Montag, 16. Mai 2005
Thema: Kinokultur
Update, 06.10.2005: Auf der Website des US-amerikanischen Radiosenders National Public Radio gibt es ein kleines Feature mit Interview-Bits von Cronenberg und dem New Yorker Filmkritiker James Hoberman im Stream

Kein Cronenberg in Cannes ohne Zwischenfälle. Nachdem Crash seinerzeit für einige Skandälchen und entsprechend hektisch verlassene Kinositze sorgte, ging auch die Pressevorführung von A History of Violence, die Adaption einer graphic novel von John Wagner und Vince Locke, dem Vernehmen nach nicht ohne weiteres vonstatten. Wie im Cannes-Weblog der New York Times nachzulesen ist, sorgte die Hyperbolik einer offenbar vollends übertriebenen Gewaltszene für massenhaftes Gelächter seitens der versammelten Presse. Nur ein einzelner der Anwesenden - NYT-Kritikerin Manohla Dargis ist er namentlich und auch darüber hinaus bekannt (Details indes werden verschwiegen) - verteidigte das offenbar verlachte Werk: "Will you critics take this serious", soll es ins Dunkel gerufen worden sein. Dabei, so Dargis, sei das Lachen nun gar nicht boshafter Natur gewesen: Ganz im Gegenteil, Cronenberg gelinge es geradewegs meisterlich, den Tonfall seines kraftvollen Films sehr nuanciert durch ein weites Spektrum zu manövrieren. "It slyly draws you into the pleasure of violence (Mr. Cronenberg outdoes John Woo in the film's "action" scenes), then makes you take uncomfortable stock of your laughter. In effect, it deconstructs the American action movie. And it is awesome." Das, Frau Dargis, glauben wir aufs Wort.

A History of Violence erzählt die Geschichte der Musterfamilie Stall im Mittleren Westen der USA. Als Vater Tom (Viggo Mortensen) zwei gesuchte Schwerverbrecher erlegt, als diese sein Restaurant überfallen wollen, wird er kurzfristig zum gefeierten Medienstar. Die Prominenz bleibt nicht ohne Folgen: Bald stehen zwielichtige Gestalten aus der Unterwelt von Philadelphia vor der Tür, die Tom Stall für einen untergetauchten Gangster halten.



Spiegel-Diarist Borcholte wirft in seinem Cannes-Tagebuch viele Namen ins Feld: Der mit "extremer Brutalität" durchsetzte History beginne sowohl wie ein Roman von Stephen King, als auch auch wie ein Film von David Lynch, ende aber ganz sicher wie ein Film von Tarantino, nicht ohne Umwege über die Werke von Sam Peckinpah und Walter Hill jedoch. Die "brutal-lakonische Abrechnung mit Gewalt" sei Cronenbergs bislang "zugänglichster Film" und mache einen "Mordsspaß".

Martin Rosefeldt, für Arte an der Croissette, erzählt viel nach. Conclusio im letzten Absatz: Cronenbergs Film sei "kein allzu ernster oder gar melodramatischer Stoff", seine überbordende Gewaltdarstellung lade vielmehr zum Lachen ein. Diese "übertriebene Kontrastierung" trage jedoch maßgeblich zum Gelingen des Films bei, wenn es darum geht, den Blick des Zuschauers mithin auch auf die eigene Wirklichkeit zu ändern.

Todd McCarthy von Variety hat sich ebenfalls auf die Suche nach Vorbildern begeben und hebt vor allem die Nähe zum Western hervor. Dessen Archetypen handhabe Cronenberg selbst noch im Detail mustergültig, doch herrsche jenseitss dessen Konvention vor. Erstaunlich, wenn man die ansonsten abenteuerlichen Pfade des Regisseurs kennt. Zwar sind Film wie darstellerische Leistungen an sich solide, wenngleich der Blick auf allzu Amerikanisches "slightly idiosyncratic" ausfalle und Howard Shore es gelegentlich etwas zu gut meine, doch für einen Cronenbergfilm sei bloß solides Handwerk letzten Endes nicht ausreichend.

Ray Bennett vom Hollywood Reporter hebt zur Gegenrede an: Cronenbergs Film - einer seiner "more straightforward pictures" - sei ein "cleverly told "what if?" movie", das an einige ernste Themen rühre. Vor allem der manipulative Umgang mit der Darstellung von Gewalt ist diskursiv offenbar recht anregend ausgefallen. Auch die Darsteller finden lobende Erwähnungen.

Verena Lueke von der FAZ macht hierzu nur ein langes Gesicht. Das blutige Treiben sei doch nur einer von Cronenbergs schwächeren Filmen. Zwar ist die Story kompliziert angelegt, doch sind's allein die Darsteller, die das Interesse am Film nicht frühzeitig erlahmen lassen. Michael Hanekes Cache wird hier als positiv benanntes Gegengewicht noch im gleichen Absatz mitverfrühstückt.



Jonathan Romney, Berichterstatter für Screen Daily, hat hingegen schon einen heimlichen Wettbewerbsfavoriten ausgemacht. Viele filmhistorische Links werden auch hier entdeckt, die Spanne reicht vom Western zum Film Noir, von Hitchcock über Peckinpah zu Dirty Harry (und, schließlich, zu Cronenberg selbst, der hier zahlreiche Themen und Motive seiner Filmografie erneut aufgreife). Vor allem die zahlreichen Twists (von denen obige Synopsis offenbar nur sehr wenige andeutet) haben es ihm angetan. Verlässlich sei hier nur, dass nichts verlässlich ist. "Cronenberg’s most commercial shot in ages" könne zwar manch alteingesessenen Fan verschrecken, könnte dafür aber auch ein größeres Publikum zufrieden stellen, zumal als typischer Film im Zeitalter der DVD, der mehrmals gesehen werden müsse und könne. Sein Fazit: "Ruthlessly gripping and intellectually provocative and dense".

Weiterführende Links:
imdb ~ Festival-Infosite ~ offizielle Website ~ Info-Blog zum Film mit weiteren Infos und Fotomaterial.


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Klingt spontan erstmal gut, Qualitätsjournalismus, der jetzigen selbstapostrophierten "Qualitätsjournalismus" als primäre Abstoßrampe und Distanzbezug auffasst, das könnte echt was werden. Vielleicht ist das aber auch einfach nur einmal mehr ein Großkotz vom Dienst und das ganze wird ziemlich muffiger Quatsch. However, beides ist möglich, deshalb: In Blicknähe ablegen. Ab Herbst, monatlich.

Vor einem Monat gab's dann ja auch schon in der taz ein Manifest zum Thema vom Herausgeber. [via]


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Kurz und knapp zwar alles, aber ich mag das: Hier. [via]


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