Thema: Alltag, medial gedoppelt
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Nachts um halb vier unbedingt Soderberghs Solaris auf größtmöglicher Leinwand sehen wollen. Nicht mit der DVD vorlieb nehmen können, auch nicht nur den Soundtrack hören wollen. Die Leinwand muss es sein. Wie unbefriedigend.
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22. Dezember 04 | Autor: thgroh | 0 Kommentare | Kommentieren
Wie ich solche Momente liebe. Ich komme aus dem Kino nach Hause (Oldboy, endlich im Kino gesehen, im Intimes war ich, quasi Nachbarschaft) und das Wohnzimmer ist warm. Durch die zugezogenen Nesselstoffvorhänge dringen Neonlichter von der Frankfurter Allee durch, besonders gefällt mir das rote "Hotel" (ohne weiteren Namen), das seit einigen Wochen rüberscheint (und auf dem Nesselstoff als permanent anwesender Schriftzug mich verfolgt). Und dann, als undeutlicher Fleck auf dem Vorhang, der halbe Mond, direkt über den alten Laternen noch aus DDR-Zeiten. Das ist so selten, dass der Mond direkt auf meinen Schreibplatz scheint. Das ist wunderschön.
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13. Dezember 04 | Autor: thgroh | 0 Kommentare | Kommentieren
Irgendein Wirrkopf vorhin auf Deutschlandfunk per Telefonzuschaltung zur EU-Türkei-Debatte, zwischen Morgenkaffee, -brötchen und Goldt-Lektüre aufgeschnappt: Es ginge ja nun nicht um Moral. Also das Christliche, das sei außen vor. Man sei aber dagegen, dass also die Tochter des türkischen Premierministers ins Ausland geschickt werde, weil sie dort einen Schleier tragen dürfe. Und dass die Frau desselben Herrn nur mit einem solchen öffentlich auftrete. Es sei nunmal so, dass man in Frankreich und Deutschland Erfolge gezeitigt habe - und zwar in Frankreich noch mehr als in Deutschland! -, nämlich dahingehend, dass es Deutsche gäbe, die Moslems sind.
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Wenn ich schreibe (schreiben muss), dann kommt es bei mir zu seltsamsten Verrenkungen organisatorischer Art. Das beobachte ich immer wieder an mir. Ich weiß genau: Heute musst Du das schreiben (ein Referat, beispielsweise, oder eine Kritik). Ich nehme mir Zeit, zuviel vielleicht sogar. Im Kopf die Liste, was zu tun ist: Erste Sätze formulieren sich, möglicher Aufbau, was noch alles zu lesen ist, um dann zu schreiben. Aber: Ich schreibe nicht. Die Zeit schmilzt zusehends dahin. Ich schreibe noch immer nicht. Eine Art Schuldfleck legt sich über alles. Dann das "Sich-Zusammenreißen": "So, und jetzt hockst Du Dich endlich mal ran!". Und ich setze mich an den Rechner, aber ich finde 1000 andere Sachen, die ich erstmal vorher mache. Surfen, noch eine Kanne Tee aufsetzen, kurz in eine DVD reinkucken. Furlen. Und dann ist da immer der Moment, fast nicht zu benennen, an dem ich wie in Trance Word anklicke (so beiläufig, wie man auf irgendeinen Link klickt, der sich gerade vor dem Mauszeiger ergeben hat) und plötzlich losschreibe. Und dann sprudelt es und ich bin zufrieden und ich denke mir: Das nächste Mal könntest Du das auch schneller haben. Und nehme mir vor: Das nächste Mal nutze ich den Tag und die Zeit. Natürlich wird dies nicht geschehen. Ich bin ein Stress-Mensch. Einer, der das Pochen der Deadline braucht.
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Der Wahnsinn, wie er einem zwar stets, dieser Tage aber, warum auch immer, ganz besonders in den S-Bahnen penetrant zu begegnen pflegt, ist nur mit Max Goldt in den Händen zu ertragen.
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Den Himmel auf Erden entdeckt. Heute morgen. 4 Stunden lang Führung durch und Vorstellung der Archive des Filmmuseum Berlin und der Stiftung Deutsche Kinemathek. Unendlich viel gestaunt, entdeckt. Ein Traum. Wie unwirklich das Licht auf der Straße danach wirkte, diese ganze novemberalltägliche Realität, die ein Ort wie der Potsdamer Platz ausstrahlt, wenn man gerade über Stunden hinweg sich einem Wachtraum ergeben hat. (natürlich auch viel Schatten dort: Kürzungen, zu wenig Personal, keine Zeit, Berge von Materialien, die zu sichten und zu sortieren man schon, so einer (Name vergessen), vier Menschen auf Vollzeit bis ins Rentenalter beschäftigen könnte)
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Eisensteins kritische Griffith-Analyse und dann noch Eisenstein selbst in drei, maximal vier Minuten. Selten so gelacht.
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21. November 04 | Autor: thgroh | 0 Kommentare | Kommentieren
In Tagen wie diesen, wo die Deutschen wieder ganz besonders bei sich sind und ihre so übliche, wie langweilige Griesgrämigkeit bezüglich ihrer Identität (die ihnen ja - wie man von ihnen weiß - tagtäglich aufs neue wie das Zipfelchen des kleinen Jungen von finsteren Gesellen weggeschnitten, abgezupft und hinfortgetragen werden könnte) mit besonderer Emphase in Aggression ummünzen, in diesen Tagen, wo sie wieder ganz besonders ihre Identität einfordern und dabei weder auf Sinn und Verstand noch auf die Vorgaben der Realität Rücksicht nehmen, wenn sie in bizarr anmutenden Szenarien aus dem Reich des Phantastischen - so wurde im Hessischen zwar ein Gebetshaus muslimischer Provenienz angezündet, doch schuld daran, so scheint es Konsens, sind nun - was angewandter Verstand als Einsicht gebieten würde - nicht etwa die zündelwilligen Vollstrecker, sondern ganz im Gegenteil: die Moslems selbst, die nun, erweitern wir den Kreis doch mal grundsätzlich um alles irgend Orientalische in deutschen Landen, sei es nun gläubig oder nicht, sich von allen Seiten, vor allem aber von den üblichen Besorgnisträgerseiten, die nun endlich, ja endlich auch mal gegen Kanaken wettern können, ohne vor sich als Unmensch dazustehen, als Kritik getarnte ausgespieene Kotze im Gesicht gefallen lassen müssen, weil zuvor, noch nicht einmal in diesem, nein, in einem anderen Land, ein besonders durchgeknallter Spinner einen Filmemacher (dessen Kritik im übrigen teilenswert ist!) niedergeschossen hatte - in einem Endlos-Loop vor sich hindelirieren, in diesen Tagen also ist es kraftspendender Trost, bei Wiglaf Droste nachzuschlagen und zu blättern, alleine schon, um sich rückzuversichern, dass nicht jeder, der sich mittels des Deutschen ausdrückt, im Hirnkasten in Absenz anderer dort üblicherweise anzutreffender Reliquien einem Haufen Exkrement in Permanenz Asyl gewährt. So steht also bei Droste, wahllos herausgepickt, 1997 geschrieben:
Die Deutschen auf ihrem Marsch in die geistige Umnachtung zu begleiten und zu beobachten, war einmal die Aufgabe ihrer Kritiker. Diese Aufgabe ist abgeschlossen: Die Deutschen aller Fraktionen sind an ihrem Ziel angekommen.
Diese Worte seien an dieser Stelle mit Nachdruck wiederholt.
Die Deutschen auf ihrem Marsch in die geistige Umnachtung zu begleiten und zu beobachten, war einmal die Aufgabe ihrer Kritiker. Diese Aufgabe ist abgeschlossen: Die Deutschen aller Fraktionen sind an ihrem Ziel angekommen.
Diese Worte seien an dieser Stelle mit Nachdruck wiederholt.
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14. November 04 | Autor: thgroh | 0 Kommentare | Kommentieren
Die beim Hören ihres Livealbums unweigerlich entstehende, überwältigend große Lust, diese Band endlich, ja endlich mal wieder live erleben zu können. Viel zu lange ist es hier.
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Über allem liegt das kalte, diesige Grau eines trockenen Novembersonntags. Volkstrauertag ist heute; das wüsste ich selbst nicht, das Radio hat es mir am Morgen beim Kaffee gesagt. Aber das interessierte mich nicht, also habe ich es vergessen. Deshalb stehe ich jetzt hier, am Boxhagener Platz, erwartet hatte ich das emsige Flohmarkttreiben, das hier allsonntäglich zu beobachten, zu erleiden, zu genießen ist, aber nichts dergleichen: Der Platz ist so karg wie der ganze Tag. Volkstrauertag, vermutlich deshalb, denke ich kurz, als ich mich wieder an die entsprechende Information aus dem Radio erinnere. Kein Flohmarkt, kein Treiben, keine schmuddeligen Bücherkisten mit kleinen und auch größeren Schätzen. En contraire, der Platz stellt seine weiß-grauen Flächen aus, wie sonst nie, das Grün in seiner Mitte: abgeriegelt, eine große Tafel klärt das Bauvorhaben auf, irgendein Bauarbeitermonstermobil steht herrenlos herum.
Doch egal, es ist noch vor Mittagszeit, ich bin schon eine ganze Weile wach und überdies kein Kind von Traurigkeit. Ich genieße es, im fast menschenleer gefegten Kiez für einen Moment so dazustehen, nicht zu wissen, was mit dem angebrochenen, nunmehr sinnlos erscheinenden Gang aus dem Hause anzufangen ist, und entschließe mich kurzerhand zu einem Spaziergang durch den Kiez und seine karge Novembersonntagmorgenwelt, sinnfreie, müßige Beobachtungen anzustellen. "Dieser Tag gehört nur Dir allein", hauchen, später: schreien, Dawnbreed in einem wunderbaren Song, der mich seit meiner Jugend Blüte an Morgen wie diesen (manchmal auch: an Morgen nach Nächten wie jenen) stets im Geiste begleitet.
Friedrichshain lässt sich, in dieser Ecke, als große Galerie begreifen. Überall gibt es was zu sehen. Nicht im Sinne des Ausdrucks natürlich, denn sensationslüstern geht es hier nur selten zu. Es gibt was zu sehen für jene, die Freude am Sehen haben, die nicht vom Anblick erschlagen werden, sondern einen solchen, der sich lohnt, ausfindig machen wollen. Ich beginne umherzustreifen und erstmals wieder seit langer Zeit (im Sommer war ich oft hier nachts unterwegs, aus gleichem Grund) erbllicke ich, befreit von der Zweckhaftigkeit meines Weges, das Viertel (oder besser: diese Ecke desselben) mit, in der Tat, wachen Augen. An den Wänden erblühen Generationen von Werken der Straßenkunst, die sich zunehmend komplexer gestalten (dies erschließt sich freilich nur dem, der das oft Aufregende, was hier an verfallenen Fassaden wuchert, über längere Zeit mitverfolgt). An manchen Gemäuern ist die Farbe kaum mehr auszumachen, dafür befinden sich darauf Dutzende, Aberdutzende kleiner Xerox-Art-Artefakte, die sich ergänzen, kommentieren, Strukturen in das Zettelchaos bringen, die doch nur die Strukturlosigkeit zum Thema haben. Oft und gerne bleibe ich stehen, fasziniert von dem Einfallsreichtum, mit dem sich Künstler jenseits von Kulturbetrieb, Museumsmuff und Fördergremien mit dem wenigen, was hier - jüngster Wahlbezirk Deutschland, überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit, Copyshops mit lachhaft kleinen Preisen - greifbar ist, aufschwingen, um Kreatives zu leisten, dem die eigene Vergänglichkeit, der eigene Ursprung aus Abfall der Populär-, Reklame-, was-weiß-ich-Kultur in jeder Nuance eingeschrieben ist.
Ich entdecke einen Hinweiszettel, auf dem der neue, sehr sympathische Buchladen Lit.List in der Mainzer Straße von einem öffentlichen und wöchentlichen Treffen in seinen Räumlichkeiten jeden Donnerstag Abend um 20 Uhr erzählt und alle Schreibenden, die das Zeug zum Vorlesen haben, herzlich einlädt (Buhrufer sollen, so der Zettel weiter, indes zu hause bleiben). Ich mag das, dass dieser Zettel überall hängt, die Möglichkeit dort donnerstags einfach hinzugehen, nur zwei Ecken weg von meiner Wohnung, das Gefühl, dass das genau hier ist, genau jetzt, ohne diesen ganzen Hippness-Scheiß, der sonst an here and now zu hängen pflegt. Ob ich hingehe, weiß ich nicht. Aber es ist schön, davon zu wissen, dass Menschen voller Leidenschaft andere, in dieser Hinsicht Gleichgesinnte suchen. Mit einem Zettel an einem Baum, an einer Wand, an Abfalleimern, die so zum zentralen Ort des öffentlichen Austauschs werden.
Und dann der ganze Abbruchcharme dieser Ecke. Kaputte, rusige Fassaden, abgeplatzter Putz, schäbige Antiquariate, die noch versuchen dem, was andere achtlos wegwarfen, einen schnellen Euro zum Leben abzuringen. Ich erinnere mich, wie ich selbst vor langer Zeit hierherzog, aus dem sauberen Franken/Westdeutschland, wie ich damals, 19jährig, geradewegs abgeschreckt war von diesen Insignien des Verfalls (die in den letzten Jahren weniger wurden, leider), wie ich mich lange Zeit weigerte, daran Gefallen zu finden, obwohl ich weiß Gott kein Spießerjunge war, und wie ich mich irgendwann dabei ertappte, das alles, dieses Spezifische dieser Gegend, bereits seit langer Zeit mit der Selbstverständlichkeit des heimisch Gewordenen zu lieben, ohne mir dabei des Bruchs dieser Ansicht bewusst gewesen zu sein. Heute, an diesem frösteligen Tag, um diese Zeit, liebe ich das Ambiente wieder ganz besonders. Ein kleiner Rumpelladen an der Ecke hat ein Akkordeon im Schaufenster hängen, das ich kurz näher beobachte, daneben wieder abgefledderte Straßenkunst. Diese Kreuzung hier mag ich, den "Feuermelder", eine abgeranzte, unheimlich charmante Kneipe, in der es gerne mal laut wird, im Rücken, ganz besonders.
Ich manövriere mich von Zeichen zu Zeichen, mäandere durch die Vertrautheit dieses Soziotops, denke kurz an die Situationisten, die das ziellose Umherschweifen als politischen Akt zelebrierten und frage mich kurz, ob das überhaupt die Situationisten waren. Egal. Eine andere Wand zeigt sich neu bemalt, die Hauseigentümer waren der wilden Zuständ' darauf wohl überdrüssig. Eigentlich beklagenswert, könnte man meinen, doch ich weiß es besser, denn nichts in dieser Ecke ist von Bestand und in spätestens drei Monaten wird die Wand wieder in alter Pracht erblühen, voller Schmierereien mit orthografisch zweifelhaftem Inhalt, ambitioniert-wilder Straßenkunst und Plakaten, die auf wundersame Ereignisse der nächsten Zeit in den lokalen Kleinclubs und dergleichen hinweisen. Bis dann wieder zuviel Farbe übrig ist und ein neuer Anstrich gewagt wird. Das Spiel vom Hasen und dem Igel.
Ich sehe mich satt an allen Ecken, gehe zufrieden nach Hause, fröstele etwas, da ich über meinem T-Shirt nur eine Kapuzenpullover trage. Ich denke mir, dass das zu diesem Tag passt, schüttele mich und weiß einmal mehr: Ich liebe diesen Flecken Erde von ganzem Herzen.
Doch egal, es ist noch vor Mittagszeit, ich bin schon eine ganze Weile wach und überdies kein Kind von Traurigkeit. Ich genieße es, im fast menschenleer gefegten Kiez für einen Moment so dazustehen, nicht zu wissen, was mit dem angebrochenen, nunmehr sinnlos erscheinenden Gang aus dem Hause anzufangen ist, und entschließe mich kurzerhand zu einem Spaziergang durch den Kiez und seine karge Novembersonntagmorgenwelt, sinnfreie, müßige Beobachtungen anzustellen. "Dieser Tag gehört nur Dir allein", hauchen, später: schreien, Dawnbreed in einem wunderbaren Song, der mich seit meiner Jugend Blüte an Morgen wie diesen (manchmal auch: an Morgen nach Nächten wie jenen) stets im Geiste begleitet.
Friedrichshain lässt sich, in dieser Ecke, als große Galerie begreifen. Überall gibt es was zu sehen. Nicht im Sinne des Ausdrucks natürlich, denn sensationslüstern geht es hier nur selten zu. Es gibt was zu sehen für jene, die Freude am Sehen haben, die nicht vom Anblick erschlagen werden, sondern einen solchen, der sich lohnt, ausfindig machen wollen. Ich beginne umherzustreifen und erstmals wieder seit langer Zeit (im Sommer war ich oft hier nachts unterwegs, aus gleichem Grund) erbllicke ich, befreit von der Zweckhaftigkeit meines Weges, das Viertel (oder besser: diese Ecke desselben) mit, in der Tat, wachen Augen. An den Wänden erblühen Generationen von Werken der Straßenkunst, die sich zunehmend komplexer gestalten (dies erschließt sich freilich nur dem, der das oft Aufregende, was hier an verfallenen Fassaden wuchert, über längere Zeit mitverfolgt). An manchen Gemäuern ist die Farbe kaum mehr auszumachen, dafür befinden sich darauf Dutzende, Aberdutzende kleiner Xerox-Art-Artefakte, die sich ergänzen, kommentieren, Strukturen in das Zettelchaos bringen, die doch nur die Strukturlosigkeit zum Thema haben. Oft und gerne bleibe ich stehen, fasziniert von dem Einfallsreichtum, mit dem sich Künstler jenseits von Kulturbetrieb, Museumsmuff und Fördergremien mit dem wenigen, was hier - jüngster Wahlbezirk Deutschland, überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit, Copyshops mit lachhaft kleinen Preisen - greifbar ist, aufschwingen, um Kreatives zu leisten, dem die eigene Vergänglichkeit, der eigene Ursprung aus Abfall der Populär-, Reklame-, was-weiß-ich-Kultur in jeder Nuance eingeschrieben ist.
Ich entdecke einen Hinweiszettel, auf dem der neue, sehr sympathische Buchladen Lit.List in der Mainzer Straße von einem öffentlichen und wöchentlichen Treffen in seinen Räumlichkeiten jeden Donnerstag Abend um 20 Uhr erzählt und alle Schreibenden, die das Zeug zum Vorlesen haben, herzlich einlädt (Buhrufer sollen, so der Zettel weiter, indes zu hause bleiben). Ich mag das, dass dieser Zettel überall hängt, die Möglichkeit dort donnerstags einfach hinzugehen, nur zwei Ecken weg von meiner Wohnung, das Gefühl, dass das genau hier ist, genau jetzt, ohne diesen ganzen Hippness-Scheiß, der sonst an here and now zu hängen pflegt. Ob ich hingehe, weiß ich nicht. Aber es ist schön, davon zu wissen, dass Menschen voller Leidenschaft andere, in dieser Hinsicht Gleichgesinnte suchen. Mit einem Zettel an einem Baum, an einer Wand, an Abfalleimern, die so zum zentralen Ort des öffentlichen Austauschs werden.
Und dann der ganze Abbruchcharme dieser Ecke. Kaputte, rusige Fassaden, abgeplatzter Putz, schäbige Antiquariate, die noch versuchen dem, was andere achtlos wegwarfen, einen schnellen Euro zum Leben abzuringen. Ich erinnere mich, wie ich selbst vor langer Zeit hierherzog, aus dem sauberen Franken/Westdeutschland, wie ich damals, 19jährig, geradewegs abgeschreckt war von diesen Insignien des Verfalls (die in den letzten Jahren weniger wurden, leider), wie ich mich lange Zeit weigerte, daran Gefallen zu finden, obwohl ich weiß Gott kein Spießerjunge war, und wie ich mich irgendwann dabei ertappte, das alles, dieses Spezifische dieser Gegend, bereits seit langer Zeit mit der Selbstverständlichkeit des heimisch Gewordenen zu lieben, ohne mir dabei des Bruchs dieser Ansicht bewusst gewesen zu sein. Heute, an diesem frösteligen Tag, um diese Zeit, liebe ich das Ambiente wieder ganz besonders. Ein kleiner Rumpelladen an der Ecke hat ein Akkordeon im Schaufenster hängen, das ich kurz näher beobachte, daneben wieder abgefledderte Straßenkunst. Diese Kreuzung hier mag ich, den "Feuermelder", eine abgeranzte, unheimlich charmante Kneipe, in der es gerne mal laut wird, im Rücken, ganz besonders.
Ich manövriere mich von Zeichen zu Zeichen, mäandere durch die Vertrautheit dieses Soziotops, denke kurz an die Situationisten, die das ziellose Umherschweifen als politischen Akt zelebrierten und frage mich kurz, ob das überhaupt die Situationisten waren. Egal. Eine andere Wand zeigt sich neu bemalt, die Hauseigentümer waren der wilden Zuständ' darauf wohl überdrüssig. Eigentlich beklagenswert, könnte man meinen, doch ich weiß es besser, denn nichts in dieser Ecke ist von Bestand und in spätestens drei Monaten wird die Wand wieder in alter Pracht erblühen, voller Schmierereien mit orthografisch zweifelhaftem Inhalt, ambitioniert-wilder Straßenkunst und Plakaten, die auf wundersame Ereignisse der nächsten Zeit in den lokalen Kleinclubs und dergleichen hinweisen. Bis dann wieder zuviel Farbe übrig ist und ein neuer Anstrich gewagt wird. Das Spiel vom Hasen und dem Igel.
Ich sehe mich satt an allen Ecken, gehe zufrieden nach Hause, fröstele etwas, da ich über meinem T-Shirt nur eine Kapuzenpullover trage. Ich denke mir, dass das zu diesem Tag passt, schüttele mich und weiß einmal mehr: Ich liebe diesen Flecken Erde von ganzem Herzen.
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