Montag, 3. November 2003
29.10.2003, Heimkino

Einer von jenen Filmen, über die man sich im Nachhinein schier endlos aufregen könnte. Nicht etwa, weil er einfach nur nicht sehenswert gewesen wäre, nein. Solche Filme sind schneller vergessen als angesehen, als für hedonistische Zwecke gleich welcher Art unbrauchbar im Archiv der Erinnerung abgebucht und gut. Nein, Dardevil ist da viel schlimmer: Er ist einer jener Filme, die mit denkbar besten Voraussetzungen ans Werk gingen, nur um eigentlich so recht alles zu versieben.

So ist die Figur und ihr Konflikt eine überaus reizvolle (und mir als relativem Comic-Ignoranten auch bis dato kaum bekannt gewesen): In ärmlichen Verhältnissen als Sohn eines Hinterhof-Boxers in New York aufgewachsen, erblindet der junge, von seinen Mitschülern gegängelte Matt Murdock in Folge einer Verätzung seiner Augen durch eine toxische Substanz. Eine tragische Verquickung unglücklicher Ereignisse führten dazu: Als er seinen Vater, der ihm trotz aller finanzieller Widrigkeiten Held und Idol ist, in einer Nebengasse als Straßendieb erkennt, rennt er wie hysterisch druch die Straßen und verursacht einen Beinahe-Unfall mit einem Giftmülltransporter, nicht ohne noch einen Strahl des Gifts mitten ins Gesicht abzubekommen. In Folge entwickelt der Kleine in Kompensation ein unheimlich scharfes Gehör, das es ihm, einer Fledermaus ähnlich, ermöglicht, anhand noch feinster Echos vor dem geistigen Auge ein Abbild seiner Umgebung zu konstruieren. Als sein Vater schließlich von einem Haufen Gangster ermordet wird, schwört der Junge, selbst oft Opfer von Gewaltübergriffen gewesen, Rache im Namen all derjeniger zu nehmen, denen sonst keiner zu Hilfe kommt. Wo andere Saubermann-Superhelden vor allem an der Übergabe einschlägiger Delinquenten an die zuständigen Behörden interessiert sind, ist Daredevils Projekt weit archaischer, vormoderner: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Vor allem dann, wenn die Institutionen der Justiz zur Rechtsprechung nicht mehr fähig scheinen. Dies bleibt nicht ohne Folgen. Im Blutrausch sieht sich Daredevil bald selbst in die Position der Mörder seines Vaters versetzt, als er vor den Augen des Sohns einen Vater richtet. Ist er einer von den Guten? Einer von den Bösen? Ein innerer Konflikt schwillt an, die Stadt indes ist, einer spekulativen Berichterstattung über den geheimnisvollen Vollstrecker ist's geschuldet, versessen darauf, die Identität hinter der Maske zu lüften.

Ohne weiteres wäre das ein Stoff, der, ästhetisch entsprechend aufbereitet, das Zeug zum würdigen Erbe des ersten Batman-Films von Tim Burton hätte. Doch dafür hätte es vielleicht etwas weniger Kalkül, etwas mehr Vision gebraucht. Dass erste Teile von Superhelden-Serials gerne etwas behäbig sind, weil man die traumatische Biografie des Charakters als Weichenstellung für das folgende darlegen muss, ist soweit bekanntes Handicap und somit ist die im Vergleich zur Filmlänge beinahe ungelenk lang ausgefallene Exposition auch schnell verziehen. Dass der innere Konflikt nur in den Raum gestellt wird, niemals aber fesselnd umgesetzt wurde, ist schon weit weniger hinnehmbar. Immer dann, wenn es nötig wäre, den eigentlich Antihelden noir zu zeichnen, lässt er ihn, wie eine abgepackte Kampfwurst eng eingeschnürt, zu NuRock-Klängen rumhopsen und rumprügeln. Wo es nötig wäre, verbittert und zynisch zu sein, wird man, selbst für Comic-Verhältnisse, unangenehm unrealistisch und bisweilen unfreiwillig komisch. Da hilft es auch nichts, dass man zwar in der Tat so bemerkensweit weit geht, das "Mädchen des Heldens" im Kampf mit dem eher nervigen und affektieren denn sardonisch-bösartigen Gegenspieler zu opfern, wenn dies auf der anderen Seite dadurch geschieht, dass Daredevil, verletzt darliegend, das Unglück nicht verhindern kann, nur um aber im nächsten Moment wieder, wie nach drei Dosen Red Bull, vital durch's Kirchturmgebälk zu springen, um den Tod der Geliebten zu rächen.

So geht es in einer Tour. Das Potential der Vorlage wird als solches offenbar noch nicht mal wahrgenommen, zumindest aber zugunsten zweifelhafter Absichten fahrlässig verschenkt. Statt verzweifelt und mehr oder weniger kläglich zu versuchen, auf den seinerzeit durch Matrix (USA 1999) losgetretenen NuRock-Cyber-Martial-Arts-Trend aufzuspringen, hätte man echten Pathos, echte Epik wagen müssen. So aber warf man sich selbst nur allzu willfährig dem freien Markt zum Fraß vor, flüchtete sich in die Profillosigkeit von vorne bis hinten durchkalkulierter Kulturindustriemanierismen. Und diese führen in diesme Falle noch nicht mal mehr zu charmantem Trash, wie das zum Beispiel Armageddon (USA 1997) gewesen ist.

Bitte kein Sequel, sondern umgehend ein Remake. Und zwar eins mit Eiern bitteschön, damit diese Gülle hier umgehend aus dem Gedächtnis streichbar ist.

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Donnerstag, 30. Oktober 2003
27.10.2003, Kino Arsenal

Was für ein exklusives Vergnügen, Tsui Harks kunterbunten wilden Genre-Mix auch mal im Kino sehen zu können. Das unterstreicht noch die Dame von der Arsenal-Belegschaft, die vor dem Film verkündet, wie mühselig es doch gewesen sei, eine Kinorolle des Films aufzutreiben. Man hatte eigentlich die Hoffnung schon aufgegeben!

Das China, das Hark in seinem gewiss nicht vordergründig politisch intendierten Film zeigt, ist ein Land des Chaos: Militärführer kommen und gehen, da braucht es gar nicht viel Hintergrundwissen. "Das ist ganz einfach", kommentiert ein Chinese das ganze gegen Ende, kurz bevor er, die Äußerung war wohl zu subversiv, eingebuchtet wird. Dieses soziale Chaos findet Entsprechung im hektischen Schnitt des Films: Kaum eine Einstellung, die eine Laufzeit von 5 Sekunden überdauert, Bewegungen werden nicht lange in Szene gesetzt, oft nur der letzte Abschnitt einer Bewegung wird überhaupt gezeigt. Die wunderbare Szene, in der die subversiv umtriebige Tochter ihren Vater, den General, durchs Fenster beobachtet, verdeutlicht dies sehr anschaulich. Es geht nicht um das Dazwischen, es geht nur ums Ergebnis. Ein Kino der Hast, der Eile tut sich da auf. Tsui Hark, ein Ökonom der Erzählung.

Wie überhaupt Ökonomie das bestimmende Thema des Films zu sein scheint: Längst schon kanonisierte Schlüsselfilme der Postmoderne geben sich im direkten Vergleich direkt handzahm aus. Peking Opera Blues ist bald Actionfilm, bald Kostümdrama, bald Melodram, bald Gangsternfilm, bald Slapstick-Komödie, bald Crossdress-Burleske. Der Ton des Films ändert sich beinahe schon analog zu seiner Schnittfrequenz im atemberaubenden Tempo, ohne aber ins bloß Manieristische drögen kunstgewerblichen Filmemachens abzudriften.

Im Gegenteil, Peking Opera Blues ist ein durch und durch kommerziell ausgerichteter Film und verneint diese Intention in keiner Weise. Aber es ist eine bis zum gewissen Grad ehrliche Ausrichtung, vor allem eine aufrichtig um den Zuschauer bemühte. Im Zusammenspiel mit den hohen formalen Qualitäten ergibt das einen rundum-glücklich-Film, von dem man lange zehren kann.

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Mittwoch, 29. Oktober 2003
28.10.2003, UFA Palast Kosmos

Die Ehe genießt als Institution in den Filmen der Coens seit jeher einen denkbar schlechten Stand. Bereits im Debüt der beiden, Blood Simple (USA 1984), bildete eine schon vor Beginn des Film hoffnungslos in die Brüche gegangene Ehe die Kulisse für die gegenseitige brutale Zerfleischung der beiden Eheleute (und aller Beteiligten). In Fargo (USA 1996) ließ der Gatte seine Gattin entführen, die Suche nach dem benötigten Kitt zur Rettung einer ebenso in die Brüche gegangenen Ehe diente in O Brother Where Art Thou? (USA 2000) zum Anlass einer Odyssee quer durchs weite Land um den Mississippi und in The Man Who Wasn't There (USA 2001) macht sich Billy Bob Thornton die Seitensprünge seiner Gattin gefühlskalt zunutze. Die Ehe mit ihren zahlreichen gegenseitigen Verpflichtungen und den damit einhergehenden personellen Beziehungsgeflechten dient den beiden Feuilleton-Lieblingen im wesentlichen als Matrix für ihre Anordnungen mikrosozialer Kleinstmaschinen, die, einmal sorglos angelassen, kaum mehr noch zu stoppen sind, am wenigsten von den darin Gefangenen selbst. Romantik findet auf dieser Spielwiese des sophisticated humor a priori keinen Platz. So ist es nur als doppelt ironisch gebrochen zu bezeichnen, wenn George Clooney als Staranwalt Miles Massey im neuesten Film der Coen Brüder ausgerechnet als Eröffnungsredner eines Kongress von Eherechtsanwälten seinen Aufsatz zerreit und so geläutert wie mitreißend verkündet, seinen Zynismus beiseite gelegt zu haben und endlich, ja endlich die eine große wahre Liebe im Leben gefunden zu haben. Trotz andernweitiger Hinweise - Zaghafter Applaus, dann standing ovations, Schulterklopfen, Umarmungen folgen diesem euphorischen Plädoyer, als der zuvor so eitle Anwalt mit halb aus der Hose hängendem Hemd durch die Massen Richtung Ausgang schreitet - kann das nur nicht ernst gemeint sein: Selten haben die Coens so offensichtlich böse ihr Spiel mit der Liebe getrieben. Denn dass sich die nunmehr gefunden geglaubte Liebe nur wenig später als sorgfältig geplante Falle herausstellt, sollte jedem, vor allem eigentlich Massey selbst, bereits im Vorfeld klar sein: Marylin Rexroth (Catherine Zeta-Jones), das Objekt der Begierde, stand nur kurz zuvor noch auf der juristisch gegnerischen Seite, als Gattin eines Mandanten von Massey, der diese in einer wahnwitzigen Gerichtsverhandlung um das bereits zum Greifen nahe Vermögen ihres Ex-Gatten brachte. Ein berechnendes Heiratsluder, wie es im Buche steht, eine fleischfressende Pflanze, deren klebrige Blätter sich lange schon um die Fliege Massey gelegt haben.

Gewiss ein prächtiger Stoff für die beiden, zumal unter den Vorzeichen der eigenen Filmografie, doch so recht zu überzeugen vermag die Ausführung nicht. Gehörte das cinephil gewitzte Zitat zwar immer schon zum liebsten Werkzeug im Repertoire der beiden Brüder, scheint man diesmal zuvorderst daran interessiert zu sein, mehr oder weniger ungelenk auf sich selbst zu verweisen. Da ist dann eine beinahe schon klassische Eröffnungsszene, in der der Gehörnte seine Gattin in flagranti erwischt. Dann Auftritt Clooney, der in seinem affektiertem Spiel als eher schon nervige Übersteuerung seiner Rolle aus O Brother Where Art Thou?, auch diesmal wieder mit Schönheitstick, erscheint, später ein selten dämlicher Gorilla von einem Killer mit Asthma, dessen Auftrag, die Gattin um die Ecke zu bringen, in der Ausführung natürlich so gewohnt wie vorhersehbar grotesk in die Binsen geht, eine Gerichtsverhandlung, wie man sie ähnlich schon aus The Man Who Wasn't There kennt, ein verstecktes Hinterzimmer gibts obendrein, in dem ein wahrer Methusalem von Kanzleichef Clooney zum, hinsichtlich des eigenen Schicksals, mahnenden Damoklesschwert wird, das Hinterzimmer selbst freilich zur Hölle wie dereinst das gespenstische Hotel für Barton Fink (USA 1991).

Aber, und das ist das Entscheidende, so recht ein Zentrum findet sich nicht. Zwar ist jede Szene für sich genommen unvergleichlich Coen, was wohl seitens des vom Verleih anvisierten Publikums, von einer selbst schon grotesk am Gegenstand vorbeigehenden Filmpromotion ins Kino gelockt, für Irritationen sorgen wird. Doch das bisweilen sogar recht amüsante Detail bleibt lediglich Episode in einem Flickwerk, heller Moment, der Film im Ganzen dann doch bloß nur ein groß angelegter Abruf bereits bekannter und kalkulierter Schlüsselreize. Das Genialische, wie man es aus früheren Filmen der Coens kennen und lieben gelernt hat, geht Ein (un)möglicher Härtefall über weite Strecken verlustig. Wie die Verfilmung eines Notizzettels wirkt das Ergebnis: Haufenweise Ideen, die die beiden vielleicht mal aus einer Laune heraus niedergeschrieben haben, aus welchem Grund auch immer aber nie aber zur Anwendung bringen konnten. Ein in seiner Darbietung als Spielfilm wenig durchdachtes Potpourri an grotesken Einfällen also, wie man es ähnlich bereits aus Ethan Coens Buch Falltür ins Paradies kennt, dort aber zumindest, aufgrund der gewählten Form der Kurzgeschichtensammlung, im Gesamten noch zu überzeugen wusste.

Er habe genügend Autoren an der Hand, die ihm das "Barton Fink Feeling" auf die Leinwand zaubern könnten, herrscht der Produzent Lipnick seinen jungen Autoren Barton Fink im gleichnamigen Film, einem der besten der Coens, an. Fink selbst bräuchte er hierfür ganz gewiss nicht. Das ist im wesentlichen die Crux des vorliegenden Films. Er fühlt sich an wie ein Coenfilm, ist gut abgekucktes Recycling sattsam bekannter Elemente und Motive, zugegeben stellenweise auch unterhaltsam, doch die Coens selbst hätte es für diesen Film nun ganz gewiss nicht gebraucht. Hier hat man sich weit unter Gebühr verkauft.

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Ein (un)möglicher Härtefall (Intolerable Cruelty, USA 2003)
Regie: Joel Coen; Drehbuch: Robert Ramsey, Matthew Stone, John Romano, Ethan Coen, Joel Coen; Kamera: Roger Deakins; Schnitt: Roderick Jaynes (= Joel & Ethan Coen); Musik: Carter Burwell
Darsteller: George Clooney, Catherine Zeta-Jones, Geoffrey Rush, Cedric the Entertainer, Edward Herrmann, Paul Adelstein, Richard Jenkins, u.a.
Länge: ca. 100 Min. Verleih: UIP

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Sonntag, 26. Oktober 2003
24.10.2003, Heimkino

Woran es gelegen haben mag, ist mir beinahe schleierhaft: Al Pacino, Johnny Depp, New Yorker Mafia, die klassische Geschichte vom Undercover-Cop, der sich zunehmend in eine Identitäts- und Loyalitätskrise verstrickt, das ganze vor mir sehr genehmer 70ies Kulisse. Beste Zutaten also, dennoch mag das fertige Gericht kaum munden.

Vielleicht ja auch deshalb, weil das Thema auch einfach narrativ weitgehend abgegrast ist (den sehr exzellenten Infernal Affairs aus Hongkong behalten wir mal als Ausnahme von der Regel im Hinterkopf), oder aber, weil alles irgendwie nur auf Sparflamme zubereitet wirkt: Die Story plätschert lange, zu lange, vor sich hin, ohne die einzelnen Episoden, im Sinne einer Klimax, so recht aneinander reihen zu können. Erst die letzte Viertelstunde entwickelt Spannung und Dramatik, diese steht aber kaum in dramaturgischer Relation zum Vorangegangenen.

Was hätte man aus den beiden bestimmenden Figuren nicht machen können? Johnny Depp als selbst schon sozial inkompetenter Ermittler, Al Pacino als der ewige Verlierer der "Familia", der kleine Straßengauner, der nie die Früchte der Macht auch nur antasten darf. Der eine, der seine Familie aufs Spiel setzt, seine Kinder grob vernachlässigt, der andere, der alles für die "Familia" tut, auch zuhause, beinahe schon spießbürgerlich, Familientyp ist und in Depp sich einen zweiten Sohn heranzieht, einen Judas natürlich. Doch nichts davon wird ausgereizt, alles nur in den Raum gestellt, als Indikatoren einer spannenden Geschichte, nicht aber als Manifestation derselben.

Das ist, gelinde gesagt, schade, gerade und besonders wegen den hohen Erwartungshaltungen im Vorfeld.

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23.10.2003, Zoo Palast

Das traurige vorweg: Wer bereits Wochen im Vorfeld eine einmalige Sondervorführung "zu Ehren" eines Klassikers ankündigt, sollte meines Erachtens auch willens und fähig sein, den Film in würdevollen Umständen zu präsentieren. Zwar war mit dem Zoo Palast eines der altehrwürdigsten Kinos Berlins - auch wenn daran im Innern, der Multiplexisierung sei Dank, kaum noch was erinnert - als Spielstätte angekündigt, doch leider verbannte man dieses Juwel in den hintersten und kleinsten Saal. Dieser ist nun, rein von den Gegebenheiten her, bestenfalls eine einzige Hasstirade gegen die Kinokultur: Eine Leinwand, die kaum größer ist als die vom Friedrichshainer Intimes, ungewöhnlich hoch aufgehängt obendrein, und der Saal dafür elend lang. Wer ab Mitte hinten sitzt hat vermutlich auf seinem Fernseher zuhause, sofern der nicht ganz dem Briefmarken-Spektrum zuzurechnen ist, ein größeres Bild. Beinahe schon grotesk dann der Umstand, dass die Senkung im Saal nach etwa Dreiviertel einen Scheitelpunkt erreicht und die vorderen Sitze sich somit wieder durch eine Steigung auszeichnen. Wer es an der Kasse mit einem besonders ungnädigen Mitarbeiter zu tun hatte, findet sich unter Umständen also mitten im Graben wieder. Und die Leinwand selbst ließ bereits noch vor der Werbung erkennen, dass sie, sollte nicht noch zusätzlich kaschiert, das Bild also noch kleiner gemacht werden als es eh schon war, kaum in der Lage sein würde, Leones Breitbildepos im richtigen Format abzustrahlen. Allzu viel fehlte zwar nicht, doch hier und da - vor allem im Showdown - wurde einem die Beschneidung doch schmerzlich bewusst. Ein stetes Brummen in den Lautsprechern, dessen Ursprung ich aufgrund seiner Charakteristik nicht im Filmmaterial selbst verorten möchte, war ebenso wahrnehmbar. Kurz und knapp: Was UCI als Ehrdarbietung ankündigte, war bestenfalls lieblos, eigentlich schon eher eine Beleidigung.

Auch die Filmrolle selbst war nicht von bester Qualität, doch das kann man wohl nachsehen, zumal ich der Auffassung bin, dass "digitally restored" zumindest im Kino alten Filmen nicht selten (aber auch: nicht immer) die Patina nimmt. Die spezifischen Charakteristika in Würde gealterten Filmmaterials vermag einer Sichtung durchaus zum Positiven zu gereichen, so auch, weitgehend, hier. Ein Stückwerk aus zwei Quellen war die Kopie wohl, zumindest tauchte ein Gelbstich immer mal wieder einige Sequenzen lang auf, auch der Ton variierte in Aussteuerung und Qualität, was, vor allem in den auditiv besonders drastischen Szenen, für einige schreckhaft zugehaltene Gehörgänge im Saal sorgte. Im wesentlichen aber unterstrich das alte Material den melancholischen und nostalgischen Charakter des Films und seiner Erzählung.

Und dennoch, trotz aller Widrigkeiten, die uns den Abend versauen wollten (dazu zählt auch unser angewiesene Platz in der letzten Reihe trotz Reservierung tags zuvor, den wir aber todesmutig ignorierten, um uns in die dritte Reihe zu setzen, sowie ein stellenweise beinahe schon arg geschwätziges Publikum), war es gut, diesen Film endlich auch auf einer Leinwand gesehen zu haben. Diese benötigt der Film wie der Mensch die Luft zum Atmen, wie's mir scheint. Die schier unglaubliche Dynamik, die Leone seinen Bildern durch die stete Verquickung von Bewegungsabläufen in der Bildhorizontalen und in die Tiefe des Raums verleiht, ist auf Konserve bestenfalls konstatierbar, kaum aber emphatisch nachvollziehbar. Großartig ist es, wenn der Zug über einen hinwegrollt, wenn Cheyenne Harmonica in der Bar weit draußen in der Ödnis, trifft, wenn Frank in Harmonicas Erinnerung, im Unschärfebereich der Kamera grotesk verfremdet, nach vorne tritt, sich langsam aber sicher manifestiert. Wenn ein Augenpaar die Leinwand zur Gänze ausfüllt und Morricone die verzweifeltsten Töne seines gesamten Werks erklingen lässt.

Gänsehaut ist gar kein Ausdruck. Selten in meinem Leben hatte ich meinen eigenen Körper im Kino so vergessen wie hier, lediglich meine erste Kinosichtung von Kubricks 2001 übertraf dies noch. In diesen Bildern für einen kurzem Moment lang leben zu können, dafür muss man Leone, diesem idealistischen, visionären Cineasten, auf ewig dankbar sein. Bedauernswert, dass es nicht die ganz große Leinwand für dieses Epos sein durfte. Die letzte Kinosichtung bleibt dies aber unter Garantie nicht - ich hoffe auf die Freunde am Potsdamer Platz (Nachtrag aus dem Jahr 2006: Der Wunsch wurde mittlerweile erhört; wie wundervoll ist es doch, diesen Film in einer Stätte der Filmkunst sehen zu können und obendrein von einer qualitativ vernünftigen Kopie).

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Donnerstag, 23. Oktober 2003
22.10., Heimkino

Verwirrender Film. Irgendwo zwischen "Geht ja wohl gar nicht!", "Was für ein fader Affenzirkus!" und "So unbekümmert bescheuert, dass es prächtig unterhält!".

Die Handlung ist natürlich bestenfalls hanebüchen und orientiert sich strukturell an den Vorgaben klassischer Serials: Zu Beginn ist's vollkommen anders als am Ende des vorangegangenen Teils, mit ein paar wenig erklärenden Worten wird das so als Faktum verkauft. Katastrophal wird's, wenn sich das Drehbuch selbst ad absurdum führt und sich vollkommen willkürlich entwickelt: Das blutdurchtränkte Hemd wird nicht weggeschmissen, der Eco-Aktivist klaut - warum auch immer - in recht prekären Situationen lebensrettende Kugeln aus einem Gewehr (was so brutal suggestiv angedeutet wird, dass nur verwundern würde, wenn er die Kugeln dann doch nicht entwendet hätte), nur um wenig später die Dinos selbst "Mistviecher" zu nennen, ein T-Rex-Baby wird einfach so mitgenommen, um es zu verarzten, obwohl man eigentlich weiß, dass das saudämlich ist, wenn die Eltern nicht allzu weit weg sein können, eine Tochter taucht plötzlich auf, die Tyrannosauri (heißt das so?) sind ebenso plötzlich wieder da, obwohl sie doch schon wieder weg waren, warum also, ja warum eigentlich usw. usf.

Nicht zu vergessen natürlich: die Dialoge! Diese werden noch zusätzlich durch eine kräftig in die Binsen gegangene Synchronisation kompromittiert. Wenn Jeff Goldblum sich den Fuß verknackst und dabei unheimlich affektiert: "Aua, Aua!" statt "AAAARGH!" schreit, wenn das kleine Mädchen naiv in größter Panik feststellt: "Ich bin ja so dumm!" oder Goldblum, den Tod in Form eines Abgrunds unmittelbar vor Augen, seinen Kollegen anfleht, doch bitte an "das Satellitentelefon" ("Ach, Schatz, reich mir doch bitte mal die Fernbedienung für das Widescreen-Tv-Gerät!") zu denken, dann ist das alles eigentlich nur noch Realsatire und in der Tat das unterhaltsamste am Film. Es gäbe natürlich noch so einiges mehr aufzuzählen, allein die Erinnerung, sie schwindet bereits.

Mag natürlich am Alter liegen, aber wirklich überzeugen wollen die Special-Effects und die Karambolagen-Szenen nicht. Und, wenn man schon keine künstlerischen Ansprüche stellt, dann sollten die doch das eigentliche Spectaculum eines solchen Films ausmachen. Es ist aber vielleicht auch die Crux digitaler Phantasmagorien, dass sie, im Gegensatz zum analogen Handwerk, eine unheimlich schnelle Halbwertszeit aufweisen und jenseits dessen kaum nostalgischen Charme entwickeln. Da ist mir etwa Caprona, der narrativ ähnlich unbeholfene "Lost-World"-Klassiker der britischen Amicus-Studios aus den Siebzigern, auf dieser Ebene noch immer weitaus willkommener. Jedenfalls schaue ich mir lieber verkorkste Styropor- und Pappmaché-Dinos an als zwar detailreich und professionell animierte Digi-Dinos, denen, trotz allen offensichtlichen Rechneraufwands, doch irgendwie noch immer das Stigma der digitalen Frühzeitigkeit anhaftet. Aber dahingehend konnte mich bislang eh bloß Jacksons Ringe-Trilogie überzeugen.

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Mittwoch, 22. Oktober 2003
18.10., Heimkino

Ich mag sowas ja: Letzte Filme großer Meister. Man kann die letzten Bilder immer so schön auf die Biografien anwenden und sich allerlei Feuilletonismen draus ableiten. Wie zB der schöne Satz in Chris Markers Film über Tarkowskij (eine kleine Kritik meinerseits hier), dass dessen Filmografie die einzige sei, die Platz zwischen zwei Bäumen fände. Und ist der letzte ausgesprochene Satz im Werk Kubricks nicht ganz bezeichnend?

Der Traum des Professors, des Sensei, am Ende zeigt ihn als Jungen, der kindisch verschmitzt Versteck mit seinen Freunden spielt. Fasziniert blickt er dann in den Sonneuntergang, den wir nur erahnen können, denn er spinnt sich weiter zu einem prächtigen, psychedelischen Farbenspiel, in dem immer neue Formen und Kompositionen entstehen. Dass dies auch als Tod des sichtlich vom Alter gezeichneten Intellektuellen zu verstehen ist, bleibt zwar unausgesprochen, wird aber dennoch nahegelegt. Eine Liebeserklärung an Freundschaft, die Schönheit des Geistes, die Kultur und - nicht zuletzt, viel eher als logische Folge aus allem schon - die Fantasie.

Kurosawa selbst starb fünf Jahre später. Das letzte Bild seines letztes Films hätte nicht treffender gewählt sein können.

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Montag, 20. Oktober 2003
16.10.2003, Heimkino

Großstadtmoloch, Mann malocht. Mann war früher Junkie, jetzt malocht er. Nachts. Frau hat ihn da rausgeholt, früher Drogen, jetzt keine mehr. Nur Maloche. An der Tankstelle. Im Moloch.

Kommt ein anderer daher. Ist gut gekleidet, soverän. Fährt 'nen Porsche, hat viel Geld. Ist ein Schriftsteller. Nimmt Malocher mit. Zu Recherchezwecken, gibt viel Geld. Erzählt auch recht viel. Antimodernistisches vor allem, man ist ja im Moloch. Alles schlimm, alles bäh. Sieht aber verflucht gut aus im Anzug. Ist Libertin, geht in Maso-Sex-Shows mit dem Malocher. Schaut sardonisch zu, wieder Bonmots. So gegen alles, gegen jeden. Leben stinkt! Ist wie 'ne Mischung aus Mephisto und Tyler Durden.

Tyler Durden? Fight Club? Uppsala - genau! Erinnert doch alles sehr daran! Man geht sogar zu Boxkämpfen, unten in Kellergewölben. Halbnackte Männer dort, nackte Faust, viel Blut. Ist der Schriftsteller dann also etwa vielleicht gar nicht... ? Er ist nicht! Alles nur Psychositzung, schau her, was Du hast, Bub! Schau her, was Du verlieren kannst, verloren hast! Der Bub nimmt wieder Drogen, ist alles viel zu viel für ihn.

Irgendwie ein blöder Film. Und langweilig. Am Ende fährt der Bub aus der Stadt hinaus. Ist geheilt, nur weg hier - Moloch, Moloch, pfui pfui pfui! Wieder ein Leben gerettet, der Schriftsteller ist ein Engel. Sagt er zumindest. Vielleicht auch nur ein Arschloch. Oder halt einfach nur ein reaktionärer Film. Unbegreiflich, dass ausgerechnet Lydia Lunch sich für die paar wenigen Sadomaso-Szenen als künstlerische Beraterin in Verpflichtung hat nehmen lassen. Sind nämlich nur spekulativ. Und reißerisch. Aber Masochisten schneiden sich ja gern ins eigene Fleisch. Der Film sich auch.

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16.10.2002, UFA Palast Kosmos

Das Miramax-Logo ist noch nicht ganz zerbröselt, da werden einem die Referenzen schon um die Ohren gehauen: Eine Fanfare ertönt, das ist doch - ja! - die altbekannte Shaw-Brothers-Tröte, wenig später auch gleich das liebgewonnene Insert: "Presented in Shaw-Scope", vermutlich sogar wirklich aus alten Filmrollen einkopiert. Das Zitat in seiner höchsten Entwicklungsstufe: Nicht mehr nur Hinweis, sondern identisch mit dem eigentlich Referierten.

Das ist symptomatisch für den Film, der folgt: Selten spielte Tarantino mit derart offenen Karten, bei Jackie Brown war's zumindest nur der Soundtrack, der den Quellen entnommen wurde, und, okay, Pam Grier als Ikone der Blaxploitation. Man könnte den knapp 100minütigen Zitatenreigen mit leichter Hand als plump, leicht durchschaubar und bar jeder nuancierenden Fingerfertigkeit abtun. Und ginge damit komplett am Thema vorbei.

Kill Bill ist ein hermetisch in sich geschlossenes Filmuniversum, ein Geschmeide, fabriziert aus den wildesten Genre-Rohstoffen. Man könnte vielleicht sagen, dass er ein filmisches Pendant zu jener Kinderträumerei ist, was wohl die Spielzeuge zuhause treiben, während man in der Schule sitzt (oder sich gerade umgedreht hat), ob sie wohl von ganz alleine das spielen und tollen anfangen: Vor Shaw-Kulisse tobt der Samuraifilm gegen 80er Hongkong-Kino, unterlegt von balladenhaftem Italowestern-Score - in den 80ern machten Videonerds schlecht zusammengeschnittene Best-Of-Tapes aus ihren Schätzen. Heute dreht Tarantino analog dazu einen ganzen Film, seinen ganz eigenen. Man sieht ihn förmlich vor sich, wie er sich selbst mit großen Augen mit dieser Wundertüte beschenkt. Und das Ergebnis macht unheimlich Spaß.

"Die Braut", eine Rolle, die Uma Thurman, wortwörtlich, auf den Leib geschrieben ist. Sie ist wie kaum eine zweite heroische Kämpferin des vergangenen Sommers der Action-Weiblichkeit Körper: Geschunden, zerschlagen, vergewaltigt, immer wieder aufs Neue blutig geschlagen, gelähmt, drangsaliert. Die Kamera bricht jede Distanz auf, filmt selbst ihre hässlichen Zehen im Detail und wird, wenn ein Insekt "die Braut" sticht, gar zum Mikroskop. DOch auf Uma zeichnet sich nicht nur die Gewalt, ebenfalls wortwörtlich zu verstehen, ab, nein, sie ist auch Souveräne. Der atemberaubend geschnittene erste Kampf ist eine Ode an die Beherrschung des Raums.

Viel war geunkt worden, dass Kill Bill in zwei Teilen in die Kinos kommt. Nach der Sichtung macht das durchaus Sinn. Sechs Jahre hat Tarantino für diesen Film gebraucht, derart angefixt wäre es nicht auszudenken, benötigten die nächsten Bilder aus seinem Kopf eine ähnlich lange Anlaufzeit. Dieser Winter verspricht, bis kommenden Februar einer der längsten zu werden.


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lol