme mit erotischem Inhalt, aber auch politische, kritische oder einfach 'verstoerende' Filme konnten nur deshalb ueberhaupt entstehen.


thgroh, Dienstag, 18. Juli 2006, 00:02
Naja, genau genommen befinden sich in den sieben Jahren von 1923 bis 1929 die Jahre 1918-1921 ja gerade eben nicht. ;)

Das heißt: Das erweitert das Spektrum natürlich noch. Ja, von dieser Zensurlosigkeit habe ich auch schon gehört; ich will gar nicht dran denken, was da im Laufe der Jahre alles an Obskuritäten und Aufregendem verloren gegangen ist...


kianee, Dienstag, 18. Juli 2006, 01:56
Aeh. Mist... wer lesen kann, ist klar im Vorteil. Irgendwie hab ich 1913 bis 1929 gelesen, wie peinlich.

Viel von dem, was in der Zensurlosigkeit an HC-Filmen oder Erotica entstand, wurde zerstoert. Viel von dem, was uebrigblieb, lungert in Privatarchiven unzugaenglich rum. Einiges weniges ist aufgearbeitet (zum Beispiel die Saturn-Filme - Saturn war die erste Wiener Filmproduktionsgesellschaft ueberhaupt, und sie produzierten schon zur Jahrhundertwende Pornographie und Erotica) und auf DVD erhaeltlich, aber das sind meistens die 'Frauen beim Baden' Nudistenfilmchen. Die stag films, die auf Herrenabenden gezeigt wurden... davon ist nicht mehr allzuviel erhalten, fuerchte ich. Was bleibt, ist die Legende. Leider.


thgroh, Dienstag, 18. Juli 2006, 02:01
Ja, die Saturn-Filme kenne ich von einem Video des Österreichischen Filmmuseums. Wobei die Saturn wohl ihre Filme schon in den 00er Jahren gedreht hat, aber da mag ich mich auch irren.

Von Kurt Tucholsky gibt es eine schöne und witzige Beschreibung der Vorführsituation illegaler erotischer und pornografischer Filme in einem Berliner Hinterzimmer. Sie heißt Erotische Films und ist in dem von Schweinitz zusammengestellten, bei Reclam erschienen Band zur frühen Filmauseinandersetzung zu finden.

Ansonsten gibt es ja ein paar Videos und DVDs pornografischer Stummfilme, allerdings vor allem aus Frankreich; hiesige Produktionen sind wohl eher selten zu finden. Und selbst diese erfreulichen kleinen Sammlungen sind natürlich nur minimale Ausschnitte der tatsächlichen Produktion damals. Das war schon damals ein Heidengeschäft.


kianee, Dienstag, 18. Juli 2006, 02:17
Mein Prof meinte neulich, dass es wohl sehr grosse Privatsammlungen vor allem im arabischen Raum gaebe, die allerdings verschlossen und unzugaenglich seien. Spannend ist in dem Zusammenhang der ersten HC-Filme auch die Entstehung von Genres in dem Bereich und den Mischformen aus 'normalem' Film und Pornographie, die ja vor allem spaeter forciert wurden. Hach, tolles Thema. ;)

soilworker, Dienstag, 18. Juli 2006, 19:09
Die IMDb listet zwischen 1923 und 1929 immerhin 1381 Filme aus Deutschland auf. Da sind aber auch Co-Produktionen eingeschlossen. Bei filmportal.de kann man offenbar leider nicht nach Jahrgängen suchen.


thgroh, Mittwoch, 19. Juli 2006, 01:32
meine Quelle ist in dieser Hinsicht das Filmstatistische Jahrbuch für Deutschland aus den 30er Jahren; ich denke deshalb, dass 1519 als Zahl schon sehr nahe dran ist. Und das sind im übrigen nur die Langfilme; die selbe Quelle listet eine um ein vielfaches höhere Zahl an "zugelassenen Filmen insgesamt" auf, die, so zumindest der Eindruck, auch aus der deutschen Filmproduktion stammen.



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