Thema: Berlinale 2006
11. Februar 06 | Autor: thgroh | 0 Kommentare | Kommentieren
So richtig angefangen hat das Festival für mich noch nicht. Gestern morgen gemütlich zwei Filme aus dem Forum, deren Pressevorführungen immer die entspanntesten und irgendwie nettesten sind. Das ist schon sehr nah dran am eigentlichen Kinobesuch, im Gegensatz etwa zu den Verhältnissen, die frühmorgens vor der ersten Wettbewerbs-PV im Berlinale Palast herrschen (der ohnehin, dies nur am Rande, das beschissenste "Kino" überhaupt ist). Danach noch zur Uni, auch heute morgen wieder, dann noch nach Hause, Unikram erledigen, dann wieder zur Berlinale und heute nur einen Film geschaut, den wenig erfreulichen Bollywood-Beitrag (siehe unten). So richtig Berlinale ist das noch nicht, aber morgen geht es richtig los, das fürchte ich, mit Terrence Malicks Pocahontas-Blockbuster New World, für den es in den frühesten Morgenstunden sich aus dem Bett zu schälen gilt. ~
Schrecklich die beiden Frauen zwei Plätze neben mir vor Parineeta. Es wird aufgerückt, um einer kleinen Gruppe weiter rechts die Möglichkeit zum Zusammensitzen zu geben; da klagt die eine plötzlich darüber - und dies eben nicht unauffällig -, dass sie nun auf einer "ungeraden Nummer" sitze. Damit hat sie in Problem, das geht nicht, nein, das geht wirklich nicht, mit ungeraden Nummern, so sie, mit denen habe sie ein Problem. Also tauscht sie den Platz mit ihrer Freundin und sie ist ihr sehr dankbar dafür, auf sehr affektierte Weise. Die andere will nun aber auch endlich ihre fünf Minuten Gratis-Rumspinnen aufbrauchen und erzählt in eine fort von ihrer seltsamen Diät, die sie gerade fährt - und ich fürchte, weil diätbedürftig sah sie ja nun gerade eben nicht aus, dieses Ernährungsdiktat, das im wesentlichen auf Totalverzicht auf allem basiert (außer Sesamöl, Sesamöl geht, meint sie, fein, denke ich mir, Sesamöl, das ist ja schon fast eine vollwertige Mahlzeit), begründet sich streng spirituell. Warum tauchen solche Freaks grundsätzlich bei Filmfestivals auf? Wo sind die sonst anzutreffen?
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Ich hasste sehr lange Zeit Pistazien, was damit zusammenhängt, dass ich mal so mit 11 eine gegessen habe, die mir nicht geschmeckt hat. Seit kurzem liebe ich Pistazien, was damit zusammenhängt, dass ich mal wieder welche probiert habe. Jedenfalls, das Pistazieneis oben bei der Eisdiele in den Potsdamer Arkaden ist ganz okay, aber nicht super. Die Kugel drunter ist Cookies, so schmeckt einfach die Berlinale für mich, jedes Jahr immer wieder.
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Ich laufe blöd rum, mit Eis in der Hand, und bin plötzlich wieder im Cinemax, von wo ich eigentlich gerade geflohen bin. Bei der Pressevorführung zum neuen Film von Lukas Moodysson, den anzuschauen ich mich scheue, ist kein Einlass mehr möglich, Kino schon voll mit Presse, kurzfristig zweite PV anberaumt. Auch wieder so ein Ding, das ich nicht verstehe. Warum nun ausgerechnet bei dem alle reinrennen? Allerdings war sein letzter Film ja ein Porno und so ist das ja eigentlich immer: Irgendwas mit Porno, Titten oder Schmuddel machen und Du hast auf der Berlinale vollstes Haus. Keine Ahnung, um was aber nun in diesem Film geht.
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Ich warte noch auf den ersten Dummbrot-Journalisten, der mir negativ in einer Pressevorführung auffällt; erfahrungsgemäß gibt's solche berufsmäßigen Luschen jedes Jahr zu bestaunen. Ekkehard hat schon welche in ihrem ureigenen Terrain, den Wettbewerbspressevorführungen, angetroffen. File under: Hassliebe. Na gut, mehr Hass als Liebe.
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Vor dem Berlinale-Palast versucht so ein Praktikantinnen-Opfer die "Cine-Ausgabe" von Gala zu verschenken. Keiner will das, ich auch nicht, nein, auch beim zweiten Mal nicht, wirklich nicht.
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Im Hotel Hyatt, wo es die Pressekarten und -konferenzen gibt, sind dieses Jahr in der Lobby irgendwie alle viel wichtiger als in den Jahren zuvor. Zumindest was Gesichtsausdruck und Körperhaltung betrifft.
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Schade: Gibt es dieses Jahr kein ScreenDaily? Noch keine Ausgabe gesehen, nirgends. Dafür nur die Variety, aber die hat irgendwie nicht diesen Live-Charme. ScreenDaily hingegen hat immer diesen Talk at "Platz"-Charme. Kommt hoffentlich noch, da würde was ernsthaft fehlen.
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Wenig Plakate diesmal am Platz.
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Der Goldene Ehren-Arschtritt gebührt im übrigen mal wieder der BVG, der es nun schon zum zweiten Mal in Folge gelungen ist, pünktlich zum Festival den S-Bahnbetrieb hin und ab dem Potsdamer Platz ab abends auf Pendelverkehr mit vielen Pausen zwischen den Zügen umzustellen. So ist es recht - während droben noch Tausende Leute aus aller Welt in den Kinos hocken, die alle noch nach Hause wollen, und alle Würdenträger dieser Stadt antanzen, um die Metropole Berlin zu beschwören, zeigt sich die Stadt drunten im Keller von ihrer finstersten, provinziellen Seite. Von selbst versteht sich, dass die Info-Ansagen zum ohnehin zur Desorientierung einladenden Pendelsystem natürlich auf Deutsch rumgepöbelt werden. Aber nun gut, dafür kann die BVG seit neuestem kontrollieren als gäb's kein Morgen mehr: Geschlagene achtmal wurde ich in den letzten drei Tagen zum Vorzeigen des Fahrausweises aufgefordert.
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So richtig angefangen hat es irgendwie wirklich noch nicht.
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Thema: Berlinale 2006
Pin-Up-Ikone Bettie Page ist vielleicht das beste Exempel dafür, wie unsere Bilderkultur simulakrische "Wesen" mit hoher Eigendynamik hervorbringt, die mit der historisch abgebildeten Person nicht mehr zu verwechseln sind. Denn wer ist Bettie Page? In erster Linie ein Archiv von Fotos und kleinen, naiv mit sexuellen Devianzen spielenden dirty movies. Wer aber war die historische Bettie Page, die Person hinter dem Kunstwesen gleichen Namens? Wer sollte das schon wissen können! Mehr als bei allen anderen ikonisch überhöhten Stars und Traumfrauen - denen die Berlinale dieses Jahr immerhin die Retrospektive widmet - liegt hinter der kinky Oberfläche eine fast phantomartige Leere.The Notorious Bettie Page ist nun das unvermeidliche Biopic über die Pin-Up Queen und immerhin zugute halten kann man ihm, dass er - im Gegensatz etwa zum recht betulichen Cash-Biopic Walk the Line, das jüngst ins Kino kam und von solchen Problemstellungen nichts wissen will - erst gar nicht versucht, eine Zugriffsmöglichkeit auf die historische Person zu suggerieren. So ist der Film reichlich stilisiert, bald fleckiges, bald kristallklares Schwarzweiß versucht die materialästhetisch doch recht dynamische Qualität der überlieferten Aufnahmen von Page zu simulieren, um sich auf diese Weise von vorneherein als Appendix zum Bildarchiv "Bettie Page" zu erkennen zu geben; abwechselnd dazu gibt es unfassbar cremigfarbene Sequenzen - passend zum Page-Output, der exakt zwischen diesen beiden Fotomaterial-Polen verortet ist. Unklar bleibt hingegen, warum The Notorious Bettie Page sich regelmäßig an die Bildästhetik des Film Noir anschmiegt; mit dem hatte die Page nun weiß Gott nie etwas zu tun, auch filmhistorisch ist das mehr als unscharf. Es dämmert einem bei solchen Widersprüchen, dass die Wahl der gestalterischen Mittel vielleicht doch nicht so reflektiert vonstatten ging, wie sich das hier vielleicht liest.
Wir erfahren manches aus Bettie Pages Leben; einen Sinnzusammenhang konstruiert der Film hingegen nie. Strebsam in der Schule gewesen, im Debattierclub engagiert, vom Vater missbraucht, später dann von einer Gang vergewaltigt, trotzdem irgendwie im Oben- und bald auch Unten-Ohne-Biz gelandet, schließlich Sittenprozesse und irgendwann Born Again Christian geworden. Die Elemente stehen disparat nebeneinander, episodisch aneinandergereiht, nie entsteht der Eindruck psychischer Kontinuität. Naheliegend für einen typischen Genre-Vertreter wäre es gewesen, Missbrauch und Vergewaltigung irgendwie mit ihren späteren Arbeiten zu kontextualisieren - nichts dergleichen, Page erscheint, wie das später mal gesagt wird, ganz als "the born exhibitionist". Die reale Person Bettie Page verschwindet auch hier hinter dem Film.
Man mag davon halten, was man will; als Drama funktioniert der Film deshalb nicht richtig, man könnte diese Haltung aber auch als reflektierte Begegnung der grundsätzlichen Problematik des Biopic-Genres, das seinen Gegenstand immer auch nach dramaturgischen Konventionen verformt, einordnen. Könnte man, nur ergibt sich das nicht recht zwingend aus dem Film selber; immer bleibt dabei die Ahnung, es zu gut zu meinen mit einem Film, der, so glaubt man schließlich doch, letzten Endes nur am ästhetischen Liebreiz und einer immerhin gelegentlich recht unterhaltsamen Hommage interessiert ist.
imdb ~ trailer

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Thema: Berlinale 2006
Bollywood ist Kino des Exzesses, im Sinne eines allgemeinen "Zuviels" und vor allem der Freude daran in einem abgekarteten Spiel. Alles ist way too much, und deshalb auch so großartig: Die Choreografien feiern schon ein überbordendes Fest, wo doch eigentlich nur ein kleines Mosaiksteinchen der Handlung hinzugefügt wurde; die Farben bringen den Bildkader regelrecht zum Bersten, der Schmuck ist nurmehr hilarious, die Gefühle so täuschend unecht, dass es eine wahre Pracht ist, wider besseren Wissens in sie hineinzutauchen, mit einem Köpfer vom Zehnmeterbrett. Die Stories sind bigger than life, die Tragik sowieso. Bollywood ist dabei kein Trash, auch wenn in westlichen Kinos dazu gerne an den falschen Stellen gelacht oder, schlimmer noch, abwehrend Köpfe geschüttelt werden. Bollywood meint Exzess, Kino-Exzess.Was nun also ist - so darf man nach der Sichtung von Parineeta, mit dem das Internationale Forum dieses Jahr eröffnet wird, mit Recht fragen - ein Bollywood-Film eigentlich wert, der dem Exzess geradewegs zu misstrauen scheint und ihn mit aller Konsequenz aus seinen Bildern, seiner Story treibt? Nicht viel, wird man sich eingestehen müssen.
Die Geschichte entspricht einer gängigen Blaupause, was nicht viel Wunder nimmt, basiert sie doch auf einem Roman, der, wie man von den Produzenten im anschließenden Q&A erfährt, in Indien nicht nur ungemein populär, sondern auch die Vorlage unzähliger Bollywood-Filme ist. Es geht also um Liebe zwischen, zunächst, Nachbarskindern, später: Erwachsenen, über die Gartengrenze und die Klassen hinweg. Natürlich will sein Vater, ein eiskalter Businessman, den ihrigen, ein geradewegs kuschlig-liebenswürdiger Patriarch, übertrumpfen: Dieser leiht jenem einen enormen Batzen Geld, wohlwissend, dass er es nicht zurückzahlen wird können, und spekuliert damit auf dessen Grund und Boden, wo ein Hotel entstehen soll. Nicht berücksichtigt im Plan wird ein Freund der auszubootenden Familie, der in Großbritannien dick im Geschäft und gerade zu Besuch ist; leichter Hand sind die Schulden getilt, was nicht ohne Folgen für die Liebesgeschichte seit Kindestagen der beiden Hauptfiguren bleibt: Er wittert ihren Aufkauf, wähnt Prostiution, was folgt entspricht den Gesetzen des Melodrams: Zuviel Stolz im Spiel, aneinander vorbei geredet wird obendrein, Missverständnisse allenthalben, das Glück zerbricht. Am Tage seiner Hochzeit - zu heiraten ist eine unerträglich nervige upper-class bitch - hebt sich der Schleier vom intriganten Spiel des Vaters ...
Parineeta beginnt mit einem Bild im Bild: Nostalgisch vergoldeter Blick auf einen Fluss, auf Calcutta, es ist das Jahr 1962 und ein Dampfer schiebt sich voran, drumherum ein Bilderrahmen, der im Zuge einer Zoomfahrt der Kamera verschwindet und deshalb als merkwürdig sinnlos in Erinnerung bleibt; er verweist allerdings bereits auf das Problem des Films, der die Statik und nostalgische Wehmut eines gerahmten Bildes sucht, von der Bewegung aber nicht lassen will. Das Ergebnis ist ein merkwürdiger Kompromiss, der wie das schlechteste aus zwei Welten wirkt: Ein Gutteil der Musical-Sequenzen ist am Klavier situiert (er ist Komponist) und zeichnet sich gerade dort durch einen Mangel an Bewegung aus, wo andere Bollywood-Filme förmlich übersprühen; statt bonbonartiger Farbenpracht wird alles in jenen entrückt wirkenden goldenen Schimmer eingetaucht, der im Kino üblicherweise Nostalgie markieren sol, was selten genug funktioniert, jeder Lichtstrahl der Ausleuchtung sitzt perfekt und taucht alles ins matt Schimmernde, ordnet dabei jede Bewegung, jede Regung rigoros unter sein Regiment, wo doch eigentlich gerade das Berstende aus dem Bildrahmen heraus eine Tugend aus Bollywood ist; statt funky Rhythms setzt man auf eine merkwürdig verwestliche Musik, keine der Figuren ist grell und überzeichnet, sondern geradewegs auf psychologische Stimmigkeit reduziert; das natürlich arg konstruierte Melodrama verweist nur auf sich selbst, um zu Tränen zu rühren, und gibt sich, auf diese Weise entblößt, eben doch nur als die Schwachstelle, mit nichts weiter sonst, zu erkennen, die man Bollywood-Erzählungen, aus westlicher Perspektive, immer schon ankreiden hätte können.
Oder kurz: Parineeta wirkt wie ein handwerklich qualitativer Hollywoodfilm, dem man ein wenig Bollywood-Features aufgeklebt hat, wobei der Wahnsinn, der diesem Filmzusammenhang glücklicherweise oft anhaftet, geflissentlich vergessen wurde. Parineeta ist slick und glossy, aber schlicht und ergreifend nicht gut; ja, schlimmer noch: wenn es in dem Film tatsächlich in eine Lokalität namens Moulin Rouge geht, wo man eine, in wirklich absolut jeder Hinsicht, erschreckend biedere Choreografie zu sehen bekommt, wünscht man sich den von Bollywood durchaus inspirierten Größenwahn herbei, der Baz Luhrmanns gleichnamigen Film kennzeichnete. In der letzten Sequenz blitzt dieser für ein paar Sekunden auf, als würde es der Film einem noch extra mit auf den Weg geben wollen, dass er einen nach Strich und Faden um den Bolly-Genuss betrogen hat.
imdb ~ weitere Informationen ~ Jump Cut-Kritik


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