Thema: Berlinale 2004
12. Februar 04 | Autor: thgroh | 0 Kommentare | Kommentieren
Der Horrorfilm bedient ein Kino des Verlässlichkeitsverlusts. Raum und Zeit kündigen sich gegenseitig ihre Synchronität auf, Geister aus der Vergangenheit lugen hinter Türen in das gegenwärtige Gefüge hervor. So gesehen ist Brian de Palmas im Jahr 1973 entstandener Sisters durch und durch konsequent, wie er Realitäten entwickelt, Übersichten - beispielsweise durch die typischen Splitscreens - gewährt, dann aber doch jede Gewissheit über Bord wirft und ein Szenario entwickelt, in dem souveräne Positionen nicht mehr möglich scheinen. Für den Betroffenen im Film, wie auch im Hier und Jetzt, das bei de Palma immer nur eine wackelige Kategorie darstellt, für den Zuschauer im Kinosaal.
Eigentlich aber ist das Trashkino, noch nicht mal Exploitation im engeren Sinne. Und man darf gut und gerne über einiges lachen, ohne dem Film Gewalt anzutun. Wie dann aber de Palma die investigativen Versuche einer New Yorker Kolumnenjournalistin mit politischem Bewusstsein, entgegen der Apathie der Behörden und ihrer Vertreter einen Mord aufzuklären - also Realitäten ans Tageslicht zu befördern, zu schaffen -, torpediert und ins Gegenteil verkehrt - ein Trip ins Innere wie ins Unbekannte -, das ist dann schon großartig, lässt man sich von hölzern agierenden Mimen und einer bisweilen ungelenken Dramaturgie-Gymnastik nicht abschrecken. Das beginnt schon bei der Perspektive auf den Film und seiner Personen: Fixpunkte gibt es nicht, die Narration scheint von vielen Hauptpersonen auszugehen, an die sich gekettet wird, nur um sie, wenn sie ihren Part erfüllt haben, zugunsten der nächsten abzustoßen. Das ist, gewissermaßen, von Hitchcocks Psycho übernommen. Dann natürlich der Einsatz optischer Mittel: Wenn die Journalistin ein Irrenhaus betritt, in dem sie das konspirierende Mörderpärchen wähnt, verzerrt die Bildebene das Geschehen bald schon bis ins Undechiffrierbare: Erinnerungsfragmente, hypnotische Visionen, die rein ästhetisch an die ersten Tage des Kinos erinnern und bestimmt auch nicht zufällig Bunuels Un Chien Andalou zu zitieren scheinen, und nicht zu letzt grotesk verzerrte Gegenwartskeitpartikel erschaffen ein morbides Patchwork des Weltverlusts, unterlegt mit grell übersteuerter Musik.
Das Erfassen der Realität ist natürlich ein bestimmendes Thema in De Palmas Filmografie. Optische und audiovisuelle Hilfsmittel spielen bei ihm deshalb immer auch eine große Rolle in der Narration. In Sisters hat sich De Palma noch nicht ganz zu dieser technischen Ebene vorgearbeitet, auch wenn sie sich gelegentlich schon anzudeuten scheint. Die Modulationen der grundlegenden Wahrnehmung selbst sind es, die ihn hier noch primär zu interessieren scheinen: Augen, Ohren, organisches Material. Vielleicht fühlt sich der Film ja auch deshalb ähnlich an wie die frühen, zeitgleich entstandenen Arbeiten von David Cronenberg? Schon der Vorspann jedenfalls zeigt verstörende Detailaufnahmen eines Fötus im Uterus, dessen Gesichtspartie uns schnell frontal und leinwandfüllend gegenüber steht, die Augen ganz zentral. In diesem Zurschaustellen organischer Oberfläche liegt eine ganz beunruhigende Kraft: Was mag im Innern des Zellmaterials vorgehen? Was werden diese Augen eines Tages sehen können? Einen Moment später führt der Film uns selbst vor: Zwei Föten sind da auf einmal zu sehen, nicht bloß einer. Auch wir können unseren Augen nicht immer trauen.
De Palmas Filme enden selten mit Happy End. Meist finden seine Filme einen Beschluß, in dem der Regisseur seine Technik nochmals ausformuliert. Und hier findet sich dann doch schon ein optisches Gimmick und ein entsprechender Gag: Eine Couch, in der sich eine Leiche befindet (Rope? The Trouble with Harry?), mitten in der Wüste an einem gottverlassenen Bahnsteig, daneben eine Kuh, beides gefilmt aus der Gottesperspektive. Die Kamera geht zurück, gibt einen Telegrafiemast zu erkennen, an dem ein reichlich tumber Privatdetektiv incognito hängt, in der Hand ein Fernglas: Er observiert die Couch, den MacGuffin des Films. Eine groteske Situation und man meint De Palma sich köstlich über jenen Typ Menschen amüsieren zu hören, der sich, selbst noch in der bemühten Kompensation seiner Wahrnehmungsinsuffizienzien, nur in die Groteske manövrieren kann. Wir lachen mit, über diese Pointe, befreit auch nach diesem psychedelischen Horror-Thriller-irgendwas. Etwas Unsicherheit bleibt dennoch. Haben wir über uns gelacht?
Der Film läuft auf den 54. Internationalen Filmfestspielen Berlin in der Retrospektive.
>> Die Schwestern des Bösen (Sisters, USA 1973)
>> Regie: Brian de Palma
>> Drehbuch: Brian de Palma, Louisa Rose
>> Darsteller: Margot Kidder, Jennifer Salt, Charles Durning, u.a.
imdb | mrqe | De Palma on Sisters
alle Berlinale-Kritiken
Eigentlich aber ist das Trashkino, noch nicht mal Exploitation im engeren Sinne. Und man darf gut und gerne über einiges lachen, ohne dem Film Gewalt anzutun. Wie dann aber de Palma die investigativen Versuche einer New Yorker Kolumnenjournalistin mit politischem Bewusstsein, entgegen der Apathie der Behörden und ihrer Vertreter einen Mord aufzuklären - also Realitäten ans Tageslicht zu befördern, zu schaffen -, torpediert und ins Gegenteil verkehrt - ein Trip ins Innere wie ins Unbekannte -, das ist dann schon großartig, lässt man sich von hölzern agierenden Mimen und einer bisweilen ungelenken Dramaturgie-Gymnastik nicht abschrecken. Das beginnt schon bei der Perspektive auf den Film und seiner Personen: Fixpunkte gibt es nicht, die Narration scheint von vielen Hauptpersonen auszugehen, an die sich gekettet wird, nur um sie, wenn sie ihren Part erfüllt haben, zugunsten der nächsten abzustoßen. Das ist, gewissermaßen, von Hitchcocks Psycho übernommen. Dann natürlich der Einsatz optischer Mittel: Wenn die Journalistin ein Irrenhaus betritt, in dem sie das konspirierende Mörderpärchen wähnt, verzerrt die Bildebene das Geschehen bald schon bis ins Undechiffrierbare: Erinnerungsfragmente, hypnotische Visionen, die rein ästhetisch an die ersten Tage des Kinos erinnern und bestimmt auch nicht zufällig Bunuels Un Chien Andalou zu zitieren scheinen, und nicht zu letzt grotesk verzerrte Gegenwartskeitpartikel erschaffen ein morbides Patchwork des Weltverlusts, unterlegt mit grell übersteuerter Musik.
Das Erfassen der Realität ist natürlich ein bestimmendes Thema in De Palmas Filmografie. Optische und audiovisuelle Hilfsmittel spielen bei ihm deshalb immer auch eine große Rolle in der Narration. In Sisters hat sich De Palma noch nicht ganz zu dieser technischen Ebene vorgearbeitet, auch wenn sie sich gelegentlich schon anzudeuten scheint. Die Modulationen der grundlegenden Wahrnehmung selbst sind es, die ihn hier noch primär zu interessieren scheinen: Augen, Ohren, organisches Material. Vielleicht fühlt sich der Film ja auch deshalb ähnlich an wie die frühen, zeitgleich entstandenen Arbeiten von David Cronenberg? Schon der Vorspann jedenfalls zeigt verstörende Detailaufnahmen eines Fötus im Uterus, dessen Gesichtspartie uns schnell frontal und leinwandfüllend gegenüber steht, die Augen ganz zentral. In diesem Zurschaustellen organischer Oberfläche liegt eine ganz beunruhigende Kraft: Was mag im Innern des Zellmaterials vorgehen? Was werden diese Augen eines Tages sehen können? Einen Moment später führt der Film uns selbst vor: Zwei Föten sind da auf einmal zu sehen, nicht bloß einer. Auch wir können unseren Augen nicht immer trauen.
De Palmas Filme enden selten mit Happy End. Meist finden seine Filme einen Beschluß, in dem der Regisseur seine Technik nochmals ausformuliert. Und hier findet sich dann doch schon ein optisches Gimmick und ein entsprechender Gag: Eine Couch, in der sich eine Leiche befindet (Rope? The Trouble with Harry?), mitten in der Wüste an einem gottverlassenen Bahnsteig, daneben eine Kuh, beides gefilmt aus der Gottesperspektive. Die Kamera geht zurück, gibt einen Telegrafiemast zu erkennen, an dem ein reichlich tumber Privatdetektiv incognito hängt, in der Hand ein Fernglas: Er observiert die Couch, den MacGuffin des Films. Eine groteske Situation und man meint De Palma sich köstlich über jenen Typ Menschen amüsieren zu hören, der sich, selbst noch in der bemühten Kompensation seiner Wahrnehmungsinsuffizienzien, nur in die Groteske manövrieren kann. Wir lachen mit, über diese Pointe, befreit auch nach diesem psychedelischen Horror-Thriller-irgendwas. Etwas Unsicherheit bleibt dennoch. Haben wir über uns gelacht?
Der Film läuft auf den 54. Internationalen Filmfestspielen Berlin in der Retrospektive.
>> Die Schwestern des Bösen (Sisters, USA 1973)
>> Regie: Brian de Palma
>> Drehbuch: Brian de Palma, Louisa Rose
>> Darsteller: Margot Kidder, Jennifer Salt, Charles Durning, u.a.
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