Mittwoch, 5. November 2014
(zuerst erschienen in der taz)

Lichtpunkte ziehen durch die Schwärze der Nacht, durch die Schwärze des Filmbilds. Was sich als Beleuchtung eines Verkehrstunnels entpuppt, lässt sich einen Moment lang auch als Visualisierung einer codierten Nachricht deuten, die, für Menschen zunächst nicht entzifferbar, für Maschinen umso lesbarer, durchs Netz zieht.

Was sie verrät und vorenthält bleibt ohne Schlüssel unklar. Verschlüsselt waren auch die brisanten Nachrichten zwischen einem gewissen "Citizenfour", Deckname des Whistleblowers Edward Snowden, und der Dokumentarfilmemacherin Laura Poitras. Die zunächst zaghafte Korrespondenz führte zur Aufdeckung der NSA-Aktivitäten.

Auszüge daraus sind nun im Klartext und ebenfalls weiß auf schwarz in Poitras' Dokumentarfilm "Citizenfour" zu sehen. Immer wieder verdeutlicht sich dabei, dass in einer Welt, in der Kommunikation weitgehend über Kanäle läuft, die nicht ohne Weiteres als unkorrumpiert gelten können, die Art und Weise von Kommunikation entscheidend ist: Die brisantesten Informationen werden am Ende des Films an Maschinen, also auch an Poitras' Kamera und Mikrofone vorbei von Angesicht zu Angesicht per Kugelschreiber und Papier ausgetauscht und im Nu aus der Welt geschafft: Schlusspunkt einer begründeten Paranoisierung im Zeitalter von NSA und GCHQ.



"Citizenfour" rekonstruiert die Ereignisse im Juni 2013. Eine historische Zäsur, die vielleicht die Welt nicht änderte, doch ein für allemal unsere Perspektive darauf: Mit täglich neuen Details deckt der US-Journalist Glenn Greenwald in der britischen Tageszeitung Guardian erstmals das Ausmaß der NSA-Schnüffeleien auf.

Die Weltöffentlichkeit steht Kopf, die US-Regierung übt sich in Schadensbegrenzung. Hysterie und Beschwichtigung, Angriff und Gegenangriff: Die Stunde null der Offenlegung unserer de facto protokollierten Welt. Mit jedem neuen Detail über das Ausmaß der faktischen Totalüberwachung unserer Kommunikation wird eine bis dahin lediglich schwelende Ahnung mehr und mehr zur Gewissheit: Im Stillen und aus einer Ideologie reiner Machbarkeit heraus hat sich mit den Big-Data-Silos der NSA die ultimative Waffe gegen jede Form von insbesondere für eine Demokratie notwendigem Widerstand gebildet.

Ein Staat im Staat, verschanzt hinter einem aggressiven Abwehrmechanismus, der sich nicht nur gegen die eigenen Bürger richtet und auf Langzeiteffizienz zielt: Was heute als unerhebliche Information gilt, führt spätestens unter Bedingungen eines drakonisch-autoritären Systems zu Begehrlichkeiten mit weitreichenden Folgen.

Mit dem NSA-Zuarbeiter Edward Snowden erhält die Affäre wenig später ihr ikonisches Gesicht: Ruhig und souverän stellt er sich und sein Anliegen der Weltöffentlichkeit in einem Videointerview aus der Anonymität eines Hotelzimmers heraus vor. Die Aufnahmen stammen von Poitras, neben Greenwald Snowdens engster Vertrauten.



Mit großen Mengen weiteren Videomaterials aus jenen Tagen dokumentiert "Citizenfour" die ersten Begegnungen zwischen Snowden, Poitras und Greenwald in der Beengtheit eines Hongkonger Hotelzimmers kurz vor dem großen Coup. Die weltverlorene Abgeschiedenheit dieses anonymen Raums bildet einen beeindruckenden Kontrast zum globalen Medienwirbel, der diesen Sitzungen im kleinen Kreis folgt: Die Basisarbeit des größten journalistischen Coups aller Zeiten wird mit rudimentärem Equipment zwischen Hotelbett und Stuhl geleistet.

Trotz allen aktivistischen Ambitionen: Süffiger Polit-Boulevard à la Michael Moore ist das nicht. Poitras arbeitet kühler, mit fast meditativer Präzision. Wer die Snowden-Reportagen aus dem Rolling Stone oder Wired kennt, erfährt zwar kaum Neues. Doch besticht "Citizenfour" als historisches Dokument und Konkretisierung des unmittelbaren, noch unsortierten Ausgangspunkts des heutigen Stands der Dinge.

Was sich in den Reportagen spannend wie ein Agententhriller liest, erfährt in Poitras' Videomaterial eine situative Rückbindung: Snowden ist nervös, die paranoide Atmosphäre steht sirupdick im Raum. Überraschende Feueralarm-Proben im Hotel machen jede Fassung zunichte, beim Hantieren mit seinem Rechner wirft Snowden sich eine Decke über den Kopf, nicht zuletzt tadelt er Greenwald für seine laxe Passwort-Politik.

Auch von heute aus betrachtet entwickelt dieser Rückblick auf den finalen Augenblick der Pre-Leak-Ära einen beträchtlichen Sog. Am Ende bestätigt sich - wenn dem Film zu glauben ist - ein die NSA-Debatte seit längerem begleitendes Gerücht: So gibt es wohl noch einen Whistleblower, über dessen Position und Tragweite seines Handelns selbst Snowden stutzt. Mit weiteren Details hält sich Laura Poitras Film bedeckt. "Citizenfour" bleibt damit Passage und Episode: Der größte Paranoia-Thriller unserer Tage ist noch nicht zu Ende erzählt.


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Mittwoch, 29. Oktober 2014
(zuerst erschienen im Freitag)

Ein namenloser Fremder kommt in die Stadt, gerät zwischen die Fronten und klärt die Sache nach einigem Taktieren schließlich buchstäblich mit aller Gewalt – eine Standardgeschichte beileibe nicht nur des italienischen Westerns. In diesem Exemplar, Töte, Django aus dem Jahr 1966, von Giulio Questi aber aufs Interessanteste umgestülpt, verdreht und subvertiert. Während Sergio Leone im Begründungsfilm des Subgenres Für eine Handvoll Dollar (1964) noch bei der Samurai-Darstellung von Akira Kurosawa und deren Pathos plünderte, beschreitet Questi archaischere und ekstatischere Pfade. Seine Parabel auf die Habgier des Menschen als dessen Untergang ist angereichert mit Motiven aus Mythos, Religion und Kunstgeschichte und landet in den Gefilden des surreal angehauchten Gothic-Westerns, der weniger die weite Landschaft als vielmehr das Close-up aufs Gesicht in Cinemascope sucht.

So ist der namenlose Fremde – ein mexikanischer Kleingangster, eine von Tomás Milián häufig verkörperte, klassische Figur im Italowestern – denn auch kein Samurai mit Colt, sondern ein von den Toten wiederauferstandener Racheengel, von dem unklar bleibt, ob er nie gestorben, ein Wiedergänger oder ein Gefangener des Fegefeuers ist. Zwei indigene Einwohner stehen ihm zur Seite, befragen ihn unentwegt nach dem Jenseits und gießen ihm Kugeln aus jenem Gold, für das er ursprünglich umgelegt worden war. In einer nahen Stadt findet er sich in einem Morast aus menschlicher Verkommenheit wieder, mit dem interessanten Detail, dass es gerade nicht die Outlaws sind, die dem Übel Vorschub leisten. Liegt ein von goldenen Kugeln durchsiebter Körper auf dem Tisch des Doktors, hat es sich alsbald mit hippokratischen Tugenden, wenn der Wert der Projektile erst einmal offen zutage liegt: Schon bohren sich gierige Finger auf der Suche nach Gold in die Wunden des aufschreienden Versehrten.

Eine Ode an die Gewalt und die Niedertracht oder auch: Film als Exorzismus. Zwei Jahre lang kämpfte Questi im Zweiten Weltkrieg mit den Partisanen gegen die Faschisten. Die seelischen Wunden aus diesen Erfahrungen treibt er sich mit diesem fahrig-wuchtigen Film, seinem Debüt, gewissermaßen selbst aus, gerade so, als jagte er die eigenen Bilder im Kopf wie ein Maschinengewehr auf die Leinwand.



Die zynisch-brutale Ästhetik des Italowesterns und dessen latente Gesellschaftskritik potenziert Questi in Töte, Django zu einem wütenden, formell immer wieder aufs Schönste entgleisenden Manifest, das mit den opernhaften Schwelgereien eines Sergio Leone nichts mehr zu tun hat. Im Gegenteil, Questi ist weder ein Genreliebhaber noch einer von Italiens berüchtigten Nonkonformisten. Vielmehr ist er mit gerade mal drei Langspielfilmen zeitlebens ein Grantler in den Nischen der Filmgeschichte geblieben, der vom Genre nur insoweit etwas hält, wie er es als Behältnis für seine stramm linke Wut nutzen und es dabei vielleicht noch demolieren kann. Der folgende Film Arcana ist denn auch eine bizarr funkelnde Horrorfantasie an der Grenze zur Avantgarde, die muffigem Grusel das Fürchten lehrt.

Töte, Django reiht sich glänzend ein in die Riege der Italowestern abseits des vielbesungenen Kanons von Sergio Leone und Sergio Corbucci, wo man die wirklich interessanten Werke findet, dunkel-glänzende, manisch-ekstatische Produktionen wie Cesare Canevaris irrsinniger Prog-Rock-Western ¡Mátalo! (1970) etwa oder Enzo G. Castellaris Keoma (1976).

Nicht zuletzt ist Töte, Django ein grandioses Beispiel für den beeindruckenden Spagat, den das italienische Genrekino der 60er und 70er Jahre immer wieder zu leisten vermochte. Nach vorn populär und industriell, hinten heraus aber stets schon mitten in der politischen Intervention – wenn auch mit dem Holzhammer nicht subtil in der Analyse. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Umbrüche der damaligen Zeit schießt in Filmen wie diesem trotz Historienkulisse viel Zeitgeist ins Bild. Gerade dem heute oft abgesicherten Kino wäre eine Rückkehr dieser wütenden Drastik zu wünschen.



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» film archivist's pov, ein tumblr.



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Freitag, 24. Oktober 2014
Thema: videodrome


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Donnerstag, 23. Oktober 2014
(zuerst erschienen in der taz)

Ein Pfarrer sucht seinen Mörder: Eine Woche Zeit hat der Gottesmann James Lavelle (Brendan Gleeson), um entweder das Weite zu suchen oder unter der überschaubaren Zahl der Gemeindemitglieder dieser kleinen irischen Küstenstadt denjenigen ausfindig zu machen, der ihm im Beichtstuhl angekündigt hat, ihn am kommenden Sonntag am Strand zu richten. Für ein Verbrechen, wohlgemerkt, das er selbst nicht begangen hat: Der Mörder in spe trachtet nach Rache an der katholischen Kirche dafür, dass er als Junge von einem inzwischen verstorbenen Seelsorger jahrelang misshandelt und vergewaltigt wurde. Und wie sich besser an der Kirche rächen, als ausgerechnet einen der guten und barmherzigen Priester aus ihren Reihen zu streichen?

Kein Whodunit, sondern ein Wholldoit also: In bewährter Krimimanier streift der brummige, raumgreifende Pfarrer durch seine Gemeinde, spricht mit Leuten, sucht Rat bei den Kirchenoberen, präsentiert und verwirft Verdächtige.

Der gemütliche Agatha-Christie-Effekt wird durch sanft schwarzen Humor abgefedert. Und durch die Tatsache, dass diese Gemeinde bei aller Beschaulichkeit eine Anhäufung mehr oder weniger verkommener Subjekte oder im Leben Gestrandeter darstellt: Da ist der Sexprotz genauso wie der an der Sinnlosigkeit des Lebens scheiternde Millionär-Snob, der auf teure Gemälde pinkelt, ganz einfach, weil er es sich leisten kann. Und Lavelles Tochter, gezeugt, bevor er zum Priester geweiht wurde, kommt nach einem Selbstmordversuch auch zu Besuch.



Anders als in "The Guard", John Michael McDonaghs beliebter Komödie von vor wenigen Jahren, herrscht in "Am Sonntag bist du tot" trotz des Flirts mit dem schwarzen Humor ein elegisch-reduzierter, weihevoll-lakonischer Ton vor, der in Verbindung mit den - offenbar im Hinblick auf die Interessen der irischen Tourismusbranche erstellten - prächtigen Landschaftsaufnahmen eine etwas arg kunstwollende Küstensprödheit ergibt.

Auch die oft lakonische, mit vielsagenden Weglassungen hantierende Montage kann kaum darüber hinwegtäuschen, dass dieser vor allem mit Dialog arbeitende Film mit seiner im Wesentlichen funktionalen Ästhetik über weite Strecken lediglich ein Hörbuch darstellt.

Auch für die zentralen christlichen Aspekte des Films - das Für und Wider der Vergebung, die Frage nach der Selbstverteidigung - findet McDonagh in ihrer Symbolik vor allem bloß naheliegende Bilder. Bevor es am Ende zum Strand geht, schlüpft Lavelle, zwischenzeitig nur in Alltagskleidung zu sehen, andeutungsreich in seine Robe zurück und geht vor dem Kreuz zu weihevoller Musik in die Knie.

McDonagh reiht sich auf wenig originelle, wenig interessante Weise in die vorherrschende Tradition des christlichen Bilderdiskurses in der Filmgeschichte ein. Ebenso wenig hat er etwas Substanzielles über die zahlreichen Missbrauchsaffären der katholischen Kirche in den letzten Jahren zu sagen.


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Dienstag, 21. Oktober 2014
(zuerst erschienen beim Perlentaucher)

Kaum ermessbares Leid ist den Frauen während des Genozids an den Armeniern widerfahren: Vergewaltigt, aus ihren Familien gezerrt, vielleicht in letzter Sekunde ins Ausland, ansonsten ausgezehrt in Lagern gelandet, wo sie hungernd ihrem eigenen Tod entgegensehen. Das zumindest erfährt man in Fatih Akins "The Cut", in dem der deutsch-türkische Regisseur als Abschluss seiner "Liebe, Tod und Teufel"-Trilogie vom Völkermord der Türken an den Armeniern erzählen will. Ein Film über die Frauenschicksale ist "The Cut" allerdings nicht geworden, ganz im Gegenteil unterhält er dazu ein reichlich instrumentales Verhältnis: Wenn Frauen leiden, dann dient dies zur Illustration des Leids, das Männer durchzustehen hatten - oder genauer gesagt, ein Mann, nämlich der per Schnitt durch die Kehle zum Verstummen gebrachte Nazaret (Tahar Rahim). Werden Frauen am Wegesrand vergewaltigt, senkt er den Blick in Gram - auch, weil er Frau und Töchter verloren hat -, wenn er seine abgemagerte Frau unter tausenden von Gefangen findet, die siech von ihm den Gnadentod verlangt, dann steht sein Seelenleid bei der Entscheidungsfindung und der Tat im Vordergrund. Und wenn seine Töchter in der Diaspora der USA landen - unzweifelhaft eine interessante Geschichte - , erzählt Fatih Akin die - ebenso unzweifelhaft deutlich uninteressantere - Geschichte, wie Nazaret ihnen nachreist.



Diese Perspektivierung des historischen Genozids ist symptomatisch für einen Film voller falscher Entscheidungen, einen Film, der stets den naheliegendsten, vorgeformtesten, aber eben auch uninteressantesten Weg wählt. Ist die Information, dass unter Völkermordbedingungen Familien auseinander gerissen werden und darunter gelitten haben, erhellend oder gar neu? Ist die Geschichte dieses Mannes, der sicher auch sein Leid zu tragen hat, sich aber doch relativ ereignisarm von Episode zu Episode seiner Suche hangelt, tatsächlich so interessant, wie der Film tut? Und was hat sie über diesen Völkermord zu sagen, der zu einer Sache bloßer Gemeinheit verkommt?

Der ausgestellte Professionalismus des Films tut sein übriges: Die Landschaften sind herrlich und breit, das Setdesign überzeugend, viel Mühe wurde darauf verwendet, das Elend per Make-Up gut in Szene zu setzen; ein Bewerbungsschreiben Richtung Hollywood, ein Versuch, ganz großes Kino - vom Bibelfilm über den Western bis hin zu den Epen David Leans - auf die Leinwand zu zaubern, was sich mit fortlaufender Spielzeit unangenehm als eigentliche Message über das wohl auch deshalb sonderbar vernachlässigte Sujet legt: "Schaut mal her, was wir können."



Was Akin leider nicht kann, ist ein Verhältnis zum historischen Gegenstand zu finden. Elend und Gewalt sind eine Sache des filmischen Affekts: Bazoooong, jaulen die runtergestimmten Gitarren auf, wenn es besonders zur Sache geht - boh, krass, soll man da denken. Erzählt wird das in einem Modus beständiger wechselseitiger Illustration und Versicherung, gerade so, als vertraue Akin seinem Publikum nicht und seinen Bildern noch viel weniger: Fliegende Vögel markieren Sehnsucht, natürlich heißt die Hauptfigur wenig subtil Nazaret (und sieht auch aus wie einem Bibelfilm entsprungen) und ein Telegramm mit schicksalshaften Informationen, das lange genug ins Bild gehalten wurde, um gelesen zu werden, muss im Anschluss nochmal rezitiert und das daraus folgende Vorgehen schwerfällig ausgeplaudert werden. So ungelenk, bieder und langweilig wird in einer Tour erzählt. Der Film befindet sich im ständigen Zirkelschluss: Krasser Völkermord ist krass, entbehrungsreiche Flucht ist entbehrungsreich, trauriger Mann ist traurig, schlimme Verlusterfahrung ist schlimm, sehnsüchtige Sehnsucht ist sehnsüchtig.

Dafür sampelt sich Akin quer durch die Bildwelten dessen, was als großes amerikanisches Kino gilt. Wenn Nazaret in den Staaten landet und vor jecken Rednecks durch den Dschungel flieht, fühlt sich das für einen Moment lang sogar nach Vietnamfilm an, sein Ende findet der Film vor südstaatendrama-artiger Kulisse. Man wird den Verdacht nicht los, dass die Story genau deshalb so sehr von der Ästhetik überformt wird, weil Akin eigentlich auch mal einen Western drehen wollte. Warum hat er es dann nicht einfach gemacht?


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Montag, 20. Oktober 2014
Thema: theater
Am vergangenen Freitag war ich bei der Premiere von Wenzel Storchs erstem Theaterstück "Komm in meinen Wigwam". Die taz hat heute meinen Artikel dazu veröffentlicht.



Der Klerus hat's ihm angetan: Seit seinem Super-8-Monumentalfilm "Der Glanz dieser Tage" (1989) leistet der Exministrant, Filmregisseur und Konkret-Autor Wenzel Storch in seinen Filmen, Texten, Zeichnungen und Hörspielen Bergungsarbeit im Neurosen-Fundus beschädigter Adoleszenzen aus dem spezifisch westdeutschen Nachkriegs-Messdienermilieu. Fundus ist dabei wörtlich zu verstehen: Mit größter Spielfreude schöpfen Storchs collagenartige Arbeiten aus den Beständen ansonsten verloren gegangener Alltags-Ephemera.

Ganz gleich, ob es sich um Jugendsprache, Textilien und graue Literatur, obsolete Produktionstechniken oder um höchst beredt plaudernde Artefakte - vom Kirchenlied über Werbeprospekte und verklemmte Erotica bis zum wirren Schlager - handelt: Was Storch an irrsinnigem Alltagsschrott der 50er, 60er und 70er Jahre zusammenträgt, verdichtet er in seiner grandiosen, mit "Trash" nur unzureichend beschriebener Wahnwitzpoesie zu einer wundervollen Mentalitätsmaterialschlacke. Das sonderbare Zauberland, das die alte BRD zwischen Verkniffenheit und Freiheitsüberforderung insbesondere aus pubertierender Perspektive unter den Eindrücken von biederer Pädagogik, wohnstubenhafter Betulichkeit und ersten Hormonkollern gewesen ist, wird dabei bis zur Kenntlichkeit entstellt.



Und Storchs Erkundungen im Unterholz altbundesrepublikanischer Mentalitätsverwirrungen machen dabei noch einen Mordsspaß! So auch "Komm in meinen Wigwam", Storchs erste Bühnenarbeit, die am Freitag in Dortmund vor begeistertem Publikum Premiere hatte: Ein bunter Gemeindehaus-Revueabend, der tief hineinführt in den bizarren Kosmos katholischer Aufklärungs- und Anstandsliteratur der 50er, mit besonderem Augenmerk auf das Schaffen des 2013 gestorbenen Ehrenprälaten Berthold Lutz, vom Regisseur kurzerhand zum katholischen Oswald Kolle ernannt.



Beim aus Storchs Spielfilmen gewohnten Ausstattungsbarock gibt es zwar Abstriche - das Bühnenbild bestimmen eine gerahmte Leinwand und ein Lesepult -, doch dem Vergnügen tut dies keinen Abbruch. Ein verhuschter Erzähler (Ekkehard Freye) und der verspulte Lutz-Experte Baldrian (Thorsten Bihegue) entblättern eine von literarischen Ambitionen unbeleckte Jugendbelletristik, in der es von guten Ratschlägen, frommen Maßregelungen und Anreizen zur Ertüchtigung an die Adresse aufknospender Jugendlicher nur so wimmelt - und oft genug fast unverhohlen lüstern. Sündhafte Jungsgedanken werden da vom Kaplan (Heinrich Fischer) zur Gärungsphase des Menschen erklärt, während er Mädchen rät, auf ihr "heimliches Königreich" sittsam zu achten. Dazwischen gibt es Kasperletheater gegen schmutzige Gedanken, einen Chor sprießender Stengel und Kelche aus einer wundersam sexualisierten Pflanzenwelt und Nonnen, die eine abspritzende Eichel besingen. Mittendrin: ein Knabe (Leon Müller) und ein Mädchen (Jana Katharina Lawrence), stilecht in 50er-Montur, die brav lauschen und sich begriebeln lassen.



Dass Lutz' in Sichtweite zu Kaplanen in den Milieus jugendlicher Betätigung angesiedelte Romane sich gut genug verkauften, um geschäftstüchtige Nachahmer zu inspirieren, mag auch daran liegen, dass sich darin unter dem Deckmantel frommer Erbauung die seltene Möglichkeit bot, sich wenigstens ein bisschen rote Ohren beim Lesen zu holen. Ein Tauschhandel - Lusterprobung zum Preis mahnender Pädagogik und vorgeblicher Wissenschaftlichkeit -, der auch den deutschen Schulmädchenreport-Softsex der 70er prägte. Dass die katholische Sittsamkeitsliteratur diese Filme nährte, legt Storch nicht nur mit über die Bühne schwirrenden Filmplakaten nahe. Eine atemberaubende Dia-Performance mit christlichen Aufklärungsfibeln zu fetziger Beatmusik und Baldrians toll ungelenkem Ausdruckstanz macht die Diskurskontinuität
eindrücklich deutlich.



Bei allem Amüsement vergisst Storch nicht, dass im aufgehäuften Material, den blumigen Metaphern, den erotisch angehauchten Ministrantenfotos aus Kirchenzeitschriften und den Berichten vom glückseligen Ball- und Indianerspiel zwischen Kaplan und Knaben ein trauriger Kern steckt. Wenn der Kaplan den Jungen mehr als nur väterlich von der Bühne führt, beim Lagerfeuer die große Bärchenmasken tragenden Ministranten sich an den Priester schmiegen oder dieser über die Wunder der Gliedsteife referiert, dämmert es, dass im historischen Material auch ein Tätercode für Eingeweihte steckt. Storch spricht zwar nichts aus, wie auch die entsprechenden Werke keinen Klartext reden. Doch stellt die Methode Storch - Kenntlichmachung durch Überhöhung und Überaffirmation - unweigerlich die Frage: Was wurde den Jungs im Wigwam angetan?


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Donnerstag, 16. Oktober 2014
Thema: TV-Tipps
Am kommenden Samstag um 23 Uhr zeigt 3sat Sven von Redens Interviewfilm mit und über den österreichischen Avantgarde-Filmemacher Peter Tscherkassky. Eine Mediathekenauswertung ist nicht vorgesehen! Weiterführendes Material: Ein Gespräch, ein Essay, noch ein Essay.
Durch die Oscar- und Cannes-Erfolge der letzten Jahre gilt Österreich als eine Art Wunderland des europäischen Kinos. Weniger bekannt ist, dass im Bereich des Avantgarde-Films die Alpenrepublik schon seit den 1960er Jahren eine besondere Stellung innehat. Dafür stehen Namen wie Peter Kubelka, Kurt Kren, Valie Export und seit den 1980er Jahren auch Peter Tscherkassky. Die Werke des 56-Jährigen wurden dutzendfach auf internationalen Festivals ausgezeichnet. Für seinen bislang letzten Film "Coming Attractions" bekam er den Kurzfilmpreis der Filmfestspiele von Venedig verliehen.


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Thema: festivals
Kommende Woche beginnt in Berlin das 9. Pornfilmfestival. In der taz erschien dazu heute ein Artikel von mir.



Eines der hartnäckigsten Gerüchte über Pornografie - neben jenem, dass Pornos per se stumpfsinnig und frauenfeindlich, gar Ursache und Ausdruck einer verkorksten Sexualität seien - lautet, dass Alternativen dazu dann ja wohl verschüchtert-verzärtelte Abstraktionen von Körperlichkeit darstellen. Dass beides im Großen und Ganzen Unfug ist, dass Pornografie als neugierige Feier der Vielfalt des Begehrens und der körperlichen Ekstase herrlich uneindeutig und dennoch sehr konkret, wunderbar schmutzig und dennoch subversiv, sinnlich-poetisch und dennoch ganz kreatürlich, nicht zuletzt enthusiastisch obszön und doch völlig safe sein kann, stellt das Pornfilmfestival seit mittlerweile erfreulichen acht Jahren mit schöner Gelassenheit unter Beweis. Auch deswegen zählt es zu den wertvollsten und spannendsten, also: unverzichtbarsten Festivals der Stadt.



Wegen toller Filme wie "Shutter" der Fotografin Goodyn Green etwa, einem anschmiegsamen Episodenporno, der fünf lesbische Paare beim Sex weniger beobachtet als ihnen dabei beiwohnt. Dass es dabei auch rough zugeht, ist kein Widerspruch zur verspielten Zärtlichkeit nicht nur der Vögelnden, sondern auch des Films. Kamera und insbesondere auch der noch feinstes Rascheln und Schmatzen registrierende Ton sind den Frauen zwar ganz nahe, dennoch schlafen diese in erster Linie miteinander. Der Sex exhibitioniert sich nicht für die Kamera. Sehr sexy ist das nicht nur wegen der offensichtlichen Lust der Frauen aufeinander, sondern auch, weil sich in diesem sehr intimen Film die Blick- und Machtachsen gängiger Pornokonzeptionen wunderbar verkehren. Ein Ausblick auf ein pornosexuelles Utopia: eine unentfremdete Pornografie, gerade ohne übergriffiges Blickregime, in der die Einladung von Menschen, sie beim intimsten Akt zu beobachten, auf Seiten des Publikums als wertvolles Geschenk begriffen wird.



Oder wegen aufregender Entdeckungen wie Jacques Scandelaris ekstatischer "New York City Inferno" (1978), ein schwuler Porno, der mit schöner Beiläufigkeit die politische und chronistische Komponente von Pornos aus sozial marginalisierten Bereichen belegt. Mit teils dokumentarischem Gestus nimmt dieser Film über einen Franzosen auf der Suche nach seinem in New York verschwundenen Lover Facetten und Aspekte des schwulen Metropolenlebens in den Blick, beobachtet semiöffentliche Orte und Rituale der Anberaumung genauso wie die Safe Spaces derber Jeans-und-Leder-Nachtclubs. Wertvoll ist er auch in musikalischer Hinsicht: Die Discosounds der Village People hört man hier wie in einer Zeitkapsel ganz unmittelbar vor ihrer Verkarnevalisierung durchs Fernsehen der 70er vor der Kulisse eines schmutzig-tristen New Yorks, das hier noch roher und eindringlicher vor Augen steht als etwa in William Friedkins zwei Jahre später in ähnlichem Setting entstandener "Cruising". Zum rauschhaften BDSM-Finale läuft unterdessen avantgardistischer Synth-Underground-Punk - spannend und aufschlussreich, welche Bündnisse und Spektren sich hier aufspannen.

Materialästhetisch vollends authentisch wird das Festival, wenn es Joe Sarnos Hetero-Porno "Inside Jennifer Welles" (1977) in einer historischen 35-mm-Kopie zeigt. In Textur und Haptik des Trägermaterials zeigt sich, was Pornos vor ihrem Rückzug in den VHS- und Digital-Privatismus einmal waren: ein selbstverständlicher, sehr öffentlicher Diskurs in direkter Nähe zum "offiziellen" Kino, wie auch der Film selbst reflektiert, wenn ein Taxifahrer die Titelheldin, einen kurzzeitigen Star jener Tage, im Vorbeifahren darauf aufmerksam macht, dass ein Kino einen ihrer Filme zeige. Was Pornos heute sind und morgen vielleicht sein könnten, demonstriert das Pornfilmfestival unterdessen im übrigen Programm auf so zahlreiche Weisen, wie es Sexualitäten gibt. Auf fünf neugierige, lustvolle, experimentierfreudige Tage!


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Montag, 13. Oktober 2014
Thema: Hoerspiele
Derzeit noch (und wer weiß, wie lange) beim WDR als Download erhältlich: Angriff der Terror-Zombies, ein sehr hübsch gemachtes B-Movie-Hörspiel von Thomas Leutzbach (Regie) und Veit König (Buch), gespickt mit einigen Anspielungen auf das Genrekino italienischer Provenienz. Hat mir gut gefallen.

Hier der Direktlink zur mp3-Datei.



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Donnerstag, 2. Oktober 2014
(zuerst erschienen in der taz)




Schöne, neue, monochrome Welt: Nach einem Weltenbrand haben sich die verbliebenen Reste der Menschheit zu einer Gesellschaft der Gleichen unter Gleichen zusammengefunden - standardisiert, mütterlich behütet, wohltemperiert. Eine Welt der glatten Oberflächen, der geschmeidigen sozialen Kontakte, der mittig ausgepegelten Wallungen - ohne Gewalt, dafür voller schicksalsergebener Menschen ohne Geschichte und ohne Biografie im lauwarmen Glück vorgegebener Lebensplanung und Fürsorge. Ein Paradies, unter dessen sanfter utopischer Oberfläche die dystopische Kehrseite erahnbar ist.

Denn Frieden und Glück haben ihren Preis: Selbst noch die Erinnerung an Kunst und Literatur sind aus dem Alltag gebannt. Die Artefakte sind vor den Toren der Stadt beim "Hüter der Erinnerung" (Jeff Bridges) eingelagert, dem mit dem jungen Jonas (Brenton Thwaites) ein Nachfolger in spe zur Seite gestellt wird. Der beginnt mit erst ungläubigem, dann staunendem, schließlich zornigem Blick die einstige Fülle und Bandbreite menschlicher Gefühle und Ausdrucksweisen zu durchmessen und bald schon seinen einstigen Weggefährten und schließlich im Akt der Auflehnung der ganzen zwangsbeglückten Gesellschaft nahezubringen.

Die filmische Umsetzung von Lois Lowrys bereits 1993 erschienenem Jugendroman ist von sentimentalem Pathos - insbesondere Jeff Bridges, dem diese Verfilmung seit Jahren eine Herzenssache ist, gibt ordentlich Nuschel-Schmiere - ganz gewiss nicht frei. Hinter dem edlen, heutiger Apple-Ästhetik entlehnten Gadget-Look finden sich aber doch ein paar hübsche, im Rahmen eines mittelprächtigen Blockbusters überzeugende Gedanken zum dialektischen Verhältnis zwischen Utopie und Dystopie, zwischen jauchzendem Glück und tiefem Schmerz.

Um beflissenen "Lest mal wieder ein Buch"-Ratgeberkitsch für Kleinbürger geht es höchstens halb - dafür sind die zwar sanften Ambivalenzen an sich doch zu deutlich: Aufwallende Emotionen ziehen eben auch gewaltsame Konflikte nach sich und dass die dystopische Glücks-Gesellschaft nicht doch auch auf kühl rationale Weise Vorzüge vorzuweisen hat, bleibt ebenso kenntlich.

Sein Ende findet der Film im Weihnachtskitsch aus dem 19. Jahrhundert. In den USA beanspruchen ihn bereits Tea Party samt Konsorten als Plädoyer für die eigene, rechte Sache. Linke Kommentatoren warnen vor der dämonisierenden Verzerrung ihrer Ideen und Ideale. Völlig aus der Luft gegriffen sind die Wortmeldungen beider politischen Lager nicht.


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(zuerst erschienen beim Perlentaucher)



Verschwunden ist das Mädchen und zuvor schon die Liebe: Buchstäblich steht Nick (Ben Affleck) als er nach Hause kommt vor einem Scherbenhaufen - zunächst nur vor dem der Glasplatte des Wohnzimmertisches, doch metaphorisch ebenso vor dem seiner Ehe mit Amy (Rosamund Pike) und nicht zuletzt, wie sich in den kommenden Tagen zeigen wird, vor dem seiner Existenz. Mord? Wo ist die Leiche? Entführung? Wo sind die Kidnapper? Oder doch die fingierte Camouflage nach außen eines gewaltsam gelösten Ehekonflikts, die den Gatten alsbald selbst nicht nur in den Mittelpunkt der Ermittlungen, sondern auch des längst vor dem Haus postierten Medienapparats rückt?

Die Liebe zwischen Nick und Amy begann einst wie der schmalzige Traum eines naiven Teenies: Ausgezirkelte Flirt-Oneliner, Kuss im Puderzucker-Wirbel, leidenschaftlicher Sex in der Bibliothek, ein charmanter Heiratsantrag mit gerade jenem Schuss augenzwinkernder Obszönität, der die Sache prickelnd macht, einfallsreiche Hochzeitstagsgeschenke, ein großes Haus und eine hinreichend dicke finanzielle Decke. Das weiße, heterosexuelle Glück der Mittelschicht in Perfektion - zu schön, um wahr zu sein, wohl wahr! Und tatsächlich entblättert sich "Gone Girl", Finchers Verfilmung von Gillian Lynns gleichnamigem Bestseller, aus verschiedenen, teils überlappenden Erzählperspektiven, denen schwer zu trauen ist. "Gone Girl" ist nicht nur ein exzellenter Psychothriller mit einigen üblen Abgründen, sondern auch eine Meditation in Sachen unzuverlässigen Erzählens.

Oder genauer: manipulativen Erzählens. Wer erzählt hier wem was und zu welchem Zweck? Beide, Nick und Amy, entspringen der schreibenden Zunft und erzählen einander, welche Traumpartner sie ineinander gefunden haben (die hässliche Realität natürlich: Nick knallt in seinem Uni-Büro eine 20-jährige Studentin aus dem Kurs für kreatives Schreiben. Und Amys Realität ist eine eigene für sich). Amy wiederum erzählt einiges ihrem Tagebuch, das sich, aus gutem Grund, direkt ans Publikum wendet. Der Polizei erzählt Nick auch vieles - der hysterisierende Medienapparat wiederum erzählt eigentlich so gut wie nichts, und agitiert gerade deshalb besonders effektiv die Fernseh- und Internet-Öffentlichkeit gegen Nick, den bereits als solchen ausgemachten Ehefrauen-Mörder.



Reichlich meta das alles: Die einen (und manche anderen) manipulieren einander in Beziehungsknäste, als clever konstruierter Thriller manipuliert "Gone Girl" sein Publikum selbst in einem fort, lässt dabei das Pendel der Sympathien beständig ausschlagen und macht gerade in seiner grenz-satirischen Überspitzung die Manipulierbarkeit der öffentlichen Wahrnehmung und damit einen zentralen Mechanismus der heutigen Shitstorm-Medienkultur, in der alle eine Meinung über Entgleisungen und Fehltritte Einzelner haben, während die ganz großen Schweinereien ungestört in den Hinterzimmern ablaufen können, kenntlich. Denn das Gefecht um die Deutungshoheit der Geschehnisse wird auch von Nick selbst zusehends über die Medienkanäle bestritten, bzw. größtenteils an diese öffentliche Arena delegiert.

Schön fies, mitunter grenz-, wenn nicht sogar voll-heikel, welche kirren Borderline-Dimensionen Fincher das Manipulations-Ballett annehmen lässt (schön fies auch, dies ganz am Rande, wie auch die Filmkritik an die Kandare genommen wird, denn wirklich schreiben lässt sich über einen 150 Minuten langen Film, der bereits im ersten Drittel munter Plotwendungen aneinander reiht, die man schon aus Gründen der Fairness nicht spoilern sollte, kaum). Die Vorstellung der romantischen Paarbeziehung jedenfalls, wie sie Hollywood in der Regel auch heute noch ans Ende seiner zumindest gängigsten Konkretionen setzt, erfährt eine schöne Verschiebung ins nicht nur sacht Horrible. Nicht von ungefährt erinnern die Texte nicht weniger Liebeslieder bei genauerer Betrachtung eher an Stalker-Bekenntnisse, ausformulierte Besitzansprüche und konsequente Selbstaufgaben. "Romeo and Juliet are together in eternity" heißt es in dem Lied "Don't Fear the Reaper" von Blue Öyster Cult, das an einer Stelle in "Gone Girl" im Hintergrund läuft: Was unzählige Hippie-Turteltauben einst bei Kerzenlicht als Ausdruck vollkommener Hingabe an den Anderen goutiert haben, entpuppt sich in "Gone Girl" als existenzielle Drohung: Auf ewig Dein, auf ewig mein. Das perfekte Paar, ganz Hollywood, steht auch hier am Ende der Erzählung. Zu einem Preis allerdings, der schaudern lässt. Zumindest in dieser Hinsicht handelt es sich bei "Gone Girl" um Finchers großen Anti-Hollywood-Film - realisiert inmitten der Industrie. Was für eine Volte!


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Mittwoch, 24. September 2014
Thema: radio
Wer mag schon seine eigene, auf Tonband aufgenommene Stimme gerne hören? Wohl kaum jemand, also auch ich nicht. Deshalb habe ich die Einladung von Frédéric Jaeger und Lukas Foerster, mich gemeinsam mit Ekkehard Knörer mit ihnen beim "Critic's Roundtable" (powered by critic.de) über Christian Petzolds (meisterlichen) Phoenix, über Jonathan Glazers (nicht minder meisterlichen) Under the Skin (über den ich hier und hier schreibe) und über die (nicht ganz so meisterliche) Kinosituation in Deutschland zu unterhalten, dankend angenommen. Das Gespräch kann man hier anhören. Ich hoffe, es ist nicht allzu blamabel geraten und vertraue auf Frédérics Fähigkeiten, ääähs und öööhs sowie nervöse Lacher herauszuschneiden.

Und warum Phoenix so ein toller Film geworden ist, kann man bei Lukas auch nachlesen.



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Mittwoch, 17. September 2014
(zuerst erschienen im Standard, in der taz als gekürzte Fassung)



Ava Lord (Eva Green), eine Frau, für die gemordet wird. Eine Femme fatale, nicht wie sie im Buche - etwa bei Chandler oder Hammett - steht, sondern wie sie Frank Miller erst 1993 in seinem postmodernen Comic Sin City in nostalgischer Erinnerung an einstige Roman- und Filmlektüren ersonnen hat und nun gemein- sam mit Regisseur Robert Rodriguez im postmodernen Kino auf die große Leinwand bringt: einerseits handelndes Subjekt der Geschichte, das Männer für ihre Zwecke reihenweise um den Finger zu wickeln versteht, andererseits fetischisiertes Objekt des Films, an dessen Reizen die Kamera so untertänig wie übergriffig hängt.

Die Verkörperung von blankem Sex - mit blitzend bösen Augen, verführerisch gedämpftem Spiel, über weite Strecken des Films so verlockend wie gefährlich nackt. Weit weg also von ihren verhüllten, ihre Versprechungen nur andeutenden filmhistorischen Ahninnen und damit die überdeutliche Konkretion einer Venusfalle, für die jeder Mann seine Existenz umgehend aufs Spiel setzt. Kein Wunder, dass diese Frau von diesem Film, einem einzigen Konvolut aus Männerneurosen, am Ende für ihre Verlockungen bestraft werden muss.

Neun Jahre nach ihrem ersten, vielbeachteten Sin-City-Film legen Miller und Rodriguez nun ein Quasi-Prequel vor. Nicht nur bietet das die Möglichkeit, in Teil eins zwar aus dem Leben geschiedene, aber beliebte Figuren wie etwa den kantigen Marv (Mickey Rourke) wiederauftreten zu lassen, auch ansonsten gibt es "more of the same": versiffte Spelunken, Schlägereien, Huren, Psychos, miese Absteigen, korrupte Bullen, viel urbanen Gossenschmier, markige Sprüche aus dem Archiv des verwahrlosten Rock-'n'-Roll-Existenzialismus.

Eine - Stichwort: Pulp Fiction - verschachtelt episodisch erzählte Fantasie zwischen Sexheft und Pulproman, deren obsessive Reizpunkte das Team bewusst schwarz-weiß grell, überzeichnet, übergroß in Szene setzt. Mit dieser parodistisch-hyperbolischen Methode wird deren neurotischer Kern, wenn auch unfreiwillig, freigelegt.



Technisch gibt es einige Fortschritte zu verzeichnen. Vor allem das 3-D-Format steht Sin City 2 als zwischenzeitig hinzugekommenes Gestaltungsgimmick gut an. Das lindert das große ästhetische Problem des ersten Teils, mit dem auch dieser Film zuweilen etwas kämpft, ein wenig: Frank Millers oft ganzseitige und von viel, sehr viel Text begleitete Panels erzielten in der Comicvorlage eine Radikalität innerhalb des Mediums, zu der Robert Rodriguez in seinen sklavischen, um Bewegung ergänzten Bildnachstellungen keine adäquate filmische Entsprechung fand.

Der Raumeffekt verleiht der lustvoll verkommen imaginierten Stadt mit all ihren reizvollen und weniger reizvollen Fetischen nun eine angenehm überwältigende Wucht, die den zentrifugal davonstrebenden Drastiken einiges an manischer Dringlichkeit gibt. Zur masochistischen Tendenz dieser wie im Speedrausch heruntergerasselten Pulp-Geschichten passen diese Prügel für das Publikum so weit ganz gut.

Dennoch macht sich bald Übersättigung bemerkbar. Man fühlt sich wie nach einer hemmungslosen Fastfood-Orgie: durchaus zufrieden, aber eben auch pappsatt. Und man fürchtet die fiesen Pickel, die solchen Exzessen gnadenlos folgen.


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Freitag, 12. September 2014
(zuerst erschienen im Perlentaucher)

David Cronenberg goes Hollywood. Wenngleich nur, was das Setting betrifft: Vier Produktionsfirmen aus vier Ländern - nur eine davon us-amerikanisch und kein großer Fisch im Hollywood-Tümpel - zeichnen für "Maps to the Stars", mit dem sich Cronenberg nach Ausflügen ins frühe 20. Jahrhundert ("Eine dunkle Begierde") und die nahe Post-Kollaps-Zukunft ("Cosmopolis") wieder ganz der Gegenwart zuwendet, verantwortlich. Es mag auch an dieser Branchenferne liegen, dass Cronenbergs Blick auf die Abgründe der sich ohnedies sehenden Auges auf die Implosion zubewegenden Glitz-und-Glam-Welt von Los Angeles noch im strahlenden Sonnenschein düster, bösartig und gallig ausfällt, auch wenn der Cast mit Julianne Moore, Mia Wasikowska und (in einer Nebenrolle) Robert Pattinson eine Nähe zum Herzen der Industrie nahelegt. Das Komödien-Subgenre der beschwingt augenzwinkernden Hollywood-Farce, die es bereits mit mildem durch den Kakao Ziehen auf sich bewenden lässt, ein paar Wahrheiten vielleicht sogar anspricht, aber dabei - hey hey - die Kirche bitte im Dorf lässt, ist "Maps to the Stars" glücklicherweise nicht geworden. Nicht, dass ich zu der Fraktion zählen würde, doch wer dem kanadischen Altmeister des Body-Horror nachsagt, sich zuletzt von alten Tugenden spürbar entfernt zu haben oder gar altersmilde (bösere Zungen behaupten: langweilig) geworden zu sein, wird auch hier kein gewaltiges Comeback der alten blutig-sudeligen Form erleben. Doch schön mulmig und psychisch abgründig ist diese Reise ins Herz der Glamour-Finsternis schon geworden.



Die Körper sind wieder Schauplatz und Leinwand in einem: Hätte Cronenberg in den Siebzigern und Achtzigern den Neurosen- und Traumata-Komplexen auf zwei Beinen noch neue Organe wachsen lassen oder deren bereits bestehenden Organe zur Explosion gebracht, sind es hier Hautunreinheiten und Pickel, sowie nicht zuletzt großzügige Flächen verbrannter Haut und dergleichen Makel mehr, die sich dem Photoshop-Gloss der Hollywood-Körper nicht nur widerständig entgegenstellen, sondern auch insistierend darauf verweisen, dass die Wesen, über die sich diese Häute spannen, mit sich buchstäblich nicht im Reinen sind. Zwischen Psychotherapie und Yoga, aufblühendem und verwehendem Starruhm, kleinen und größeren Gehässigkeiten und nicht zuletzt aus jeder Menge Albdruck aus der Vergangenheit baut David Cronenberg einen großartigen Komplex des menschlichen Unglücks inmitten einer der realen Welt entrückten Industrie, die gerade dieser Welt doch verspricht, ihr die eigenen Träume und Sehnsüchte - mithin: das Glück selbst - zu verkaufen.

Ein kleiner, nicht erschöpfender Überblick über die Dramatis Personae: Die stets großartige Julianne Moore entgrenzt sich atemberaubend in die Rolle von Havana Segrand, einer spleenigen Soon-to-be-Has-Been-Darstellerin, der im Alter von 50 Jahren dramatisch die Rollen ausgehen. Ihre aktuelle Obsession: Ein Remake jenes Films, in dem einst ihre mittlerweile verstorbene Mutter, die sie in ihren Tagträumen noch immer heimsucht, reüssierte, mit ihr selbst in der Rolle der damals deutlich jüngeren Mutter. Dann ein Kinderstar (Evan Bird), der sämtliche Allüren und Großkotzigkeiten des Betriebs bereits vorbildlich verinnerlicht und in einer Kotzszene cronenbergisch-metaphorisch entäußert, der selbst schon unter dem Druck eines zusehends brutalisierten Starsystems im Zeitalter der ständigen Ersetzbarkeit aller Protagonisten zu äußersten Mitteln greift. Und, als Hauptfigur, die rätselhafte Agatha, gespielt von Mia Wasikowska, mit ihren Brandnarben die am eindeutigsten Gezeichnete von allen, die eine Twitter-Bekanntschaft mit Carrie "Prinzessin Leia" Fisher (die sich selbst spielt) nach Hollywood bringt und als zusehends ausgenutzte und seelisch missbrauchte Assistentin bei Segrand landet. Agatha wiederum, als mysteriöse, vermeintlich Außenstehende des Betriebs, entspringt tatsächlich ganz dessen Herzen - und hegt einen eigenen Plan.

Hollywood, eine gigantische Fabrik. Nach vorne produziert sie Träume, Oberflächen, Begehren: Der wirtschaftliche Hauptarm der Filmindustrie, für den sich Cronenberg kein Stück weit interessiert, ihn insbesondere ästethisch - wohl nicht nur aus Budgetgründen - konsequent ausspart. Vielmehr interessiert er sich für das, was am anderen Ende herauskommt: Einen eigenen Film fährt "Maps to the Stars", was Exkremente betrifft. Immer wieder geht es um Fürze und um Scheiße, die der Film, sofern ihre Provenienz aus einem Star-Anus tatsächlich beglaubigt ist, in einer zumindest auf Dialogebene bizarren Szene in den Rang eines veritablen, gut absetzbaren Nebenprodukts des Starsystems hebt. Auf diese Weise erzählt "Maps to the Stars" auch von der Erosion eines Systems, das einst auf der Aura der Distanz basierte und heute - dank Twitter, Facebook, Instagram - dem Fetisch künstlicher Nähe huldigt: Besitze auch Du ein bisschen Exkrement Deines Lieblingstars - noch heute, jetzt!



Ein Geflecht von Personen, Relationen, Verletzungen, Sehnsüchten und enttäuschten Wünschen, die Cronenberg mit kalt sezierendem Blick zu isolieren und doch auf einander zu beziehen versteht: Konsequenter als in "Cosmopolis" erscheinen die Menschen als Vereinzelte, die auffallend selten zu zweit einen Bildkader bewohnen. Man mag darin eine Allegorie auf die Ich- und neoliberale Eigenblutdoping- und Optimierungsgesellschaft sehen, auf das Alleingelassen-Sein in einer Welt, die von der Geborgenheit des Einzelnen im gesellschaftlichen Netz nichts wissen will, ihm aber alles gesellschaftliche Elend ohne weiteres zumutet. Vielleicht liegt in dieser Bildpolitik auch einfach der Horror davor, immer nur auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, keine Brücke zum anderen mehr aufbauen zu können, den Anderen nicht mehr erkennen zu können, vom Anderen nicht mehr erkannt zu werden, Zweisamkeit nicht mehr erfahren zu können.

Konsequent lässt Cronenberg diese Logik der Vereinzelung auf ein Wiedererkennen im gemeinsam geteilten Trauma hinauslaufen. Ein Moment der Zweisamkeit entsteht zuletzt, tödlich, von zugleich verstörender wie beglückender Poesie: In der zwanghaften Wiederaufführung des Moments einer einst ins Seelengewebe geschlagenen Verletzung mag ein Trost liegen. In diesem Film schlägt, wie schon in Cronenbergs düstersten Erkundungen der einsamen Menschen und ihrer Körper, ein dunkles, vor Schmerzen aufschreiendes Herz.


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Samstag, 6. September 2014
(zuerst erschienen im Freitag)

Die Traumstadt ist eine Altstadt: pittoresk verwinkelt, angenehm unherausgeputzt, touristisch nicht erschlossen, gelegen im letzten Winkel der Welt – im Film irgendwo hinter einer Karl-May-Wüstenlandschaft, in echt im tschechischen Erzgebirge. Preßnitz, die Traumstadt aus Johannes Schaafs gleichnamigem Film von 1973, die im furiosen Ende vor laufender Kamera gesprengt wird, wurde tatsächlich dem Erdboden gleichgemacht und liegt heute am Grunde eines Stausees.



So also sieht die Traumstadt aus, eine Art Dorfkommune, in die ein von Schaffenskrisen gebeutelter Künstler (Per Oscarsson, mit seiner hager-eitlen Körnerfresser-Weltabgewandtheit bestens besetzt) aus dem aufregend urbanen München der 70er Jahre aus seiner hippen Space-Age-Wohnung samt Gattin (Rosemarie Fendel) von einem mysteriösen Fremden mit dem Argument gelockt wird, dass man hier von den Zumutungen der Moderne frei und für alles gesorgt sei, dass man jedem Bedürfnis und jeder Lust nachgehen könne. Regressive Utopie: das Dorf mit bürgerlichem Anstrich – alles sehr 18., 19. Jahrhundert – als freiheitlicher Gegenort zum Urbanismus der Zeit mit seinen klaren Formen und Linien. Michael Endes Metropolen-Ennui lässt grüßen, folgerichtig verfilmt Schaaf später Momo.

In Traumstadt scheitert das Versprechen grenzenloser Freiheit schon daran, dass zum ausgelebten Begehren eben doch mindestens zwei zählen und diese miteinander übereinkommen müssen. Im Film, basierend auf Alfred Kubins einzigem, surrealen Roman Die andere Seite, schlägt die Utopie daher nach einem bürokratischen Zwischenspiel bald um in ein Wahnbild aus Enthemmung und Degeneration, irgendwo zwischen Federico Fellini, Alejandro Jodorowsky und Hieronymus Bosch, besonders augenfällig in einer grotesken Theaterszene, in der unzählige Akteure vor leerem Saal permanent obszön aneinander vorbeispielen.



Kurz nach 1968, in einer Zeit, in der der deutsche Sexfilm eine sieche Industrie über Wasser hält und die RAF längst zu den Waffen gegriffen hat, ist das trotz aller Weltferne als Statement zur Gegenwart zu lesen: Eine tiefe Skepsis gegenüber allen Verlockungen großer Freisprengungsnarrative durchweht den Film, immer mit Blick darauf, dass darin auch die Gefahr der Zerstörung des Gegebenen und Tradierten liegt. Der aktuelle Peter Sloterdijk mit seiner Klage über die schrecklichen Neuzeitkinder hätte seine Freude. In der DVD beiliegenden, eigens gedrehten Interviewfilm äußert Johannes Schaaf denn auch Zweifel, ob der Film im heutigen Kontext überhaupt noch richtig verstanden werden kann.

In der Tat wirkt nun manches etwas morsch, zumal der Künstlertypus Einsiedler in der Post-Christoph-Schlingensief- und Jonathan-Meese-Gegenwart eher ausgestorben scheint. Schöner ist die Stellenlektüre: Unter den Schichten an Weltuntergangsromantik, die am Ende sehr konkret in den Kader schießt, ist hier eben doch eine für den damals noch jungen deutschen Film ungewöhnliche Lust am drastischen, entrückten, bizarren Bild zu beobachten. Es sagt viel aus über die 70er-Jahre-BRD, dass man an die grellen Welten aus Jodorowskys zeitgleich entstandenem Heiligen Berg hierzulande näher kaum herangekommen ist – und auch dann nur mit mahnend erhobenem Zeigefinger. Allein für diese Erkenntnis ist der vorbildlichen Edition, die eine lange nur in Form defizitärer Fernsehaufnahmen kursierende Rarität der westdeutschen Filmgeschichte wieder zugänglich macht, zu danken.

Die hervorragende DVD ist bei Filmjuwelen erschienen.


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Freitag, 5. September 2014
(zuerst erschienen im Freitag)

Kein Filmstar von wahrem Glanz und Rang, der nicht mit der einen großen ikonischen Szene ins Bildgedächtnis eingegangen wäre. Die Monroe hatte den Fahrtwind aus dem Schacht, der ihren Rock in Turbulenzen brachte; Elizabeth Taylor den pompösen Großauftritt als Cleopatra – Hollywood-Überbarock in seinem besten Ausdruck.

Die Drag-Queen Divine (bürgerlich: Harris Glenn Milstead) wird dagegen für immer in jener Szene mit dem Hundehaufen erinnert werden, den sie in John Waters’ schmutzigstem Film Pink Flamingos (1972) unter sichtlichem Kampf mit dem Würgreflex vor laufender Kamera verschlang. Finaler Höhepunkt eines Proto-Punk-Films, der Divine in einer losen Abfolge bis heute verstörender, fröhlich dargebotener Geschmacklosigkeiten und Regelverletzungen endgültig zum Star machte. Fortan wurde sie gefeiert in den Nischen der queeren Gegenkultur, später zwischen trashigem 80er-Jahre-Dancefloor und Produktionen auch in Hollywood-Nähe. 1988 starb Divine, deren enormes Übergewicht neben ihrer demonstrativ konfrontativen Attitüde stets ein Markenzeichen war, kurz nach der Premiere von Waters’ Film Hairspray auf dem Gipfel ihres Erfolgs an einem Herzinfarkt.

Aufstieg, Triumph und melodramatischer Abgang eines Filmstars gegen alle Widerstände und Wahrscheinlichkeiten – dieses Narrativ übernimmt Jeffrey Schwarz in seiner nun auf DVD veröffentlichten Hommage "I Am Divine". Die Dokumentation montiert die für solche Filme üblichen Interview-Blurbs zahlreicher Weggefährten – darunter natürlich auch der „Pope of Trash“ John Waters – mit zum Teil bislang ungesehenem Archivmaterial. Der Film erzählt auf diese Weise die Geschichte eines zwar verfressenen, im Auftritt aber femininen und sensiblen Jungen, der unter den zahlreichen Gehässigkeiten seiner Mitschüler litt. Zuflucht und Anschluss fand er in der schwulen Underground-Kultur seiner Heimatstadt Baltimore mit ihren Drogen, Drag- und Film-Events („Lasst uns Bergman auf LSD sehen!“), ehe er schließlich den ewig gehegten Traum, Filmstar zu werden, mit seinem Partner in Crime John Waters in Angriff nahm – ohne Rücksicht auf sich selbst, mit billigstem Equipment und einer ziemlichen Naivität in Bezug auf das Business.



Für Milstead entpuppte sich die Kunstfigur Divine zunächst als Segen, weil sie ihm Türen öffnete. Am Ende aber, bei den Versuchen, als seriöser Darsteller in Hollywood Fuß zu fassen, erwies sich das Image mitunter als Fluch. Hier zeigt sich noch die bittere Dialektik selbst liberaler Heteronormativität: Wer einmal im Drag geduldet war, soll darin bitte schön bleiben. Milsteads fast tragisch anzusehende Versuche, sich der Öffentlichkeit des Mainstreams als „echter Mann“ anzubieten, scheitern mangels Interesse.

Vor allem die Vielfalt des versammelten historischen Materials macht aus I Am Divine einen sehenswerten Film – Interesse an Trash und Queer Culture vorausgesetzt. Ob man dem Leben eines Menschen, der mit allen Regeln und Tabus brach, mit einem formal recht gewöhnlichen und sein Sujet auf wenig überraschende Weise narrativisierenden Porträtfilm allerdings wirklich gerecht werden kann, bleibt zumindest fraglich. Mag der Film dadurch auch etwas brav geraten sein, ist die Geschichte vom gehänselten Jungen, der im Fummel nach den Sternen greift, doch anrührend. Dass sich Schwarz’ Film über weite Strecken wie eine klassische Hommage an einen Hollywood-Star anfühlt, hätte Divine wohl am besten gefallen.


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